In seinem Buch „Die Rückkehr des Krieges“ zeichnet der österreichische Analyst und Militärberater Franz-Stefan Gady ein erschreckendes Bild der militärischen Unterlegenheit Europas und Deutschlands. Um einen großen Krieg mit Russland abwenden oder gewinnen zu können, müssen die militärische und mentale Kampfbereitschaft schnell gesteigert werden.
Der Krieg ist in Europa schon seit vielen Jahren zurück, nur wollte das lange niemand wahrhaben: Nach Russlands Überfall auf die Krim 2014 war in Mitteleuropa die Zeit des Krieges vorbei. In Südeuropa hatte es eine solch vergleichsweise lange Friedensperiode nie gegeben. Dort wüteten schon in den 90er Jahren die Jugoslawienkriege.
Doch auch nachdem Putin im Februar 2022 die Ukraine überfallen und deutlich gemacht hat, das zaristische Imperium wieder aufzubauen, zu dem auch die baltischen Staaten gehören, die Europäische Union und die NATO zu zerstören, ist der Westen weit davon entfernt, der Bedrohung standzuhalten.
In Deutschland sorgen Politiker wie der SPD-Fraktionsvorsitzende und Berufspazifist Rolf Mützenich dafür, dass das Wort von der Zeitenwende, das Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine hohl bleibt. Putins Handlanger, die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht, tragen Russlands Kampf gegen den Westen auf die Straße und in die Parlamente. Das Friedensgeraune Sahra Wagenknechts könnte es sogar in die Koalitionsverträge künftiger Landregierungen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg schaffen. Ihnen allen ist die Bedrohung des Westens durch Putin entweder egal, nur eine Störung des eigenen politischen Überzeugungshaushaltes oder ein unterstützenswertes Vorhaben.
Franz-Stefan Gady beschreibt die Pläne Russlands in seinem Buch und zeigt auf, wie schlecht Europa und Deutschland auf die Bedrohung vorbereitet sind. Westeuropa ist Russland militärisch unterlegen. Viele der Panzer und Schützenpanzer, die in den Statistiken eine scheinbare Stärke zeigen, stammen noch aus den 50er Jahren. Kampfflugzeuge seien oft nicht einsatzfähig und es gäbe zu wenige von ihnen. Dazu kommt ein Mangel an Soldaten und Munition.
Vor allem in Deutschland hat von allem zu wenig. Politik und Bevölkerung seien sich der Lage nicht bewusst. Der breiten deutschen Öffentlichkeit müsse klargemacht werden, dass Deutschland zwar kein Frontstaat wie zu Zeiten des Kalten Krieges sei, in einem Krieg im 21. Jahrhundert aber dennoch Ziel von verheerenden Luftschlägen und Cyberangriffen werden könne:
„Wie der Krieg in der Ukraine zeigt, geht jeder intensiv geführte Krieg mit enormen Verlusten an Menschen und Material einher. Die sogenannte Rekonstitutionsfähigkeit der Streitkräfte, also die Fähigkeit einzelner Verbände, sich nach Verlusten zügig zu regenerieren und wieder kampfbereit zu sein, ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, in solch einem Krieg lange bestehen zu können, geschweige denn siegreich zu sein. Dazu bedarf es adäquater materieller Ressourcen wie Kampfpanzer, Artillerie, Flugzeuge und dazugehöriger Munition, aber auch des notwendigen Personals.“
Gady ist kein Militarist. Er betont seine tief sitzende Angst vor dem Krieg, den er als Offizier und Analyst durch Einsätze und viele Frontbesuche kennt. Aber ihm ist klar, dass nicht Schwäche, sondern Abschreckung das beste Mittel ist, um Putin von einem Angriff abzuhalten. Und dass der Westen für den Fall, dass die Abschreckung versagt, in der Lage sein muss, einen Krieg gegen Russland zu gewinnen.
