Nicaraguas Diktator instrumentalisiert den Völkermord-Begriff

Daniel Ortega (2013) Foto: Fernanda LeMarie – Cancillería del Ecuador Lizenz: CC BY-SA 2.0

Dass sich ausgerechnet Nicaragua bemüßigt fühlt, in Sachen Völkermord in Gaza aktiv zu werden, ist bestenfalls absurd, in Wahrheit aber eine Verhöhnung aller Opfer von Völkermorden seit dem Zweiten Weltkrieg. Von unserem Gastautor Thomas von der Osten-Sacken.

Ist dieser Tage von Völkermord die Rede, denken die meisten wohl fast automatisch an »Palästina« – und dies nicht von ungefähr, schließlich dominieren entsprechende Nachrichten die Medien. Zuletzt, weil das völlig bankrotte Regime von Daniel Ortega in Nicaragua, dem Human Rights Watch in seinem jüngsten Bericht attestiert, »jegliche Form von Widerspruch zu unterdrücken und Nicaragua zu isolieren«, die Bundesrepublik Deutschland vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen Beihilfe zum Völkermord in Gaza angeklagt hat.

Ob solcher Meldungen gerät in Vergessenheit, dass auf jenem Kontinent, auf dem juristisch nachgewiesen in den vergangenen dreißig Jahren zwei Völkermorde mit Millionen Toten stattgefunden haben – nämlich in Ruanda und in der sudanesischen Provinz Darfur – die Lage sich seitdem nicht etwa gebessert hat, sondern ganz im Gegenteil sogar eine Wiederholung des Geschehenen droht. Zum 30. Jahrestag des Beginns der systematischen Vernichtung der Bevölkerungsgruppe der Tutsi in Ruanda widmete die taz dem Thema immerhin eine Ausgabe, in der Afrika-Korrespondent Dominic Johnson zu einem niederschmetternden Resümee kam und davor warnte, dass sich, sollte nichts geschehen, sich aktuell erneut etwas Ähnliches abspielen könnte:

»Der Jahrestag des Völkermords in Ruanda ist dieses Jahr mehr als ein Gedenktag. Er findet in einem Klima der Mobilisierung statt, die auf allen Seiten umso leichter fällt, als die junge Generation von heute den Horror von 1994 nicht selbst miterlebt hat. Die Gräber sind noch nicht voll‹, lautete 1994 ein viel zitierter Mobilisierungsspruch, der die Hutu-Milizen zum Töten anspornen sollte. 2024 stehen wieder Totengräber bereit.«

Zweites Darfur

Diese Totengräber sind anderswo längst wieder aktiv: Im Sudan nämlich wüten Einheiten der Rapid Support Forces (RSF) – die aus den ehemaligen Völkermördern der Janjawid Milizen hervorgegangene aktuelle Bürgerkriegspartei – in Darfur erneut so sehr, dass Menschenrechtsorganisation schon länger von einem zweiten Völkermord sprechen, der dort gerade stattfinde. Im November 2023 warnten namhafte Juristen, unterstützt vom Raoul Wallenberg Centre for Human Rights, in einem Urgent Call for Action to Prevent Genocide in Darfur:

»Das Risiko eines drohenden Völkermords nähert sich nun einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, da die Rapid Support Forces, die paramilitärische Gruppe, die sich im Konflikt mit den sudanesischen Streitkräften befindet, kurz davorsteht, die gesamte Region Darfur zu übernehmen, nachdem sie vier der fünf Bundesstaaten erobert hat.

UN-Experten haben die ›brutale und weit verbreitete Anwendung von Vergewaltigungen und anderen Formen sexueller Gewalt‹ durch die RSF dokumentiert und festgestellt, dass Frauen und Mädchen unter der Kontrolle der RSF in Darfur unter ›sklavenähnlichen Bedingungen‹ in Ketten gehalten werden. Überlebende bezeugen ein systematisches Muster der Aufstachelung zur Gewalt in den Reihen der RSF durch anhaltende Entmenschlichung von Mitgliedern nicht-arabischer ethnischer Gruppen, darunter die Verwendung von Begriffen wie ›Sklave‹ und ›Dreck‹. Eine Überlebende berichtete etwa, von ihrem RSF-Kidnapper gehört zu haben: ›Für uns seid ihr alle Sklaven.‹ Die Beweise für Verfolgung und Tötung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit sind eindeutig.«

Seitdem hat sich die Lage für die Menschen vor Ort nicht etwa verbessert, sondern im Gegenteil kontinuierlich weiter verschlechtert. In einem Appell, der so ungehört verklingen dürfte wie unzählige andere, beschrieb Christos Christou von der Organisation Ärzte ohne Grenzen die Lage vor Ort als »humanitäre Wüste«: »In den Flüchtlingslagern herrschten entsetzliche Zustände.« Es fehle an Trinkwasser, Lebensmitteln und sonstiger Versorgung. Die hygienischen Bedingungen seien ebenfalls katastrophal: »Es gibt eine Latrine für knapp siebenhundert Menschen.« Dadurch drohten wiederum Krankheiten, »während nur noch zwanzig bis dreißig Prozent der medizinischen Einrichtungen arbeitsfähig seien«.

