Darf ein Kritiker zweimal über die gleiche Produktion schreiben? Natürlich darf er. Wenn er für verschiedene Medien arbeitet, sowieso. Wenn er sich (aus welchen Gründen auch immer) bei seiner ersten Einschätzung krachend geirrt hat und den Mut aufbringt, seine Eitelkeit mal beiseite zu lassen, wäre es sogar außerordentlich ehrenhaft. In diesem Fall allerdings ist das Medium das gleiche, wie das der ersten Kritik, und es soll auch nichts grundsätzlich revidiert werden. Ist es dann nicht müßig, sich noch einmal zu äußern, wenn doch eigentlich nur die neueste Meldung, i.e. die Kritik, die möglichst direkt am Morgen nach der Premiere schon online ist, etwas gilt?
Im ersten Text gab ich den Hinweis, dass Jeroen Verbruggens Choreographie für das Ballett im Revier so dicht und voller Ideen sei, dass man es mehrmals besuchen müsse, um es erfassen zu können. Diese Vermutung sah ich nun nach meinem zweiten Besuch der Vorstellung am 9.5. bestätigt und deshalb muss hier noch einmal ein Text stehen. Hinzu kommt, dass die Compagnie derzeit von Verletzungen schwer getroffen ist und deshalb der Abend in geänderter Besetzung gezeigt wird. Die geplante zweite Vorstellung der Produktion musste sogar ausfallen. Louiz Rodrigues, der bei der Premiere am 28.4. für den noch nicht ganz genesenen Ledian Soto einsprang und, selbst ebenfalls schon angeschlagen, einen beeindruckenden Abend tanzte, fiel kurz danach mit einer schweren Verletzung aus. Nun wird sein Part wieder von Ledian Soto und teilweise anderen Tänzern des Ensembles übernommen. Während Rodrigues‘ Körpersprache deutlich vom klassischen Ballett geprägt ist, über das er aber in Open (S)Pace weit hinaus ging, zeigt Soto eher einen Stil, der beinahe im modernen Tanz zu wurzeln scheint, obwohl auch er vornehmlich klassisch ausgebildet ist. Das verändert einzelne Szene der Choreographie in ihrer Anmutung. Dass die Wirkung des gesamten Abends allerdings noch einmal um so vieles wächst, wenn man ihn ein zweites Mal sieht, hat andere Gründe.
Da ist zum ersten der Sitzplatz, der ganz entscheidend für die Wirkung ist. Während man im Parkett eher eine klassische Bühnenwahrnehmung hat, vermittelt ein Platz an der Seite oder hinter dem Bühnenaufbau tatsächlich die volle Wirkung, weil Perspektive auf einer Ebene mit dem Tanzgeschehen liegen. Hier ist der Zuschauer wirklich (fast) mittendrin und insbesondere die Interaktion der Tänzer mit dem Publikum zu Beginn der Choreographie bekommt etwas Zwingendes. Der Zuschauende ist zwar nicht Teil der Performance, aber er könnte es sein. Das Geschehen im Bühnenachteck rückt näher an ihn heran und jede Frage, die Verbruggen an die Conditio Humana stellt, wird auch zur Frage an einen selbst.