Unabhängig von dem Ausgang der Präsidentschaftswahl in der kommenden Woche könne sich Europa nicht darauf verlassen, dass die Amerikaner den kommenden Krieg für sie führen würden. Die gut 100.000 hier stationierten amerikanischen Soldaten seien der Garant dafür, dass die USA nicht tatenlos zuschauen würden. Hohe Opferzahlen der eigenen Truppen würden sie nicht unbeantwortet lassen. Aber das lockere Bündnis zwischen Russland, dem Iran und China, das er mit dem Deutschlands und Japans im Zweiten Weltkrieg vergleicht, könne im Fall eines Krieges zu einer Überforderung der USA führen:
„Im Falle eines russischen Angriffs auf das Baltikum könnte China zum Beispiel die Gunst der Stunde nutzen, um eine Blockade oder gar eine Invasion von Taiwan zu wagen. Umgekehrt könnte Russland im Falle eines Krieges zwischen China und den USA um Taiwan eine günstige Gelegenheit sehen, gegen die NATO loszuschlagen. Natürlich bräuchten solche Kampagnen eine lange Vorlaufzeit, in der die eigenen Streitkräfte angemessen vorbereitet werden. Diese sich über mehrere Monate hinziehenden Anstrengungen ließen sich kaum vor der westlichen militärischen Aufklärung verbergen und würden der NATO eine gewisse Vorwarnzeit geben. Ohne adäquate eigene militärische Kräfte zur Abwehr eines solchen Überfalls ist jedoch auch eine lange Vorwarnzeit zwecklos. Im Gegensatz zum römischen Politiker und Feldherrn Gnaeus Pompeius Magnus, der laut Plutarch im Bürgerkrieg gegen Caesar im 1. Jahrhundert v. Chr. behauptete, er müsse nur auf den Boden stampfen, und schon würden neue Legionen aus den Böden Italiens sprießen, kann die NATO im 21. Jahrhundert in den Monaten oder gar Jahren vor Ausbruch eines großen Krieges nicht einfach neue Streitkräfte aufstellen. Solche zusätzlichen Kräfte auf NATO-Seite wären angesichts der beiden genannten Konfliktszenarien jedoch dringend vonnöten.“
Zwar sei die vereinte Wirtschaftsleistung des Westens jener Chinas und Russlands überlegen: „Wenn jetzt die richtigen Schritte eingeleitet werden, um in den jeweiligen nationalen Rüstungsindustrien die für einen solchen Krieg notwendigen Kapazitäten zu schaffen, dann könnte das russische und chinesische Kalkül womöglich nicht aufgehen.“ Ob der Westen jedoch den Willen habe, einen solch langen Abnutzungskrieg durchzustehen, sei eine andere Frage.
Lange habe sich Europa, schreibt Gady, der Illusion eines Wandels durch Handel hingegeben. Durch eine immer engere Zusammenarbeit wollte man dafür sorgen, dass Krieg sich nicht mehr lohne, um ihn so zu verhindern. Russland habe diesen Glauben zerstört. So rational wie er vom Westen eingeschätzt worden sei, sei Putin ebensowenig wie andere Autokraten: „Krieg war und ist also immer eine Option, und er kann selbst dann ausbrechen, wenn er wirtschaftlich und politisch offenbar keinen Sinn ergibt. Man sollte daher persönliche oder ideologische Ambitionen, oft angehaucht von einer gesunden Portion Hybris, gepaart mit individueller Paranoia und Furcht, als Kriegsgrund niemals unterschätzen. Natürlich haben diese von der persönlichen Ebene ausgehenden Kriegsgründe ihre weitreichendsten Konsequenzen in autokratischen Systemen, wo der Autokrat uneingeschränkt regieren kann und sich keiner Gewaltenteilung beugen muss.“ Es sei wenig überraschend, dass Putin häufig Peter den Großen und Katharina die Große als seine großen Vorbilder erwähne: „Beide waren rücksichtslose Expansionisten.“
Doch trotz allem ist die Zukunft offen. Dass Deutschland und Europa in wenigen Jahren Teile von Putins Imperium sein werden, kann ebenso noch verhindert werden wie ein Krieg mit Russland, wenn es gelingt, eine abschreckende Militärmacht aufzubauen. Franz-Stefan Gady zitiert gegen Ende seines Buches T. E. Lawrence in dem Film Lawrence von Arabien: „Nichts steht geschrieben“, belehrt er dort Sharif Ali, eine führende Figur des arabischen Aufstands gegen die Osmanen. Der Westen bestimmt seine Geschichte selbst, es gibt kein unabänderliches Schicksal.
Franz-Stefan Gady: „Die Rückkehr des Krieges: Warum wir wieder
lernen müssen, mit Krieg umzugehen.“
Quadriga, 24 Euro