Dass gerade auch den Sozialdemokraten in der aktuellen Diskussion um den Papstbesuch jedes Geschichtsbewusstsein und jeder Ansatz von Religionenkritik abgeht, verwundert angesichts des maroden intellektuellen Zustands dieser Partei nicht wirklich.
Nur dass Sozi-Frauen, die nun vom Papst rein gar nichts zu erwarten haben, da mitmachen, erstaunt noch ein wenig. Dabei müsste ein wichtiger Aspekt der Kritik am Ratzingerschen Auftreten vor dem Bundestag auch das prekäre Verhältnis aller Religionen (als historisch überholten patriarchalischen Männerphantasien) zu Frauen sein.
Nur noch komisch ist also auch, dass die Gegner Schwanitz‘ ungeheuer weit hinter alles zurückfallen, was schon so lange gewusst werden kann. Ich vermute da einfach mal, dass etwa SPD-Erzengel-Gabriel schlicht von seinem eigenen Namen anästhesiert wird, wenn er im Hamburger Abendblatt auch sagt:
„‘Wer sich selbst als aufgeklärt empfinde, sollte eigentlich neugierig auf die Meinung anderer sein‘, betonte Gabriel. Er selbst sei sehr gespannt ‚auf die Antworten des Papstes zu den Herausforderungen unserer Zeit‘. Zudem hoffe er als Lutheraner auf ein ‚deutliches und positives Signal an die Ökumene‘.“
Seit wann müssen Signale an die Ökumene ausgerechnet im Bundestag gegeben werden? Der Bundestag im Reichstag hat zwar jetzt eine gläserne Foster-Kuppel und der Himmel (über Berlin) ist vom Plenarsaal aus gut einzusehen, doch damit wird der Bau nicht zum Dom. Und selbst wenn ich noch neugierig auf die „Antworten des Papstes zu den Herausforderungen unserer Zeit“ wäre (und ihn nicht selbst für eine ‚Herausforderung unserer Zeit‘ hielte), wieso muss ich diese Antworten via Bundestag bekommen? Darf jetzt jede Religion im Bundestag sich selbst erklären und etwas zum Stand ihrer Flügelkämpfe bekanntgeben? Wer predigt da als Nächster?
Dagegen müsste doch wohl eher gelten – und nun kommen sie, die kleinen Ketzereien als hoffentlich wohldosiertes Gegengift bei plötzlichem Auftreten des Geschichtsvergessenheitssyndroms:
„Geht man allen Religionen auf den Grund, so beruhen sie auf einem mehr oder minder widersinnigen System von Fabeln. Es ist unmöglich, dass ein Mensch von gesundem Verstand, der diese Dinge kritisch untersucht, nicht ihre Verkehrtheit erkennt.“
(Friedrich der Große, Politisches Testament)
„Dies ist der Gipfel des Monströsen und Lächerlichen, Gott als einen kleinlichen, unsinnigen und barbarischen Despoten zu verkünden, der einigen seiner Favoriten heimlich ein unverständliches Gesetz mitteilt und die übrigen des Volkes umbringt, weil sie dieses Gesetz nicht gekannt haben.“
(Voltaire, franz. Schriftsteller u. Philosoph, 1694-1778)
In den ersten Jahrhunderten gab es sechzig Evangelien, die fast alle gleich unverdaulich waren. Man verwarf sechsundfünfzig wegen ihrer Kindlichkeit und Albernheit. Gäbe es hierfür keinerlei Anhaltspunkte bei denjenigen, die man behalten hat?
(Denis Diderot, franz. Schriftsteller u. Philosoph, 1713-1784)
„Unsere Welt wird noch so fein werden, daß es so lächerlich sein wird, einen Gott zu glauben als heutzutage Gespenster.“
(Georg Christoph Lichtenberg, dt. Schriftsteller u. Physiker, 1742-1799)
„Wir dürfen auch nicht übersehen, daß wahrscheinlich die stetige Einschärfung eines Glaubens an Gott in dem Geist der Kinder eine starke und vielleicht sogar vererbte(?) Wirkung auf ihr noch unentwickeltes Gehirn hervorbringt, so daß es für sie schwierig wird, ihren Glauben abzulegen, ähnlich wie für den Affen seine instinktive Angst vor Schlangen.“
(Charles Darwin)
„Sollte man es glauben, daß dieser selbe gewissenlose Gott, dieser moralische Kretin, zum Lehrer der Güte, der Sitten, der Milde, der Rechtlichkeit, der Reinheit ernannt wurde? Es erscheint unmöglich und verrückt…“
(Mark Twain, amerikanischer Schriftsteller, 1835-1910)
„Das Kristentum ist mir ungeheuer auf die Nerven gegangen, diese Zweijahrtausende sausende Fahrt in die verkehrte Richtung.“
(Hans Henny Jahnn, dt. Schriftsteller, 1894-1959)
„Die christliche Religionsgemeinschaft ist nicht der Hort aller Sittlichkeit. Es gibt kein religiöses Monopol der Ethik, Millionen von anständigen und sittlich gefestigten Menschen schmähen die Kirche nicht, leben aber bewußt und ganz und gar an ihren Lehren vorbei, und sie tun recht daran. Es ist unrichtig, daß der, der die Lehren der Kirche überwunden hat, ein sittlich minderwertiges Individuum ist. Wer so versagt hat, wie das Christentum im Kriege, sollte uns nichts von Sittlichkeit erzählen. Und keine Strafe wird uns hindern, (…) von einem gesetzlichen Rechte Gebrauch zu machen. Nämlich allen unsern Freunden und vor allem den Frauen einen Rat zu erteilen:
Tretet aus der Kirche aus. Tretet aus der Kirche aus. Tretet aus der Kirche aus.
