Wenn Dortmund die Herzkammer der Sozialdemokratie ist, muss Recklinghausen ein anderer Körperteil sein. Das Gehirn ist es nicht. Vor einiger Zeit reklamierte die Geschäftsführerin der SPD im Kreis Recklinghausen noch, mehr Mitglieder zu betreuen als der Dortmunder Unterbezirk. Jetzt sitzen am Samstagvormittag 150 Delegierte in der Stadthalle Oer-Erkenschwick.
Vor drei Tagen ist ihnen die rotgrüne Minderheitsregierung in Düsseldorf irgendwie abhanden gekommen. Laien erwarten hier und jetzt vielleicht brodelnde Wahlkampfstimmung, hochrote Köpfe, überbordende Gefühle angesichts der ersten Wahlprognosen. Ein „Ordentlichen Kreisverbands-Parteitag“ folgt einem anderen Drehbuch. Er ist seit Monaten geplant und hat 13 Punkte auf der Tagesordnung. Bei der Wahl der Kreisverbands-Schiedskommission werden vier BeisitzerInnen benötigt. So geht deutsche Parteiendemokratie.
Die Stadthalle ist eigentlich das Obergeschoss eines großen Supermarktes, wahrscheinlich irgend so ein Privat-Public-Partnership-Ding. Vor kurzem hat der Pächter gewechselt, mit dem alten streitet man sich über fehlendes Mobiliar und solchen Kram. Am Tag zuvor spielte im selben Saal noch der Don Kosaken Chor Serge Jaroff, die Karten kosteten 15 Euro im Vorverkauf.
Heute zahlen die Delegierten ihren Kaffee selbst, im Foyer gibt es Gulaschsuppe und Currywurst, Vegetarier sind nicht vorgesehen. Nicht einmal WLAN gibt es hier. Das fällt weiter nicht auf, nur ein paar Delegierte aus Castrop-Rauxel schauen in ihre Netbooks.
Die Neuwahlen spielen auf dem Podium und in den wenigen Wortbeiträgen kaum eine Rolle. Aufbruchstimmung, Wahlkampfreden, Analysen: Fehlanzeige. Das überfordert die Organisation. Noch gibt es keine Slogans, Flyer und Plakate aus Düsseldorf, aber jede Menge Arbeit für den Kreisgeschäftsführer. Der kümmert sich nur mit halber Kraft um die Region im Norden des Reviers, die übrige Zeit gehört dem Ennepe-Ruhr-Kreis im Süden. In wenigen Tagen müssen die Landtagskandidaten bestimmt sein, da sind Fristen, Formen und vor allem Befindlichkeiten der Ortsvereinsfürsten zu berücksichtigen.
Schon die Wahl des Bundespräsidenten am nächsten Tag scheint eine Herausforderung zu sein. Der Kreisverbandsvorsitzende Frank Schwabe, Bundestagsabgeordneter aus Castrop-Rauxel, wird im Laufe der nächsten vier Stunden mehrmals darauf hinweisen, dass er noch den ICE erwischen muss, wegen der Vorbesprechungen zur Präsidentenkür. Das andere MdB, Michael Groß aus Marl, weilt schon in Berlin. Der Parteitagsregie wird diese Not gefallen haben. Groß war stellvertretender Vorsitzender des Kreises. Zwischen Schwabe, dem Chef, und ihm gab es lächerliche Streitereien wegen der Ortsvereins-Fusionen in Haltern. Haltern am See heißt das korrekt. Es heißt ja auch Kreisverband und nicht mehr Unterbezirk. Unterbezirk, ein bürokratisches Wort, das Genossen noch immer in nostalgisches Schwärmen versetzt.
Der Michael, so heißt es, sei ja weiterhin dabei, er konzentriere sich auf seine Arbeit als Stadtverbandsvorsitzender in Marl und sein Mandat. Er habe auch sehr erfolgreich in den Arbeitskreisen gewirkt. So löst man Personalprobleme. Der Vorsitzende Schwabe, er gab im Bundestagshandbuch als Beruf „Gästeführer an verschiedenen Stätten der Industriekultur“ an, steht in seinem Kreis konkurrenzfrei da. Ohne Gegenkandidat wird er wiedergewählt, er kommt auf 127 Ja-Stimmen bei 148 Delegierten, das sind 85,8 Prozent.
Gegen Ende der Versammlung werden nur noch hundert Delegierte abstimmen, der Rest verdrückt sich vorzeitig und unauffällig ins Wochenende. Eine Delegierte stürzt auf dem Parkett. Sie liege mit Schenkelhalsbruch im Krankenhaus, verkündet die Sitzungsleiterin kurz vor Schluss.
Genau ein Delegierter äußert Kritik. Jürgen Grunwald. Vor mehr als 30 Jahren wäre er auch fast mal etwas geworden in der Politik, da war er noch Hauptamtlicher beim DGB, auch so ein Glückswort der Genossen, „Hauptamtlicher“. Dann kam ihm privat etwas dazwischen, es wurde nichts mit der Karriere, den Job beim DGB musste er auch hinschmeißen. Er kam nach dem Knick wieder unter. In ein paar Monaten wird er ausscheiden als, schon wieder: Hauptamtlicher bei der IGBCE. Am Rednerpult ärgert er sich immer noch über einen plumpen Versuch der Partei im letzten Herbst, den Mitgliedern ungefragt die Beiträge zu erhöhen.
