Das Publizieren offener Briefe dient dem wissenschaftlichen Aktivismus seit Monaten als Mittel der Stunde. Viel Brief ist darin aber nicht zu erkennen. Von unserem Gastautor Von unserem Gastautor Ioannis Dimopulos.
Man könnte es als medienhistorische Sensation bezeichnen: der Brief feiert im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt und den Studentenprotesten an deutschen Universitäten sein Revival. Gerade der Glaube, sich zur Lage im Nahen Osten äußern zu müssen, errettet die Briefkultur im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung. Seit Oktober 2023 ist es zu einer Schwemme an offenen Briefen gekommen. Mit pathetisch anmutenden Namen (Philosophy for Palestine), oder wahlweise verdächtiger Neutralität (Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten) warten diese Schriftstücke mit bekannten politischen Positionierungen und viel Befindlichkeit auf. Ihre Urheber: meist das akademisch-wissenschaftliche Milieu.
Dabei könnte man die Idee eines offenen Briefs als paradox beschreiben. Die literarische Gattung des Briefs beschreibt in der europäischen Geschichte vor allem persönliche, meist intime, Botschaften. Das hat sich durch die schwindende Beliebtheit des Briefes heute verstärkt, bedeutet das Abfassen eines Briefs doch einen wesentlich höheren Arbeitsaufwand als das Verfassen einer Mail. Im 18. Jahrhundert und vor allem während der Aufklärung galt der Brief als das Medium des erstarkenden Bürgertums, gerade in Deutschland. Er war Ausdruck der Empfindsamkeit des mündigen Bürgers, wie die Beliebtheit von Friedrich Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ oder Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ zu Genüge zeigen.
Einen Brief nicht zu versiegeln, sondern öffentlich zu zeigen, meint deshalb immer, sich zu etwas zu bekennen, was eigentlich privater Natur ist. Das birgt im schlimmsten Fall ein erhebliches persönliches Risiko. Den berühmtesten und vielleicht bedeutendsten offenen Brief verfasste der französische Schriftsteller Emile Zola während der Dreyfus-Affäre in den 1890er Jahren. In diesem sprach er sich für die Unschuld eines jüdischen Hauptmanns aus, den man – durch die antisemitische Grundstimmung der französischen Gesellschaft befeuert – fälschlicherweise als deutschen Spion verurteilt hatte. „J´accuse“ (Ich klage an) betitelte Zola den offenen Brief und wird dadurch selbst Opfer des Mobs, welcher ihn 1902 als Folge seines Bekenntnisses ermorden wird.
Der offene Brief hat also die Funktion des Bekenntnisses zu einer Meinung, die gesellschaftlich verdeckt, unbeliebt oder gar verpönt ist. Er konfrontiert den Adressanten mit einem Problem und fordert durch die Veröffentlichung zum Handeln auf. Die Paradoxie besteht dabei darin, dass das private Medium „Brief“ das persönliche Bekennen in einen öffentlichen Raum transportiert. Worin besteht aber das Problem im Zusammenhang mit den aktuellen Auswüchsen dieses Phänomens?
Gerade die Vielzahl offener Briefe, die im Zusammenhang mit den Studentenprotesten an der Humboldt-Universität und dem Nahostkonflikt von Größen der wissenschaftlichen Elite verfasst wurden, hat mit der beschriebenen Charakteristik des offenen Briefs nur noch wenig zu tun. Dafür ist etwa das „Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten“ erhellend. Dieser offene Brief lässt jedwedes persönliche Bekennen vermissen; zumindest, wenn man darunter versteht, dass sowohl Verfasser als auch Unterzeichner eine Position einnehmen, die sie nicht ohnehin schon öffentlichkeitswirksam totgetreten haben. In ihm solidarisieren sich Mitarbeiter der Universitäten mit den antiisraelischen Protesten und forderten unter anderem Straffreiheit für die zum Teil strafbaren Handlungen der Aktivisten. Eine Verurteilung der antisemitischen Ausschreitungen findet sich im Brief nicht, geschweige denn ein Satz zur Gefahrenlage für jüdisches Leben durch diesen Zusammenhang. Dafür finden sich als Unterzeichner namhafte „Israelkritiker“, Hamasapologeten und die Creme de la Creme postkolonial-identitätspolitischer Selbstverortung Berliner Provenienz. Bekanntheit erlangte wohl nicht ohne Grund Naika Foroutan, die besonders erwachsen auf die Kritik am offenen Brief reagierte, indem sie einen Hitler-Vergleich zog.
