„Ökologisch betrachtet geht es dem Wald nicht schlecht“

Wisente im Wald Foto: Victoria Donos (Fundația Conservation Carpathia) Lizenz: CC BY-SA 4.0


Dem deutschen Wald geht’s schlecht. Im Mai wurde der alljährlich Waldzustandsbericht des Landwirtschaftsministeriums veröffentlicht. Wie seit Jahrzehnten üblich, zeichnet er ein düsteres Bild. Fünf Prozent der Bäume sind in den Trockenjahren abgestorben. Eine Katastrophe, sagen Förster, Waldbesitzer und Politiker. Ich sprach darüber mit Jan Haft. Er argumentiert, dass Trockenheit, Feuer und Borkenkäfer zur Ökologie des Waldes gehören. Noch besser wären es, wenn große Pflanzenfresser die Wälder dauerhaft auflockern dürften. Von unserem Gastautor  Michael Miersch.

Jan Haft gehört zu den bekanntesten deutschen Tierfilmern, wurde mit nationalen und internationalen Preisen überhäuft und hat sieben große Filme über das Thema Wald gedreht. Im Herbst erscheint sein neues Buch „Unsere Wälder“. Ich sprach mit ihm über die Ökologie des Waldes, weil er in seinen Filmen seit langem ein Umdenken fordert. Seine These: Die Vorstellung vom dichten, dunklen Wald als Inbegriff von Natur widerspricht den wissenschaftlichen Fakten.

Weil es in den vergangenen Jahren zu massiven Schäden durch Trockenheit und Borkenkäfer kam, unterstützt die Regierung private und kommunalen Waldbesitzer mit vielen Hundert Millionen Euro. Hilft das Natur?

Es hilft den Waldbesitzern. 97 Prozent der deutschen Wälder sind Forste, also Wirtschaftswälder für die Holzproduktion. Wirtschaftsförderung ist legitim, aber man sollte sie auch Wirtschaftsförderung nennen und nicht so tun, als würde es sich um Naturschutz handeln. Ökologisch betrachtet geht es dem Wald nicht schlecht. Es ist vielfach wissenschaftlich erwiesen, dass der Artenreichtum erheblich zunimmt, wenn die geschlossene Waldbedeckung aufgelockert wird. Störungen wie Feuer, Sturm oder das Absterben von Bäumen auf breiter Fläche bringen Dynamik in das Ökosystem Wald. Nach solchen Ereignissen pulsiert das Leben. Viele Tier- und Pflanzenarten brauchen solche Störungen. Sie haben sich im Laufe der Evolution darauf eigestellt. Im dunklen, dichten Wald können sie nicht existieren. Was wir als schönen Wald betrachten ist gut für die Forstwirtschaft, aber nicht für die Natur.

Die Waldbesitzer finden auch deshalb so viel Gehör in der Politik, weil sie als Behüter der Natur gelten. Wald ist für viele Deutsche gleichbedeutend mit Natur. Warum eigentlich?

Dieses falsche Bild entstand im frühen 19. Jahrhundert. Es stammt aus der Forstwirtschaft, die damals ausgehend von Preußen immer stärker das Regiment über die Wälder übernahm. Zuvor gab es noch in erheblichem Maße Waldweide. Die Bauern trieben Rinder, Pferde und Schweine in den Wald, damit sie dort fressen. Damit der Wald im Sinne der Forstwirtschaft ökonomischer wird, also mehr Holz produziert, wurde die Waldweide verboten. Daraufhin erntete man natürlich mehr Holz. Der naheliegende Schluss lautete: Wenn man die Natur nicht stört, also kein Vieh in den Wald treibt, dann entsteht Wildnis. Das war ein Trugschluss, der sich bis heute gehalten hat – ein ökonomischer Idealzustand wurde für einen natürlichen Zustand gehalten. Zum natürlichen Zustand gehörten aber von jeher nicht nur Bäume, sondern auch Tiere, die durch ihr Fressverhalten das Dickicht öffnen und Licht einlassen. Mit der forstlichen Konstruktion dichter, dunkler Wälder begann der Niedergang der Biodiversität.

Ich habe schon oft gelesen, dass für die meisten Gegenden Deutschlands dichter Buchenwald der natürliche Bewuchs sei. Stimmt das nicht?

