Die Dortmunder Nordstadt ist kein Kurort. Doch die Probleme des Quartiers können den Blick auf die vielen guten Seiten des Stadtteils nicht verdecken. Eine davon ist, dass hier durch die Reibung der Bewohner mit ihrem Stadtteil enorme kreative Potentiale und kleine Wunder entstehen. Von unserem Gastautor Daniel Kasselmann.
Das Theaterprojekt „Paradise City“ ist durch die Schulsozialarbeit am Schulzentrum Nord mit Mitteln der Diakonie realisiert worden. Unter der Projektleitung von Ludwig Karp und der künstlerischen Leitung von Theaterpädagogin Tanja Hellwig haben sich SchülerInnen zwischen 14 und 16 Jahren des Helmholtz-Gymnasiums und der Gertrud-Bäumler-Realschule im vergangenen Jahr auf eine künstlerische Reise begeben. Die Jugendlichen haben sich initiativ bei Ludwig Karp gemeldet,
weil sie Theater ausprobieren wollten, In einer ersten Arbeitsphase standen unter der Anleitung von Tanja Hellwig Übungen zum Kennenlernenn, Theaterspiele und Impro-Aufgaben auf dem Probenplan. Anschließend begann die Suche nach der jeweils eigenen Traumrolle, mit der dann weiter improvisiert wurde. Aus eigenen Geschichten und Begegnungen, die die Jugendlichen gemeinsam sammelten entstand das Textmaterial, das Tanja Hellwig dann zu einem Theatertext umschrieb. Erst dann begann die eigentliche Probenarbeit.
„Bemerkenswert ist, dass die Jugendlichen sich ihre eigenen Rollen geschaffen haben und da sehr intensiv eingetaucht sind, auch kleine eigene Texte beigesteuert haben und z.B. Passagen in die Sprache ihrer Figur umgetextet haben.“ beschreibt die Theaterpädagogin den besonderen Reiz der Stückentstehung.
So kreierten die Jugendlichen Paradise City. Am 6.12. war Premiere in der Aula des Helmholtz-Gymnasiums. .
Vor dem Vorhang: Der Petrus von Paradise City heißt Baba Gee und ist ein charismatischer Menschenfänger. Barfuss und mit einem selbstgeschriebenen Pappschild in der Hand wartet er auf Menschen, die in seine Stadt wollen.
Nacheinander begehren sie Einlass: Eine berühmte Ballerina, die sich nach Freiheit sehnt. Eine mysteriöse Schönheit im Mangaoutfit, die müde ist von ihrer Mission für eine gerechtere Welt. Die Wütende, deren Identität geheim ist, die kein Zuhause, keine Familie, sondern nur Wut hat. Killerklaus, der es noch nie geschafft hat jemanden umzubringen und sich nach der Anerkennung seines Vaters sehnt.
Alle, die in die Stadt wollen, müssen Baba Gee einen Tribut zollen, damit der im Gegenzug ihre Wünsche erfüllt.
Und so lassen sie ihre Wut auf die Welt vor den Toren der Stadt, ihre Wut auf die Ungerechtigkeit, ihre Erinnerungen an Liebe, ihr altes Leben. Kurt Cobain, der ebenfalls erschöpft von der langen Reise vorm Vorhang steht, überlässt Baba Gee gar seine berühmten Turnschuhe.
Vorhang auf; zu den Klängen von Fly me to the moon befinden wir uns in einem Flugzeug mit Landeziel Paradise-City. Die Stewardess verspricht das Blaue vom Himmel und säuselt betörend von ewiger Glückseligkeit.
In Paradise-City erfüllen sich dann tatsächlich alle Wünsche der Bewohner.
Die Ballerina ist frei und tanzt nur noch Hiphop, wenn sich nicht gerade auf dem riesigen Trampolin vergnügt, Killer Klaus bekommt die ersehnte Anerkennung, (nach der er sich sehnt), der drogenfreie Kurt Cobain sein Bio-Sandwich und gibt eine Tanzeinlage als Schwammkopf, die endlich erfolgreiche und unsterbliche Rocksängerin zerschmettert ihre Gummigitarre auf dem Trampolin und die bunte Paradiesstadt (Austattung Natalja Hipke) erleidet einen Starkstromausfall.
Ohne Bühnenlicht geht’s nach 10 minütiger Zwangspause weiter. Das Ensemble spielt weiter, als ob nichts wäre. Respekt!