Es kommt zu systematischen Vergewaltigungen und sexualisierter Gewalt; Zivilisten werden wahllos getötet, verstümmelt oder versklavt. Wer irgendwie kann, flieht vor den marodierenden und mordenden Milizionären. Nur, wohin? Die Lage in den Nachbarländern ist fast ebenso katastrophal, und völlig verarmte Länder wie Tschad oder Niger versuchen alles, um einen weiteren Zuzug von Flüchtlingen aus dem Sudan zu verhindern.

Millionen auf der Flucht

Jene, die es schaffen, müssen in Flüchtlingslagern leben, in denen die Bedingungen katastrophal sind. Hinzu kommt, dass nun auch das wenige Geld, das zu ihrer Versorgung zur Verfügung stellt, weiter gekürzt wird. Was das bedeutet, beschreibt Mark Townsend für einen im Freitag abgedruckten Artikel für den britischen Guardian:

»Seit der Konflikt zwischen den Paramilitärs der RSF und den regulären Militärs der Armee am 15. April 2023 begann, haben mindestens 554.000 Sudanesen die Grenze zum Tschad überquert und Zuflucht in einem Land gefunden, das zu den ärmsten Afrikas gerechnet wird und mittlerweile pro Kopf der Bevölkerung mehr Flüchtlinge als irgendein Staat sonst aufgenommen hat. Die Zahl der Hilfesuchenden steigt von Woche zu Woche. Je größer die Not ist, desto weniger steht zur Verfügung, um zu helfen. (…)

Um die Krise im Tschad zu bewältigen, benötigte das Flüchtlingshilfswerk UNHCR in diesem Jahr gut 320 Millionen Dollar – bisher sind gerade einmal vier Prozent davon gesichert. Jenseits der Grenze sieht es nicht besser aus, denn auch für Darfur sind nur vier Prozent der unverzichtbaren Hilfsmaßnahmen verlässlich finanziert. Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) warnt davor, dass lebensrettende Programme im Tschad und Sudan ganz eingestellt werden. So gleicht ein bestenfalls marginaler humanitärer Beistand dem Kampf gegen ein tobendes Inferno, während langsam die Ressourcen versiegen. (…)

Es zeichnet sich ab, dass ohne externe Unterstützung die Bewegung sudanesischer Flüchtlinge aus dem Tschad explodiert. Für Italien ist das der Fall, seit in den letzten sechs Monaten des zurückliegenden Jahres die Zahl der dort angekommenen Sudanesen im Vergleich zu 2022 um 450 Prozent auf über fünftausend stieg. Premierministerin Giorgia Meloni reagierte darauf, indem sie in Rom eine internationale Konferenz über den Umgang mit der Migration aus Afrika veranstaltete. Der Tschad gehörte nicht zu den Geladenen, obwohl Regierungsbeamte darum gebeten hatten, dabei sein zu können.«

Inzwischen, und dieser traurige Rekord sagt einiges, gilt der Sudan – und nicht mehr Syrien – als das Land mit den meisten Flüchtlingen und Binnenvertriebenen: In dem nicht einmal vor einem Jahr begonnenen blutigen Bürgerkrieg sind inzwischen mehr als sieben Millionen Menschen vor allem vor den RSF-Milizen auf der Flucht.

Nun wäre von Europa, das sich derartige Mühe gibt, seine Grenzen gegen weitere Flüchtlinge abzuschotten, wenigstens aus reinem Eigeninteresse zu erwarten, dass massive Hilfe geleistet und politisch wie diplomatisch mit allen Mitteln versucht würde, den Konflikt einzudämmen oder zu beenden. Doch nichts dergleichen ist der Fall; entsprechende Gelder werden sogar noch gekürzt. Auch das erinnert ein wenig an die Situation in Syrien und seinen Nachbarländern ab 2014, wo wegen fehlender Unterstützung UN-Agenturen massiv Hilfen für Flüchtlinge kürzen mussten, was einen der vielen Gründe darstellt, warum es im Jahr 2016 zur Flüchtlingskrise kam.

Westliche Ignoranz …

Zusätzlich stellt sich angesichts der Entwicklungen in Afrika einmal mehr schmerzhaft die Frage, was es eigentlich mit der offiziellen Anerkennung von Völkermorden – sowohl in Darfur wie in Ruanda war dies der Fall – auf sich hat, mit allem Gerede von »Nie Wieder«, wenn nicht nur weitere Genozide wie etwa jener an den Jesiden im Irak, nicht verhindert werden, sondern mit Darfur nun sogar an selbiger Stelle eine Wiederholung droht oder sogar schon stattfindet? Und dies obendrein auch noch abseits jedweden namhaften Interesses seitens der westlichen Öffentlichkeit und Politik. So muss man dieser Tage lange suchen, bis man auf Artikel wie die oben zitierten stößt, die vom Elend und Leid im Sudan berichten.