Es kommt darauf an, welche Epoche man als Referenz nimmt. Von Buchen dominierte Wälder setzten sich erst durch, als Menschen die Landschaft schon erheblich verändert hatten. Das ist durch Pollenanalysen nachgewiesen worden. Wenn man wissen will, welche Pflanzen- und Tiergemeinschaften ohne die Eingriffe des Menschen in Mitteleuropa lebten, muss man zurück gehen auf die Eem-Warmzeit vor etwa 120.000 Jahren. Da gab es keine geschlossenen Buchenwälder. Die Landschaft war geprägt von lockeren Baumgruppen aus Eichen, Hainbuchen und anderen Gehölzen.

Deutschlands bekanntester Waldexperte, der Förster Peter Wohlleben, aber auch viele prominente Naturschützer betrachten geschlossene Wälder als Ideal und nicht aufgelockerte Wälder wie du.

 In der wissenschaftlichen Forschung über die Biodiversität des Waldes ist es weder neu noch eine Außenseitermeinung, dass in geschlossenen Wäldern die geringste Vielfalt herrscht. Es ist messbar und wurde vielfach bewiesen. Ein Beispiel ist der Nationalpark Bayerischer Wald, wo Stürme und Borkenkäfer massiv und auf breiter Fläche den dichten Fichtenwald absterben ließen. Verschwundene Arten kehrten daraufhin zurück, die Vielfalt nahm zu. Was unter Wissenschaftlern seit langem bekannt ist, dringt leider kaum in die Öffentlichkeit, die Medien und die Politik vor. Viele Menschen glauben immer noch, dichter Wald sei reinste Natur.

Gibt es Zahlen zur Artenvielfalt in aufgelockerten Wäldern im Vergleich zu dichten Wäldern, die ja gern auch als gesunde Wälder bezeichnet werden?

Von den 3.600 Pflanzenarten, die es in Deutschland gibt, sind nur etwa 250 echte Waldarten. Die große Mehrheit der Organismen, egal ob Pflanzen, Pilze oder Tiere, braucht Offenland. Nur eine winzige Minderheit kann im inneren des Waldes existieren. Beispiel Spinnen: Es gibt hierzulande etwa 1.000 Spinnenarten. Lediglich drei sind auf dichten Wald angewiesen. Die Hälfte aller Spinnen braucht strukturreiches Offenland. Die andere Hälfte kann in beiden Landschaftsformen leben. Wenn wir also eine Spinne im Wald sehen, ist das fast immer keine typische Waldart sondern gehört zu den flexiblen Arten, die überall zurechtkommen. Das Gleiche gilt für alle andere Artengruppen, Säugetiere, Reptilien, Vögel, Insekten und so weiter. Diese Artenverteilung sagt ja etwas aus über die Evolution. Wäre das Land früher von dichten Wäldern bedeckt gewesen, dann gäbe es viel mehr Arten, die an solche Wälder angepasst sind. Nicht mal ein Zehntel der hierzulande vorkommenden Arten sind Waldtiere oder Waldpflanzen. Da ist ein sehr eindeutiger Hinweis darauf, wie die Landschaft aussah, bevor Menschen sie verändert haben.

Wer hat denn die Bäume in Schach gehalten, bevor die ersten Bauern in der Jungsteinzeit ihr Vieh in die Wälder trieben?

Es waren die wilden großen Pflanzenfresser: Auerochsen, Wildpferde, Wisente, Elche. Und natürlich Rothirsche, Rehe und Gämsen, die heute noch vorhanden sind. In den Jahrtausenden davor gab es obendrein noch gewaltiger Bulldozer-Arten wie Elefanten und Nashörner.

Die Erkenntnis, dass dichter Wald nicht unbedingt ideale Natur ist, setzt sich in der Öffentlichkeit erst langsam durch. Wie bis du persönlich darauf gekommen?

Schon als junger Tierfilmer fiel mir auf, wenn man Tiere sucht, geht man fast nie in den Wald. Man geht zu der Lücke im Wald, man geht an den Waldrand, zur Kiesgrube am Wald. Dort findet man Tiere.  Alles Orte, wo der Wald im forstlichen Sinne nicht intakt ist. Für mein nächstes Buch habe ich etliche Wissenschaftler angeschrieben, die führende Spezialisten für bestimmte Artengruppen sind. Ich fragte sie, wo die Mehrheit der jeweiligen Artengruppe lebt, an der sie forschen. Alle antworteten: im Offenland.

Die heutige Umweltpolitik fokussiert auf den Klimawandel, nicht auf Artenschutz. Sind in diesem Sinne dichte Wälder nicht die bessere Lösung? Sie absorbieren Kohlendioxid (CO2) und speichern es.

