Zwei Gegenstände weisen seit jeher auf Demonstrationen ihre Träger als Trottel aus: Die Sambatrommel und die blaue Friedensfahne mit der weißen Taube. Beides bestimmte den Eindruck, den die Demonstration von „NRW erwacht“ am Samstag in Bochum hinterließ. Von Peter Ansmann, Michael Kolb, Stefan Laurin und Thomas Wessel.
Unter dem Motto NRW erwacht, das sicher nicht zufällig an die NSDAP-Parole „Deutschland, erwache!“ erinnert, finden seit Monaten Demonstrationen in NRW statt. Es sind die Reste der Querdenkerszene, die noch Anfang 2022 Tausende auf die Straße brachte und sich nach und nach dem Thema Frieden zugewandt hat. Dass unter den 300 Demonstranten auch ein paar Neonazis dabei waren, stört hier niemanden. Wer gegen den Westen und die USA ist und sich einen Frieden auf Kosten der Ukrainer wünscht, ist unter den „Herzmenschen“, wie sich die Demoteilnehmer selbst bezeichnen, willkommen. Und da in Bochum die demokratischen Parteien nicht an der Gegenkundgebung am Bergbaumuseum teilnahmen, von wo aus der Zug von NRW erwacht losging, sondern vor der Christuskirche protestierten, kam es zu absurden Szenen: Als Redner davon sprachen, junge Ukrainer würden in dem Krieg für westliche Oligarchen sterben, auf Plakaten das Ende der NATO gefordert wurde und überall Friedensfahnen wehten, wurden sie von Gegendemonstranten als Nazis beschimpft. Zumindest den Dagdelen-Linken unter ihnen dürften solche Parolen von Ostermärschen und Friedensdemonstrationen bekannt vorgekommen sein. Die Warnung vor einem Konzentrationslager Bundesrepublik, die der Bochumer Arzt Andreas Triebel aussprach, zeigte dann allerdings, dass sich bei NRW erwacht der Bodensatz der schon bodensätzigen Friedensbewegung mit Rechtsradikalen, Querdenkern und einfach nur verwirrt wirkenden Menschen gemischt hatte.
Als am Bergbaumuseum ein Traktor mit einem Bieranhänger vorbeifuhr, auf dem Frauen einen Junggesellinnenabschied feierten, wurden sie über den Lautsprecher gewarnt, sich nicht gegen Corona impfen zu lassen, denn sonst könnten sie keine Kinder bekommen.
Von Kindern wurde sowieso viel gesprochen: NRW erwacht erweckte den Eindruck, dass noch in den nächsten Tagen Bomben auf Deutschland fallen würden und Eltern ihre Söhne an der Front opfern müssten. Die Apokalypse, sie ist heute das beliebteste Stilmittel bei Protesten jeder Art.
Kurzzeitig wurde der Zug von Gegendemonstranten immer wieder behindert. Aber die Polizei, die mit einem Großaufgebot an diesem Samstag in Bochum präsent war, sorgte für einen weitgehend reibungslosen Ablauf und ließ Proteste in unmittelbarer Nähe zu. Gut 300 Teilnehmer aus ganz Nordrhein-Westfalen, das ist nur noch ein Bruchteil dessen, was die Querdenkerszene noch vor Kurzem auf die Straße bekam. In Bochum war der harte Kern zu sehen, zu mehr reichte es nicht. Der Einsatz der berüchtigten Bochumer Friedenstrommler dürfte jedoch so manchen Anwohner veranlasst haben, vom Einsatz hochpräziser Drohnen zu träumen.