In der Paradiesstadt kommen schließlich Zweifel auf. Keiner kommt auf die Idee sich in einer Matrix zu befinden, aber es herrscht Überdruss und auch die abgegeben Erinnerungen an das alte, abgegebene Leben, quellen schließlich aus den Koffern der Bewohner, die in ihren bunten Liegestühlen vergessene Erinnerungstücke an sich pressen oder wie Killerklaus die Ohren vor dem Song „Junge, warum hast du nichts gelernt, verschließen. Und wie war das noch mit der Freiheit, die das Mangamädchen in ihren Notizheften beschreibt.
Irgendwann wird es dann langweilig in Paradise City.
Eine hellsehende Geheimagentin versucht die Bewohner wachzurütteln – nichts ist echt in Paradise City. Alle leben in der Fälschung der Wirklichkeit, in einer Stadt ohne Ausgang, gefangen in den eigenen Vorstellungen einer heilen Welt.
Die alle Wünsche erfüllende Stewardess, die auch Kellnerin und die Mutter aller Bewohner ist, macht den revoltierenden Bewohnern schließlich deutlich:
„Eure Seelen sind kleine Coolibris. Ihr schillert so schön um die Wette. Ich kenne das gut. Glaubt mir. Bleibt hier. Die Welt da draußen ist nichts für euch. Niemand sieht euch wirklich zu, wie ihr mit euren bunten Flügeln schlagt und niemand hilft euch auf, wenn ihr stürzt.“
Und es wird klar: Baba Gee hat Paradise-City nur erfunden, es ist nichts echt daran: „Ich habe diese Welt erschaffen, diese Welt ohne Zoff. Eine Welt ohne Widersprüche und ohne Schmerz. Die Welt eurer Wünsche, eurer guten Gefühle und Träume….“
Das sieht Killer-Klaus jedoch anders: „Es wird nichts heil. Nie mehr. Du hast mich verarscht. Und wenn es keinen verdammten Ausgang für die Geschöpfe deiner Stadt gibt, dann weiß ich einen.“ …
Paradise-City ist ein schillernder und zugleich böser Gegenentwurf zur Dortmunder Nordstadt. Eine Stadt, die es nicht gibt, die sich die beteiligten Jugendlichen aber vorstellen. Sie ist das Versprechen einer Zuflucht, die allerdings auch von ihren Bewohnern ihren Tribut fordert, ein Ort der Wünsche erfüllt, die Bewohner letztlich aber auch alle zu Gefangenen ihrer eigenen Wünsche macht.
Alle SpielerInnen des Ensembles bestechen durch ihre Improvisations- und unbändige Spielfreude und spiegeln damit die Möglichkeiten der Nordstadt 1:1 wieder. Die Bühne und Kostüme wurden von der Ausstatterin Natalja Hipke fantasiereich entworfen und mit einem Mini-Budget umgesetzt. Die Jugendlichen finden mit ihrem Stücktext eine eigene Sprache, die zwischen umgangssprachlicher Schnodderigkeit und wunderbarer Poesie der Seelencoolibrils changiert.
So kreative und engagierte junge Menschen brauchen wir in der Nordstadt und sollten sie unterstützen. Nicht zuletzt, wenn wir ernsthafte Zukunftsvisionen für diesen Stadtteil entwickeln wollen. Denn die Jugendlichen stellen mit Paradise-City genau diese Frage, ob es möglich wäre, gemeinsam eine bessere Welt zu erträumen und diese Welt dann real bauen könnte. Das ist eine essentielle Frage für die Dortmunder Nordstadt. Deswegen wäre es sehr wünschenswert, dass sich möglichst viele Dortmunder, Ratsmitglieder eingeschlossen, diesen kreativen und politischen Denkanstoß einmal ansehen könnten. Um inspiriert darüber nachzudenken, was es heißt, junge Utopien und Visionen zu entwickeln und zu bauen.
Doch leider fällt genau hier der Wermutstropfen; das Projekt Paradise-City ist mit der Premiere beendet worden. Mittel für Wiederaufnahmeproben und weitere Aufführungen stehen leider nicht in Aussicht. Auch das ist ein Stück Nordstadt-Realität, für die man sich eine bessere strukturelle Projektförderung wünscht. Damit solche Kleinode nicht wie schillernde Glühwürmchen im Dunkel der Nordstadt verglimmen.
‚ das Projekt Paradise-City ist mit der Premiere beendet worden.‘
Das ist das Typische an derartige Projekte. In dem moment wo es institutionalisiert wird, oder noch schlimmer ‚pädagogisiert‘, ist der Glanz vorüber.
Es sollte aber grundsätzlich überdacht werden, ob die Mittel für Kunst und Kultur anders eingesetzt werden sollten. Dafür bräuchte es aber Visionäre, die nicht voller Begeisterung für städtische Angebote schwärmen.