Wahlkampf ist dann doch irgendwann. Die Reden werden gehalten, wenn gerade mal wieder Stimmen ausgezählt werden für den Bildungsobmann oder die Beisitzer/Beisitzerinnen des Kreisverbands-Vorstandes. So gewinnt man Zeit und erspart sich Leerlauf.
Zunächst gratuliert Schwabe der gerade nicht anwesenden Stadt Dorsten zu ihrem Sieg beim Radiowettbewerb „WDR2 für eine Stadt“ und zeigt sich sodann zuversichtlich, dass die SPD im Kreisgebiet in diesem Jahr alle fünf Wahlkreise direkt gewinnen wird. Das scheint machbar. Bei der letzten Wahl holte Josef Hovenjürgen den Wahlkreis Recklinghausen IV mit knapp 300 Stimmen Vorsprung für die CDU. Es ist ein merkwürdiger Wahlkreis, er legt sich wie eine Sichel von Norden um das Zentrum Recklinghausen. Er zieht sich von Dorsten im Westen über Haltern am See im Norden bis ins östliche Oer-Erkenschwick und Datteln. Es gehören Siedlungen dazu, in denen der Ruhrpott ins dörflich münsterländische überwabert. Hovenjürgen ist einer von nur zwei Ruhrgebiets-Abgeordneten der Union. Er wohnt an der letzten Bahnstation vor der Grenze des VRR und ist gelernter Pferdewirt.
Parolenfrei und perspektivlos zählt Schwabe Erfolge der letzten 20 Monate auf. Die Studiengebühr wurde abgeschafft, das Personalvertretungsgesetz für Landesbedienstete wurde auf den Stand von vor 2005 zurückreformiert, Arbeitgeber und Arbeitnehmer begegneten sich jetzt wieder auf Augenhöhe. Es folgen ein paar Punkte mehr.
Wo der Bundestagsabgeordnete nicht weiter weiß, springt später der Landtagsabgeordnete Andreas Becker bei. Der 45-jährige beschreibt seine berufliche Erfahrung auf der eigenen Homepage so: „Bei einem anerkannten Träger habe ich im Bereich der Berufsausbildung lernbeeinträchtigter und sozial benachteiligter junger Menschen gearbeitet.“ Die Wahl in den Landtag beendete diese Laufbahn abrupt. Ansonsten offenbart Becker online rustikalen Geschmack. Er campt gerne, geht auf Schalke, verabschiedet sich stundenlang von der Familie, wenn er unterm Kopfhörer Musik hört, „live und echt muss sie sein, egal ob von Klaus Hoffmann, BAP, Genesis oder …“ Man möchte nicht wissen, für welche weiteren Verirrungen die drei Pünktchen stehen. Ansonsten ist Becker geschmackssicher, beim Essen etwa spielt er fast in einer Liga mit Brachial-Komiker Bernd Stelter: „Zugegeben: Obwohl ich gerne koche, halte ich mich in der Küche mehr zum Essen auf.“
So locker und heiter steigt er auch in seine Rede ein, rhetorisch offensichtlich jahrelang geschult an der Klientel seiner beruflichen Tätigkeit: „Hätte ich im Sommer 2010 gesagt, vor uns liegen 20 Monate erfolgreicher Arbeit, dann hätten einige die Leute geholt“, … gleich schlägt der überraschende Gag ein, „die den Kittel anhaben.“ Den Moment sozialdemokratischer Hochkomik muss die Basis verpasst haben. Jedenfalls lacht niemand. Sodann listet Becker die Erfolge der SPD-geführten Regierung auf. Der Wegfall der Studiengebühr, der Schulkonsens, Jens Riewa könnte die Punkte in der Tagesschau nicht emotionsärmer vortragen, die Wiedereinführung bei der Bürgermeister-Stichwahl, die Stärkung der Stadtwerke, die Abwahl der Bürgermeister, Nordrhein-Westfalen ist wieder Mitbestimmungsland Nummer eins. – Gut, Studiengebühren und Mitbestimmung waren doppelt. Redner und Zuhörern jedoch reicht diese Bilanz. Braver Applaus.
Beinahe bringen die Jusos noch Unruhe in die Versammlung. Von ihnen stammt einer der insgesamt zwei Anträge, mit denen sich der Parteitag befassen muss. Ursprünglich hatten sie gefordert: „Seit 2006 ist der Ladenschluss in NRW flexibilisiert. Dies führt zu einer Vielzahl von positiven Aspekten, die es unter allen Umständen zu erhalten gibt.“ Christian Lindner von der FDP hätte es nicht schöner formulieren können. Das muss dann auf dem Weg nach Oer-Erkenschwick auch den Jusos irgendwer gesteckt haben. Sie verpacken ihre Aussage letztlich freundlicher und singen dazu das Loblied auf den heiligen Sonntag, bleiben im Kern aber bei ihrer Aussage. Mit Chuzpe verteidigt ein junger Genosse die Initiative. Aufgabe der Jusos sei es, die Meinung junger Menschen in die Partei zu tragen. Und bei den Ladenöffnungszeiten seien die Jungen halt weiter als die Alten.
