
Im Bremer Norden sind viele arm, arbeitslos, ohne Perspektive. Der Anteil der Zugewanderten ist hoch, die Ergebnisse der AfD sind es ebenfalls. Der soziale Zusammenhalt jedoch funktioniert. Von unserem Gastautor Ludwig Greven
Björn* steht vor seinem Wohnblock im Bremer Ortsteil Aumund, am nördlichen Stadtrand, wo Roland und Rathaus fern sind und die Hansestadt Richtung Nordsee ausfranst. Ein Hühne mit kräftigen Oberarmen und Schultern, freundlich lächelnd in der Frühlingssonne. Aber der 48jährige ist todeskrank. „Im vergangenen Jahr hatte ich drei Schlaganfälle, musste neu lernen zu sprechen. Vorher hatte ich schon zwei Herzinfarkte“, erzählt er. „Ich habe einen angeborenen Herzfehler. Die Pumpe pumpt nicht genug. Ich habe einen Herzschrittmacher bekommen. Aber der nächste Schlaganfall bringt mich wahrscheinlich um.“ Er zeigt seine Patientenverfügung. „Da steht, dass ich nicht wiederbelebt werden möchte. Ich will nicht als Pflegefall enden.“
Ein Marktforschungsinstitut hat mich in die Straße geschickt. Ich soll die Bewohner nach ihren Banken und Wertanlagen befragen, ob sie eine Immobilie besitzen, eine Lebensversicherung, einen Riester-Vertrag und ein oder mehrere Autos. Und nach ihrer Lebenszufriedenheit. Eine denkbar ungeeignete Gegend für eine solche Umfrage. In Bremen ist jeder Achte arbeitslos, hier sind es weit mehr. Viele leben von Bürgergeld oder andere Sozialleistungen, oft allein oder mit mehreren Kindern. Von einer Eigentumswohnung, einem eigenen Haus können sie nicht einmal träumen.
Björn hat, bis ihm das kranke Herz seine Kraft raubte, als Türsteher gearbeitet, nachdem er die Schule ohne Abschluss verlassen hatte. „Ich bin kein Schlägertyp, auch wenn ich vielleicht so aussehe. Man muss mit den Leuten nett umgehen. Dann sind sie auch nett zu mir.“ Türsteher kann er nicht mehr sein und auch sonst nicht mehr arbeiten. „Ich darf keinen Stress haben und mich nicht anstrengen.“ Nun bekommt er Geld vom Jobcenter und wartet auf die Frührente. „Es werden wohl nur ein paar Hundert Euro sein. Falls ich das noch erlebe.“
Aber Verzagen ist Björns Sache nicht. „Man muss das Leben irgendwie genießen, solange man es hat“, grinst er und zündet sich die nächste Zigarette an. „Ich soll nicht rauchen, sagen die Ärzte. Aber warum soll ich noch damit aufhören?“ Zwischendurch ruft er einen Kumpel an. „Soll ich bei dir Gartenarbeit machen?“ Ist das nicht zu anstrengend für ihn? „Ich muss mir etwas dazu verdienen“, antwortet er schulterzuckend. „Und ich kann doch nicht den ganzen Tag herumsitzen.“
Björns Freund Sascha ist äußerlich sein striktes Gegenteil. Ein schmaler Kleinwüchsiger, aber von ähnlicher Unbekümmertheit. Sieben Jahre hat er im Zirkus seiner Familie gearbeitet, ist mit ihm quer durch Deutschland getourt. „Ich habe das geliebt. Unsere Familie betreibt den Zirkus seit Generationen, wir haben Löwen und Tiger, waren schon im Fernsehen. Aber in der Manege bin ich nie aufgetreten. Wenn ich dort stand, bekam ich kein Wort heraus vor Aufregung.“ Also ist er nach oben geklettert unters Zeltdach und hat die Beleuchtung gemacht, mit den Scheinwerfern die Artisten verfolgt, das Lachen der Kinder beobachtet, der Kapelle gelauscht. Doch irgendwann wollten die Knie nicht mehr. „Ich bin mehrfach operiert worden. Aber die Schmerzen sind immer noch da. Mit dem Zirkus reisen konnte ich nicht mehr.“ Daher ist er nun hier gelandet.
Das Jobcenter hat ihn in verschiedene Jobs geschickt. Jetzt ist auch Sascha arbeitslos, lebt von ein paar Hundert Euro im Monat. Mit seinem sterbenskranken riesigen Nachbarn sitzt er vor einer Bäckerei im örtlichen Supermarkt, dem einzigen Treffenpunkt weit und breit. Sascha überlegt, ob er ein Buch über sein Leben schreiben soll. „Mit 40 Jahren habe ich soviel erlebt wie andere in 80.“ Als ich ihn befrage, ob er einen Dispokredit hat, lacht er: „Besser nicht.“ Wertanlagen? „Wovon?“. Die 10 Euro für die Umfrage nimmt er gerne. „Davon kann ich Kaffee für uns beide holen.“
Auch Hendrik, der zwei Häuser weiter wohnt, hat keinen Schulabschluss. Eine Weile hat er in einem Wettbüro gejobbt. Aber weil ein Gesetz geändert wurde und das Wettstudio nun zu nah an der nächsten Schule lag, musste es geschlossen werden. Und Hendrik verlor mit Mitte Zwanzig seine Arbeit, hat keine Ahnung, wie es weitergehen soll. „Ohne Schulzeugnis bekomme ich keine neue Stelle und keinen Ausbildungsplatz.“ Seine korpulente Freundin, mit der er vor Kurzem zusammengezogen ist, hat auch keine Arbeit, lebt gleichfalls von Stütze. Geteiltes Leid, geteilte Freud. „Heute haben wir richtig ausgeschlafen. Jetzt schauen wir, was wir noch machen“, sagt sie.