((Ignaz Wrobel (d.i. Kurt Tucholsky)
Die Weltbühne, 12.05.1931, Nr. 19, S. 680))
„Gibt denn niemand die Tatsache zu denken, daß von unserem großen Sechsfachgestirn – Goethe, Herder, Klopstock, Lessing, Schiller, Wieland: nie sah die Welt gleichzeitig ihresgleichen! -, daß von diesen Sechsen n i c h t e i n e r katholisch war; dafür aber drei – die besseren Drei! – e r k l ä r t e F e i n d e jeder positiven Religion, deutlicher: des Christentums?! “
(Arno Schmidt, dt. Schriftsteller, 1914-1979)
„Es ist möglich, daß sich die Menschheit an der Schwelle eines goldenen Zeitalters befindet, wenn dies jedoch der Fall ist, muß zuerst der Drache getötet werden, der den Eingang bewacht, und dieser Drache ist die Religion.“
(Bertrand Russell, Warum ich kein Christ bin)
Lieber Gerd,
mir scheint, wir sind abermals an dem Punkt angekommen, an dem wir schon vor 14 Tagen (unter einem Deiner Texte) angekommen waren. Dir geht es um allgemeine Religionenkritik, die ich für ebenso zulässig wie müßig halte. In meinem zuvor veröffentlichten Beitrag wollte ich aufzeigen, was mit einem Angehörigen der „politischen Klasse“ – und Schwanitz ist wahrlich kein Linker – passiert, wenn er zur Verweigerung dieses Gottesdienstes für konkret diesen Ratzinger-Papst aufruft.
Man kann freilich gleichzeitig auch ganz allgemein Religionen als anti-aufklärerisch ablehnen, was Du wohl mit Schwanitz gemein haben dürftest. Politisch aber scheint es mir doch wesentlich bemerkenswerter, dass nahezu die gesamte Presse und nahezu die gesamte „politischen Klasse“ kübelweise Dreck auf einen ihrer bislang treuesten Sachwalter auskippen, nur weil der es gewagt hatte, Herrn Ratzinger als Mitverantwortlichen für Homophobie und Frauendiskriminierung, für die übelsten Verbrechen „patriarchaler“ Herrschaft in unserer Zeit zu benennen.
Es ist doch aufschlussreich zu sehen, wie schnell in unserem vermeintlich so aufgeklärtem Land der Spaß vorbei ist, wenn jemand am Hofe den Religionsführer höchstselbst kritisiert. Was hier in der Blogosphäre geht, geht im wirklichen Leben noch lange nicht. Wer bei Hofe gegen diese Regel verstößt, muss damit rechnen, dass der gottergebene Plebs mobilisiert wird.
Die BR Deutschland (mehr hier [Wikipedia]) ist kein laizistischer Staat. Das zeigt schon die Präambel zum Grundgesetz. Zum Trost: es geht immer noch schlimmer. In Irland heißt es in der Verfassung: „„Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt . . ., anerkennen Wir, das Volk von Irland, in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus. . .“
Wir müssen mit dem leben, was wir haben – oder versuchen, es zu ändern. Insofern hätte Rolf Schwanitz MdB besser daran getan, dem Wahlvolk darzulegen, aufgrund welcher diplomatischer und politischer Prozesse Seiner Heiligkeit das Privileg eingeräumt wurde, vor dem Deutschen Bundestag zu sprechen – bspw. durch eine entsprechende Kleine oder Große Anfrage. Das aber ist natürlich mehr Arbeit als die Absonderung einer saftigen Presseerklärung. Und macht einem auf lange Sicht vermutlich noch weniger Freunde – denn Anfragen versenden sich nicht so leicht.