Noch wichtiger jedoch ist, dass im rasenden und überfordernden Ideenstrudel Verbruggens erst bei einem zweiten Hinsehen der subtile und fein gesetzte Humor offenbar wird. Der belgische Choreograph durchsetzt den Abend mit zahlreichen ironischen Kommentaren zu Tanz- und Bühnenklischees. Da ist das seltsame Mutantenwesen, das in gebückter Haltung auf Spitze von der Bühne staksend hinausgeführt wird. Eine kleine szenische Geste, die den Spitzentanz mit einer Bedeutung auflädt, indem sie gerade alle Eleganz, Größe und Spannung verweigert. Kurz darauf schon mischen sich in den elektronischen Soundtrack von Benjamin Magnin Spuren von Exotismus, die die Choreographie sogleich aufgreift, um die unreflektierte Vorliebe des klassischen Balletts für fremde Kulturen zu ironisieren. Und der große Showtanz mit Knochen kurz vor Ende von Open (S)Pace könnte fast einem Revuefilm der 40er Jahre entsprungen sein. Diese Spur feiner Ironie zieht sich durch den gesamten Abend, ohne ihn freilich zur reinen Lachnummer werden zu lassen. Dafür ist einerseits die grundierende Atmosphäre zu stark, andererseits aber auch der Humor zu gewitzt und immer liebevoll augenzwinkernd. Großartig auch die zentrale Beerdingsszene zum selbst schon auf absurde Weise an italienisches Opernpathos gemahnende Musik aus Sigmund Rombergs Operette „The Desert Song“, in der Francesca Berruto in wüsteste Pantomime verfällt, wie sie in Handlungsballetten drittklassiger Choreographen zu sehen wären. Doch selbst hier gibt die Tänzerin nichts, kein heulendes Augenreiben, kein Händeringen, der bloßen Lächerlichkeit preis, indem sie auch diese komische Setzung noch mit höchstem Ernst bringt.
Und wenn ein Kollege in seinem Verriss des Abends schreibt „Das Archaische auf der Tanzbühne hat einst Pina Bausch zu Strawinskys ‚Sacre du printemps‘ ungleich fesselnder gezeigt“, hat er damit gar nicht so Unrecht. Natürlich ist es ein Klischee, Pina Bausch und „Le Sacre“ quasi deckungsgleich zu verwenden, das die über hundertjährige Inszenierungsgeschichte von Strawinskys Ballett ignoriert – entweder aus tanzgeschichtlicher Naivität oder weil man dem geschickten Selfmarketing Bauschs aufgesessen ist. Weder ist „Le sacre du Printemps“ einfach Pina Bausch, noch ist Pina Bausch „Das Frühlingsopfer“, wie es bei ihr heißt. Tatsächlich ist die Choreographie von 1975 ja nur ein, wenn auch bis heute erfolgreich gespieltes, Frühwerk Bauschs, ihre eigentliche Bedeutung liegt aber weit mehr in späteren Arbeiten, die die Form des Tanztheaters erst entwickeln. Die zwingende Kraft von „Le Sacre“ und die Setzung des Archaischen und Animalischen geht vor allem von Strawinskys Musik aus und führte genauso wie bei Bausch immer wieder zu ikonischen Interpretationen wie etwa von Maurice Bejart, Uwe Scholz und in neuerer Zeit Edward Clug oder auch Romeo Castellucci. In Verbruggens Open (S)Pace kann man nun aber, wenn man genau schaut, auch feine Anklänge an die Bausch’sche Bewegungssprache (auch an andere Sacre-Versionen) entdecken. Freilich niemals als Versuch der Nacheiferung oder Übertrumpfung, sondern immer mit verschmitzter ironischer Brechung. Verbruggen ist viel zu intelligent, als dass er einfach platt zitieren und sich damit der Verachtung durch die Jünger der einen oder anderen Tanzikone auszusetzen würde. Er legt offen, dass jeder choreographische Stil seine Schwachstellen hat, immer das überzogene Pathos irgendwo lauert – und wenn es auch manchmal erst die historische Distanz ist, die es zu tage treten lässt.
Jeroen Verbruggens „Open (S)Pace“ ist ein hochintelligenter, brilliant gebauter Abend, der auf einem schmalen Grad äußerst kunstvoll balanciert. Und er wird von der Gelsenkirchener Compagnie mit großem künstlerischen Verständnis und technischer Präzision außerordentlich getanzt. Er braucht das genau Hinsehen, er wächst mit jedem Besuch der Vorstellung und schafft das alles, ohne dabei schwer, fordernd oder anstrengend zu sein, weil er letztlich dem Zuschauer immer den Raum lässt, sich einen eigenen Zugang zu bahnen.
Weitere Termine: 12., 13., 18., 21., 31. Mai, 3. Juni
Infos und Tickets: MiR