Keineswegs ist es deshalb Whataboutism, angesichts des dröhnenden Schweigens und Desinteresses all jener, die dieser Tage nicht müde werden, gegen einen vermeintlichen Völkermord in Gaza zu mobilisieren, zu fragen, ob ihre Motive wirklich so rein sind, wie sie behaupten. Wenn ihr Herz so laut für die leidende und hungernde Zivilbevölkerung in Gaza schlägt, wieso haben sie kein einziges Wort übrig für die Massaker und gezielten ethnischen Säuberungen im Sudan? Ja, eigentlich müssten sie sich, würden sie ihr Anliegen ernst nehmen, fragen, was die Betroffenen am Ende denn davon haben, wenn irgendwelche UN-Institutionen Kriegs- und Massenverbrechen als Völkermord klassifizieren.

Hat dies zum Beispiel auch nur einen einzigen Menschen in Darfur vor neuen Gräueltaten geschützt? Hat sich deshalb irgendetwas für all die Jesiden im Irak, die weiterhin ihr Leben in Flüchtlingslagern fristen, geändert? Die Antwort lautet: Leider nein. Für sie, die Betroffenen, und das ist eigentlich der Skandal, hat es wenig ausgemacht, dass sie fortan als Opfer bzw. Überlebende von Völkermorden gelten.

Wie wenig hat all dies noch mit den Intentionen von Raphael Lemkin zu tun; jenem Mann, der es in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre fast im Alleingang schaffte, dass die damals noch jungen Vereinten Nationen die »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords« verabschiedeten. Der polnisch-jüdische Jurist Lemkin, der vor den Nationalsozialisten in die USA geflohen war, hörte dort regelmäßig die berühmten Radioansprachen des britischen Premiers Winston Churchill. In einer davon bezeichnete Churchill das »barbarische Wüten der Nazis« als »ein Verbrechen ohne Namen«. Lemkin wollte diesem Verbrechen nicht nur einen Namen geben, nämlich Genozid, sondern auch dafür sorgen, dass niemals Ähnliches wieder geschehe.

Bekanntermaßen scheiterten er und alle, die seine Absicht damals teilten. Seitdem haben unzählige Genozide stattgefunden, verhindert wurden dagegen keine. Darum aber ging es Lemkin, nicht um irgendwelche Sonntagsreden danach, denn Genozid unterscheidet sich von anderen Massakern, Kriegen und Verbrechen auch darin, dass die Völkermörder, egal, was später mit ihnen auch geschehen mag, immer als Sieger dastehen. Was sie getan haben, lässt sich nie wieder revidieren.

… und Nicaraguas Dreitigkeit

Anstatt sich wenigstens der Bedeutung dessen gewahr zu werden, was das Wort Genozid meint und zu fassen versucht, ist es inzwischen auch noch zur billigen Phrase in einem hochpolitisierten Konflikt verkommen. Daniel Ortega und seine Clique in Nicaragua sind dafür ein besonders markantes Beispiel, denn zu jedweder Untat befreundeter Regimes wie dem russischen oder iranischen fällt ihnen bestenfalls ein, dass Kritik daran »westliche Überheblichkeit« oder »imperialistische Einmischung« in die internen Probleme dieser Staaten seien. Passenderweise war Nicaragua eines von nur fünf Ländern, das gegen die UN-Resolution stimmte, welche die russische Annexion von Teilen der Ostukraine verurteilte.

Dass nun ausgerechnet dieses Land sich bemüßigt fühlt, in Sachen Völkermord in Gaza aktiv zu werden, ist bestenfalls absurd, in Wahrheit aber eine Verhöhnung aller Opfer von Völkermördern seit dem Zweiten Weltkrieg.

In einer nur etwas besseren Welt meldeten sich deshalb neben Vertretern der Palästinenser auch viele ihrer Unterstützer zu Wort und lehnten in einem an die Regierung Nicaraguas adressierten offenen Brief deren Intervention dankend ab. Dabei schrieben sie, lieber auf die Rückendeckung eines Regimes, das selbst die Menschenrechte derart mit Füßen tritt, verzichten zu wollen. Wir leben aber in der bestehenden, schlechten Welt – und in dieser können Rapid Support Forces ungestört einen zweiten Völkermord begehen, während Nicaragua dafür gefeiert wird, sich so engagiert für die Palästinenser und gegen Israel einzusetzen.

Der Text erschien in einer ähnlichen Version bereits auf Mena-Watch

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