Statt sich zu etwas zu bekennen, was entsprechende Klientel nicht ohnehin schon bei jeder sich bietenden Gelegenheit hinausblökt, finden sich im Brief die üblichen Floskeln: Man fordere die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu schützen sowie Debatte und Dialog zu fördern, auch wenn betont wird, dass die Aktivisten selbige Positionen nicht teilen müssen. So einen kruden Formalismus öffentlichkeitswirksam zu äußern, obwohl der antisemitische Mob zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Tage Universitätsgebäude beschädigt und zu Gewalt gegen jüdisches Leben aufrief, was sie auch der Passivität der Universitätsleitung zu verdankten, sollte zumindest die Frage aufwerfen, welche politische Forderung hier nicht bereits verwirklicht ist. Schließlich träfe das potenziell auch auf die Demonstration rechter Studierender zu. Anders gefragt: was ist eigentlich die Forderung, zu der man sich bekennt, mehr als der Status Quo?
Es ist verblüffend, wie politisch einschlägig bekannte Größen der Wissenschaft tatsächlich glauben, in solchen Briefen irgendeine unangenehme Forderung ausgesprochen zu haben, die nicht bereits der Wirklichkeit sowie dem entspricht, was von man diesen Leuten sowieso zu jeder Gelegenheit öffentlichkeitswirksam zu hören bekommt. Was die Politisierung durch öffentliches Bekenntnis leisten soll, verkehrt sich dadurch ins Gegenteil: Man hat es mit einer Wiederholung bekannter Positionen entsprechend bekannter Leute zu tun. Die Unkultur besteht darin, dass das Politische nur simuliert wird. Nicht umsonst beharren die Verfasser des Briefes „unabhängig davon, ob wir mit den konkreten Forderungen des Protestcamps einverstanden sind”, die ohnehin sich überschneidenden Meinungen stellvertretend im Schein demokratischer Grundrechte zu verteidigen. Die Unterstützung antiisraelischer Aktivisten steht hier stellvertretend für die Bestätigung der eigenen Meinung, zu der man sich nicht bekennt, um nicht den Anschein zu erwecken, auf staatlich finanzierten Posten Antisemitismus für Israelkritik umzudiskursivieren.
Darüber hinaus geht es bei den kursierenden offenen Briefen aber um noch etwas anderes. Denn die Unterzeichner legitimieren durch die schiere Masse und der Positionen im akademischen Betrieb den politischen Aktivismus mit, dem man sich zur Wahrung der wissenschaftlichen Neutralität nicht zu direkt annähern darf. Offene Briefe verleihen so durch die Stellung der Verfasser und Unterzeichner eine quantitative und qualitative Autorität, ohne sich tatsächlich direkt bekennen zu müssen. Das Bekenntnis funktioniert hier anders, und zwar durch die Unterzeichnung des Briefes selbst, in dem sich eigentlich zu gar nichts bekannt wird.
Man hat es deshalb mit einer Form von politischer Einschwörung hinter die gemeinsame Sache im Lichte der Öffentlichkeit zu tun. Wer, aus welchen Gründen auch immer, nicht unterzeichnet, macht sich in der akademischen Filterblase verdächtigt oder provoziert die Frage nach der Kaderzugehörigkeit. Der Akt des Unterzeichnens wird so zur kollektiven Beschwörung des wissenschaftlichen Aktivismus hinter eine gemeinsame Linie, die das Verteidigen antisemitischer, bisweilen gewalttätiger Studierender entschuldigt. Das Bekenntnis zu einer Sache findet hier zwischen den Zeilen bzw. performativ durch die Unterschrift statt.
Die literarische Form des Briefes verspricht eine scheinbar persönliche Note, einen persönlichen Drang, der an die Öffentlichkeit drängt. Das verrät viel über das Innenleben eines solchen Aktivismus: Bekennen kann man sich nur noch kollektiv, da vom Selbst ohnehin nur noch das gemeinsame Skandieren von halbgaren, unterschriebenen Phrasen übriggeblieben ist. Inwiefern solches Handeln zum akademisch beliebten Prozess der Entwertung des autonomen Subjekts dazugehört, wäre in diesem Zusammenhang eine erkenntnisreiche Frage.