Ansonsten bleibt uns nur noch die Vorfreude auf die erste Rede des Vorsitzenden der Islamischen Weltkonferenz, Ekmeleddin İhsanoğlu, vor unserem Parlament.
# 1 Werner
Naja, dass bei uns allgemeine Religionenkritik schon „müßig“ wäre, wage ich anders als Du – gar nicht zu hoffen. Im Alltag jedenfalls ist sie es nicht.
En gros stimme ich Deinem Blog-Beitrag sowie Deinem Kommentar fast ganz zu. ‚Glaube‘, dass Seeheimer Schwanitz (dem ich politisch eher fern stehe) SPD-intern wie medial auch ‚geprügelt‘ wurde, weil eben der stille Konsens unserer Gesellschaft, christliche Religion sei die Grundlage unserer Werteordnung, mitangegriffen wurde. Und in diesem Kontext muss spätestens doch Religionenkritik einsetzen. Das Christentum selbst ist ja auch nur ein Ideenbaukasten, gefüllt mit Elementen der Vorläufer- und Parallel-Religionen. Und die Bibel ein prima Evangelisten-Sample, eine wuchtige Textmontage früher Poetry&Prophecy-Slammer. Sprachlich-literarisch eine wunderbare Fundgrube, als Glaubensgrundlage schön blendender Schein.
Und die Prügel für Schwanitz zeigt eben deutlich auch, dass nicht nur abgestraft wird, wer sich öffentlich im politischen Macht-Raum gegen den Papst äußert, sondern auch der, der Religionen und/oder ihre Kirchen (diesmal das Christentum/ katholische Kirche) zu dekonstruieren beginnt.
Ich selbst habe weder Lust, mich auf Schwanitz‘ Schmalspurkritik noch auf seine Kritikerimitate als Alternative einzulassen.
Man kann von führenden Politiker schwerlich verlangen, dass sie sich gegen die Mehrheit stellen. Sie wollen diese ja gewinnen, um überhaupt Politik machen zu können. Religionskritik kann zur Zeit deswegen nur von außerhalb der etablierten Politik kommen.
Wirklich gewichtige Namen gegen Gott. Respektlosigkeit gegen Priviligierte ist eine Sache.
Das Parlament in Berlin jedoch vertritt Minderheiten sowie Mehrheiten; diese können Atheisten, Katholiken sein. Der Papst ist nicht irgendwer, auch kein Politiker, er ist repräsentant einer großen Gruppe in dieser Gesellschaft, was Schwanitz ignoriert. Kirchensteuer wird schließlich auch bezahlt. Was er sagt oder verschweigt geht auch die Volksvertreter an. Sie bekommen eine andere Sicht der Dinge zu hören. Innehalten und Anhören. Ein einziges Mal. Kann schon zu Horizonterweiterung führen, das Leben ist keine Mathematik oder Paragraphenfolge… Politiker S.Gabriel spricht von „Neugier“, ist doch gut.
Ich finde eine Rede im BT für demokratisch, nicht gefährlich. Im Gegenteil, es kann zu neuem Diskurs führen. Tut es doch schon. Wäre doch im Sinne der Geschichts- und Religions-Aufklärung. Dass das in diesem historischen Ort passiert zeugt von Demokratieverständis.
Die (interessierte) Öffentlichkeit erfährt was und wieviel diese einflußreiche Person der Gegenwart zu sagen hat. Im übrigen geht es im Vorfeld nicht um Religionskritik, sondern um ein demokr. Recht der Mehrheit. Demokratie kann halt ungerecht sein.
Der genial dumme Z.titel „Wir sind Papst“ hat damals einen Hype bewirkt, dass noch bis heute nachwirkt. Vielleicht wird das jetzt mal endgültig demontiert. Jetzt kann festgestellt werden, wieviel Papst doch tatsächlich wir sind, ich ausgenommen übrigens.
… erstaunlich wie viele Frauenretter existieren.
@ Gerd (# 3):
Weder stehe ich innerhalb der SPD den Seeheimern besonders nah noch verspüre ich eine Notwendigkeit, Gott, den Allmächtigen, vor Deiner Kritik bzw. Leugnung seiner Existenz in Schutz zu nehmen. Da muss er schon selbst zusehen.
Insofern sind wir uns wirklich im Grunde einig. Unser Dissens betrifft im Grunde nur diesen einen Punkt: ich halte Schwanitz’, wie Du sie bezeichnest, „Schmalspurkritik“ für wesentlich politischer als Rückgriffe auf die Ideengeschichte des Atheismus´. Ich lehne die Papstrede vor dem Bundestag aus konkret benennbaren Gründen ab. Dem Papst vorzuhalten, dass er an Gott glaubt, geht m.E. genauso an der Sache vorbei, wie einem Sozialdemokraten vorzuwerfen, dass er Sozialdemokrat ist.