Auf dem Platz des europäischen Versprechens hatten SPD, Grüne, CDU, FDP und UWG eingeladen sowie die Religionsgemeinschaften der Stadt, Juden, Muslime, Christen. Präzises Motto: „Bochum stirbt, wenn ‚NRW erwacht‘“. Kaum mehr als 100 Bochumer nahmen an der Kundgebung teil. „Sieht aus, als sei Bochum bereits gestorben“, meinte eine Dame mittleren Alters, hörbar konsterniert. Hörte sich dann aber anders an: Wie sich die Redner – Claudia Stein für die Grünen, Serdar Yüksel für die SPD, Andreas Stephan für die CDU, Leon Beck für die FDP und Gerald Hagmann für die Kirchen und Religionsgemeinschaften – wie sie sich dem „braunen Brei“ gegenüber positionierten, ließ an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. An jener Eindeutigkeit, die man bei Die Linke vergeblich sucht: Deren immerwährende Gallionsfigur, die Wagenknecht-Intima Sevim Dagdelen, hätte man an diesem Tag in Bochum eher auf Seiten der „Erwachten“ vermutet. Auf dem Platz es europäischen Versprechens sprach SPD-Chef Yüksel von „Gift, das sich in die Gesellschaft frisst“.
Gleichwohl enttäuschend, so der Tenor der Demo-Teilnehmer, wie gering die Zahl derer sei, die ihre Zeit aufwenden dafür, die demokratische Mitte zu stärken. Was sich darin zeigt, man muss dies dringend befürchten: dass die demokratische Mitte zur unpolitischen wird. Sie erodiert nicht, sie gibt sich unschlüssig. Nicht zum ersten Mal, daran hat Hagmann, Superintendent der Evangelischen Kirche, auf dem Platz des europäischen Versprechens erinnert, an „Bochum vor 100 Jahren“. Es sei dies, so Hagmann, nicht nur die Erinnerung daran, „dass wir uns, jeder für sich, jeden Tag entscheiden können“, sondern mehr als dies: „Es ist die Erinnerung daran, dass wir uns rechtzeitig entscheiden müssen.“
Gegen Nazis in Zivil. Die für „Frieden“ demonstrieren, Frieden mit Putin. Mit Sombrero auf dem Kopf für das „eigene Volk“, das geknechtete. Und gegen „Kapitalismus“, gegen den sich gleichzeitig, nur ein paar Straßenecken weiter, die Demo gegen „Vonovia & Co.“ empörte. Sie hat auf ihre Weise deutlich gemacht, wie umworben die demokratische Mitte ist und wie unschlüssig sie sich gibt: Bei einer Zwischenkundgebung auf dem Boulevard Ecke Viktoriastraße distanzierte sich die Demo-Leitung in aller Deutlichkeit von dem Nazi-Aufmarsch und erklärte die Solidarität dieser Anti-Wohnungsbaugesellschaftskampagne mit den Anti-Nazis dieser Stadt. Um dann im fast selben Atemzug – erste Rede, sie kam von „Schlafen statt Strafen“, der Dortmunder Obdachlosen-Ini – ins antisemitische Arsenal zu stürmen, umstandslos ging es los mit „Heuschrecken“ und „Gier nach Profit“ und „Spekulationen“ und „Spekulanten“ und „goldenen Nasen auf Kosten der Allgemeinheit“ und so weiter. Antisemitisch gemeint? Antisemitisch gedacht. Die Heuschrecken-Metapher, das sollte bekannt sein, verdichtet Judenhass, in ihr verbinden sich die beiden antisemitischen Extreme: die Vorstellung von Ungeziefer und Übermacht. Und so verbinden sich hier auf bizarre Weise eine Obdachlosen-Initiative, die sich von „Heuschrecken“ verfolgt wähnt, mit Elon Musk, dem Noch-Twitter-Chef, einem der reichsten Menschen dieser Erde, der jüngst gegen Reiche gewütet hat, kaum dass sie einmal jüdisch sind.
Links recht, oben unten, die Gegensätze weichen auf, der braune Brei hat sie unterspült. Vier Bochumer Demos am selben Tag haben eine Frage aufgeworfen: Was oder wer wäre imstande, den braunen Brei zu binden? Was oder wer taugt besser als Soßenbinder, der Judenhass oder die Wagenknecht? Freiheit wäre, mit Adorno gesprochen, „aus solcher vorgeschriebenen Wahl herauszutreten“.