Die Jusos sprechen für die Jugend. Von 7377 SPD-Mitgliedern in der Region sind 505 jünger als 35 Jahre alt, im Juso-Alter also. Das sind 6,8 Prozent der Mitglieder. Der Kreis Recklinghausen hat etwa 630 000 Einwohner. Der Shopping-Antrag scheitert chancenlos. Der nächste Parteitag wird kommen. Den Jungsozialisten bleiben bis dahin genügend andere junge Themen. Twitter, Red Bull und Intimrasur böten sich an. Generationengerechtigkeit, Occupy und ACTA vielleicht auch. Aber da müsste man neben einer Meinung auch noch über etwas Wissen verfügen.
Zum Schluss gibt es in der Stadthalle dann doch Ruhrpottwahlkampf kompakt. Das Schlusswort hat der Vorsitzende Frank Schwabe: „Wahlkampf. Wahlkampf. Wahlkampf. Glückauf.“ Schwabe muss zum Zug.
Ein Delegierter steht zwischen den Tischreihen und vermisst das Parteilied „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘“. Ohne Ansprechpartner sagt er resigniert: „Früher wurde immer gesungen.“
endlich wieder martin kaysh,
WIN!
Polit-Comedy vom Feinsten. Gerhart Polt hätts nicht besser hingekriegt.
Ich habe mich selten so gegruselt…der nackte Horror…da werden ja praktisch alle Artikel des GG auf einmal ausgehebelt, insbesondere wenn um ‚Parteien‘ und ‚Willensbildung‘ geht…immerhin sind noch 7% unter 35, aber die Zahl kriegt die SPD auch noch gedrueckt…
Brilliant geschrieben! Vielen Dank!
Lieber Martin,
wie lange hast Du denn dabeigesessen? Wer hat Dich gezwungen? Was und wieviel musstest Du trinken und rauchen, um das auszuhalten? Ich kenne jemanden in der Führung von Amnesty. Soll ich mich bei dem mal für Dich einsetzen?
[…] NRW: Fristen, Formen, Fürsten – Die SPD schreitet zur Wahl (Ruhrbarone) – Über die SPD im Unterbezirk Recklinghausen (der jetzt inzwischen wohl Kreisverband heißt) anlässlich der kommenden Wahlen. Oder auch nicht. Oder so. Auf jeden Fall: lesenswerter Text von Martin Kaysh! […]
@Martin Böttger. Vier Stunden. Der Kaffeenachschub hakte. Ich halte es aus, weil ich ja weiß, dass ich jederzeit gehen kann. (Du gibst mir zu denken, ob ich da richtig liege.) Gezwungen hat mich niemand. Ich brauche so etwas hin und wieder. Ich nehme an, dass Parteitage der CDU nicht wesentlich anders verlaufen. Aber ich kann SPD besser. Dieses der Partei innewohnde Scheitern zieht mich an. Eigentlich mag ich die Sozis für ihr vollkommenes Unvermögen, für ihre soziale Art, chancenlose Genossen mit Mandaten zu versorgen und das Hemdsärmelige. Ich war am nächsten Tag sogar noch beim Neujahrempfang der AWO (Arbeiterwohlfahrt) Westliches Westfalen in Gladbeck-Zweckel. „Westliches Westfalen“, das ist der Vatikan der Sozialdemokratie.
Da habe ich mich von einem Kollegen bespaßen lassen, der von der WR neulich zu einem der zehn mächtigsten Menschen Dortmunds gekürt wurde.
Das ist mal ein Thrill. Bloß nicht das Lachen vergessen, das könnte gefährlich werden. Der Kollege hat Lieder gesungen. In einem Lied, da ging es um eine Bude.
Wegen des Reims hieß die Besitzerin – Trude.
@ 7 Martin Kaysh:
Jaja, die Rundschau und Ihre TOP 10.
Bruno „Günna“ Knust gehört nun wirklich nicht zu den 10 mächtigsten Männern Dortmunds. Wenn schon ein Stadionsprecher, dann der jetzige „Nobbi“ und nicht der ehemalige „Günna“.
https://www.ruhrnachrichten.de/lokales/dortmund/BVB-Legende-eroeffnet-Imbissbude-in-der-Innenstadt;art930,1591917
Feinsinnig Sokratischer Sarkasmus, lecker!
Ich kenne Schwabes und Groß´s Verzweiflung, den zeitgeistigen, soziodemokratischen Mainstream am Leben zu halten. Es rumort in der SPD und keiner kriegts mit!
Martin,ich mag diese Genossen trotzdem, schoen schaurig sind Sie, piefig und hoffnungslos aber doch meistens ehrlich. Und was besseres hab ich nicht noch gefunden.