Ratzinger hetzt gegen Schwule, behindert die Bekämpfung von AIDS („gestattet“ Kondome nur „in begründeten Ausnahmefällen“), rehabilitiert Holocaustleugner und vertuscht schwere Straftaten (Missbrauchsaffäre). Gewiss, im Vergleich zur großen Proklamation, Gott sei tot, läuft die Kritik an derartigen Ungeheuerlichkeiten in der sozialdemokratischen „Schmalspur“. Doch in ihr fühle ich mich wohler. So werden wir denn mit diesem kleinen Dissens leben müssen – und können, so Gott will 😉
@ mir (#5): „erstaunlich wie viele Frauenretter existieren“ –
„Frauenretter“ sind also nicht so ihr Fall. „Schwulenretter“ dann bestimmt auch nicht. Wie aber wäre es z.B. mit Kindern? Männlichen vorwiegend, also deutschen, oft blonden, immer katholischen Buben?
Können Sie sich noch an die sog. „Missbrauchsaffäre“ erinnern? Sie ist ja noch nicht so lange her. Und kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit evangelischen Einrichtungen, Reformschulen, Sportvereinen, … Nirgendwo wurden diese Straftaten so systematisch vertuscht, protokoliert, operativ gemanagt wie in diesem Männerbund der Möchtegern-Heiligen. Nirgendwo wurde die Empörung darüber sonst als „belangloses Geschwätz“ abgetan. Übrigens nicht nur von Ratzingers erstem Hofmarschall, sondern auch von seiner Heiligkeit höchstselbst.
Okay, nun versprechen Sie sich von einer Figur wie dieser „eine andere Sicht der Dinge“. Sie können ja schon einmal mit einem Lektürestudium beginnen. Wie Sie wissen, streut Dr. Ratzinger seine reaktionären Ansichten seit gut vierzig Jahren auflagenstark unters Volk. Viel Spaß! Echt alternativ, diese „andere Sicht der Dinge“ …
@#7 werner jurga
Die Missbrauchsfälle lassen mich nicht kalt, es sind Straftaten. Es gab hier ein Tabubruch, Opfer haben selbst darüber öffentlich geredet. Eine Untersuchungs-Kommision, eine Entschädigungsfond. Es hat sich was getan. Die kath. Kirche hat sich zwar m.E. während dieser Zeit nichtmoralisch benommen und auch zuwenig unternommen. Man kann doch die Gelegenheit nutzen und bis zum Besuch das nochmals öffentlich anprangern.
Die Leute haben eine Erwartung was er sagen wird. Was er tatsächlich sagt oder nichtsagt wird erhellend sein, für den Zuhörer. Ich möchte wissen was er zu best. Themen äussert, auf neutralem Boden. Nach der Rede, die wohl stattfinden wird, diskutiere ich gerne mit ihnen über den Inhalt. Die deutsche Fangemeinde muss selbst entscheiden wieviel in der Rede ihnen genehm ist.
Ich gestehe, über den kath. Glauben selbst habe ich keinen wirklichen Zugang, manches verstehe ich nicht. Das Zöllibat zum Beispiel, aus meiner perspektive ist es zwar unmenschlich, aber es zwingt ja keiner Priester zu werden, man geht es freiwillig ein. Inwieweit das in der kath. Kirche diskutierbar ist, enthalte ich mich.
PS: Ich kann mich leider erst morgen wieder in die Diskussionsrunde einschalten.
Ich bin auch für die sachl. Aufklärung der Fälle. Die Ermittlungsarbeit ist im übrigen Sache der StA, sollte nicht der Verabtwortung der kath. Kirche überlassen werden. Die Mitarbeiter der Kirche werden nicht gesondert behandelt. Können aber im Einzelfall den Tatbestand aufklären.
Die ursächl. Zusammenhänge der kath. Glaubens mit den Fällen wäre rein theoretisch führt in eine falsche Richtung.
Innerhalb der Kirche mit den Fachpersonal müssten solche Diskussionen, wie oben angeprangert werden, geführt werden. Reformen sind schließlich auch nichts neues in der Kirche.
@ Mir
.. aber sie ziehen sich immer so lange hin, dass sie den Opfern nicht mehr nützen. Meistens finden sie sogar erst dann statt, wenn keiner mehr von ihnen lebt. Und die Täter kommen immer ungeschoren davon.
Ich empfehle zu diesem Thema den Film „Goyas Geister“ von Milos Formann.
Stichwort Spanien. Ich fands stets merkwürdig wie beispielsweise der regiesseur almodovar seine Filme mit kruden Themen macht. Aber eine derart kath. Land mit dieser kath. Geschichte wunderts dann doch nicht, dass gerade er solche Filme dreht.