Die Häuser, jedes fünf Stockwerke hoch, sehen ordentlich aus. Es liegt kaum Müll herum, die Höfe sind begrünt. Doch drinnen herrscht viel Not, Verzweiflung, Perspektivlosigkeit. Im aktuellen Monitoring „Soziale Stadt“ des Bremer Senats ist der Ortsteil als einer mit sehr niedrigen Status aufgeführt. „Das Gebiet besteht überproportional aus zugezogenen Familien mit minderjährigen Kindern. Jenseits von Schule und kleiner Kita fehlt es an erreichbaren Treff- und Kommunikationsorten. Vorhandene Strukturen sind teils weggefallen,“ heißt es dort. 2021 wurde Aumund deshalb in die Förderung der sozialen Stadtentwicklung aufgenommen. Bisher allerdings offenkundig mit begrenztem Erfolg. Jedoch mit Folgen: Bremen wird von SPD, Grünen und Linken regiert, doch hier bekam die AfD bei der Bundestagswahl 21 Prozent, im benachbarten Stadteil Blumenthal wurde sie mit 25 Prozent sogar stärkste Kraft. Dass in Berlin gerade eine neue Regierung gebildet wird, verfolgen sie. Aber dass sich ihre Lage dadurch bessert, erwarten sie nicht.
Eine junge Frau berichtet, dass sie als IT-lerin gearbeitet hat. Doch dann habe sie eine Burnout gehabt. Nun hat sie ein Pfändungsschutzkonto und weiß nicht, wie sie ihre Rechnungen bezahlen soll. „In meinen Job kann ich wohl nicht zurück.“ Melanie, eine Alleinerziehende Ende 30 mit drei halbwüchsigen Kindern, deren Mutter aus Kasachstan stammt, kommt gerade von der Frühschicht als Küchenhelferin in der städtischen Kita. „Für eine Umfrage habe ich eigentlich keine Zeit und keine Kraft. Ich muss mich jetzt erstmal hinlegen, bevor die Kids aus der Schule kommen und Mittagessen wollen“, wehrt sie ab. Aber dann bleibt sie doch, stellt sich zu den anderen und lobt wie sie den Zusammenhalt: „Wir helfen uns gegenseitig, wenn wir können.“
Wie um das zu beweisen, ruft jemand, dass eine Nachbarin ihren Schlüssel nicht finde. Sofort überlegt die Runde, wie sie ihr helfen können. Einer schlägt vor, über den Balkon in die Wohnung im dritten Stock einzusteigen. Andere raten ab. „Der nächste Balkon ist zu weit weg. Da stürzt Du ab.“ Zwei ziehen los, um einen anderen Weg zu finden, der alten Frau in ihre Wohnung zu verhelfen.
Musa fährt vor. Als Einziger in dem Haus hat der 25jährige sportliche Mann richtige Arbeit und ein teures Auto, einen Mercedes. Seine Eltern kamen aus der Türkei. Er hat eine Ausbildung als Klimatechniker gemacht, dann Informatik studiert und arbeitet als Programmierer. Bereitwillig gibt er Auskunft zu seinen finanzielen Verhältnisse. Die sind zwar auch nicht prickelnd, aber deutlich besser als die seiner Hausgenossen. Er könnte sich eine Wohnung in einem besseren Stadtteil leisten, aber er bleibt, weil er hier geboren wurde, die Miete günstig ist und hier viele Migranten wie er leben. Und weil er die Menschen mag. Als ein älterer Türke vorbeikommt, unterhält er sich mit ihm. „Wie geht es Dir, Onkel? Bist Du gesund? Was macht dein Mercedes.“ „Der fährt nicht richtig.“ „Bring ihn zu zu mir. Ich habe eine Garage. Ich repariere ihn für Dich.“
Die 10 Euro für die Umfrage gibt Musa einem tätowierten Mitbewohner, der Fan von Bayern München ist, stolz seine Trikots mit Unterschriften von Spielern des Clubs vorführt, die er sich besorgt, wenn die Bayern in Bremen gastieren, und von den 130 Millionen Euro schwärmt, die der Dauermeister für einen Wunderstürmer von Bayer Leverkursen ausgeben will, der aber selbst keinen Cent auf dem Konto hat. „Der hat’s nötiger als ich“, meint Musa freundlich. Und verschwindet im Haus.
Ein paar Häuser weiter macht ein offenkundig geistig stark eingeschränkter älterer Mann mit zerfurchtem Gesicht die Tür vorsichtig auf. Als ich ihm mein Anliegen vortrage, zögert er. Aber als ich ihn auf die 10 Euro hinweise, die es für die Umfrage gibt, lässt er mich ein. Für die meisten Menschen hier ist das eine Menge Geld. Die Wohnung ist vollgerümpelt, es riecht nach Armut und abgestandenem Rauch. Überall sind weiße Stoffhunde verteilt, sicher mehr als Hundert, wie zum Trost. Auch auf dem Tisch in der Küche, an dem sein Mann sitzt, auch er Ende Sechzig. Seit fünf Jahren sind die beiden verheiratet, noch länger ein Paar. Und gemeinsam mittellos. Der Eine hat sein Leben lang in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet und bezieht eine Minirente. Der Andere hatte verschiedenen Berufe, bekommt etwas mehr. Doch zum Leben zu Zweit reicht es kaum. Ob sie sich in den nächsten Jahren eine Wohnung oder ein Haus kaufen wollen, muss ich sie fragen. Beide lachend schallend. „Ja, wenn wir im Lotto gewinnen. Aber selbst fürs Lottospielen haben wir kein Geld.“
*Die Interviewten möchten nicht identifiziert werden. Deshalb sind alle Vornamen geändert und die Nachnamen weggelassen.