Dichte alte Wälder sind klimaneutral. Wälder binden beim Wachstum Kohlenstoff und wenn die Bäume absterben, entweicht der als Gas wieder. Global betrachtet emittiert das Totholz aller Wälder mehr CO2 als die Verbrennungsvorgänge aller fossiler Energieträger. Durch das Wachstum neuer Bäume nehmen die Wälder das wieder auf. So sind Waldgebiete unterm Strich Kohlendioxid-Senken, jedoch keine besonders effizienten. Viel besser ist die Klimabilanz von Mooren und Grasland. Moore wurden fast alle in der Vergangenheit abgetorft und trockengelegt. Es ist kompliziert sie wieder herzustellen. Grasland dagegen kann man relativ einfach neu erschaffen. Gräser sind die einzigen Pflanzen, für die es vorteilhaft ist, gefressen zu werden. Sie brauchen nicht zu blühen und können sich vegetativ vermehren. Wird Gras von Tieren abgebissen, wächst es schneller. Mit Hilfe von Bodenorganismen werden im Grasland die abgestorbenen Wurzeln und der Dung der Weidetiere in Humus umgewandelt und so gewaltige Mengen COim Boden gespeichert.

Einflussreiche Naturschutzverbände machen sich die Position zu eigen, die von der Holzwirtschaft, den Waldbesitzern und den meisten Förstern vertreten wird: Große wilde Pflanzenfresser wie Rothirsche, Damhirsche, Rehe und Gämsen sollten radikal reduziert werden, damit die Bäume ungestört wachsen können. Du dagegen sagst, man sollte das Gegenteil machen und sogar die aus Deutschland verschwundenen Pflanzenfresser wie Wisent und Elch wieder hereinlassen. Oder die Waldweide für Rinder und Pferde wieder einführen. Mal ehrlich, das wäre das Ende der deutschen Forstwirtschaft. Eine Utopie, die sich nicht verwirklichen lässt.

Selbstverständlich ist die Holzwirtschaft wichtig. Ich sitze hier auf einem Stuhl aus Holz an einem Tisch aus Holz. Es ist ein nachhaltiger Rohstoff, den wir weiterhin in großer Menge brauchen. Ich plädiere nur dafür, sauber zu unterscheiden zwischen Forst und Wald. Forst ist nichts Schlechtes. Forst produziert Holz, Forst ist ein Erholungsraum für die Menschen, Forst ist schattig und duftet gut. Im Forst leben zwar weniger Arten als im Offenland aber immerhin einige. Um solche Wirtschaftswälder zu erhalten, muss man Hirsche und Rehe reduzieren.

Dort jedoch, wo wir Naturschutz betreiben, in den Nationalparks und anderen Schutzgebieten, sollten wir uns vom forstlichen Bild des Waldes verabschieden und ein neues Waldbild anstreben: Lockere Wälder mit vielen offenen Flächen. Dort würden große Pflanzenfresser eine wichtige Rolle spielen, weil sie den Landschaftstyp erschaffen und erhalten, den so viele Arten zum Leben brauchen. Wissenschaftler sagen, fünf Prozent des Landes als Weideflächen wären das Ende des Insektensterbens.

Also weg vom Naturschutz, der die vorhandene Waldlandschaft konserviert und hin zu einem Naturschutz, der Dynamik zulässt und Wandel toleriert.

Ja, das Festklammern am ungestörten, dichten Wald steht im Gegensatz zu dem Ziel, Artenvielfalt zu fördern. Es wurde wissenschaftlich nachgewiesen, dass sogar die Artenvielfalt der Bäume größer ist in offenen Wäldern. Es gibt die Studie einer dänischen Universität, die sich angesehen hat, wieviel große Pflanzenfresser es in einem Gebiet braucht, um die optimale Artenvielfalt zu erreichen. Sie haben die wenigen Gebiete der Erde untersucht, in denen es noch viele wilde, pflanzenfressende Großtiere gibt. Ergebnis: Wo etwa zwanzig Pflanzenfresser von der Größe eines Rindes auf einem Quadratkilometer grasen, ist die Artenvielfalt am höchsten.

Würde man dies in deutschen Nationalparks zulassen, entstünden Gebiete, die in unseren vom forstlichen Blick geprägten Augen nicht mehr wie Wälder aussehen, sondern eher wie Parks oder Baumsavannen. Glaubst du an ein Umdenken in absehbarer Zukunft? Wie reagieren die Vertreter des forstlichen Ideals auf deine Kritik?

Erstaunlicherweise sind die Reaktionen auf meine Filme überwiegend positiv. Es kommt darauf an, wie man den Menschen gegenübertritt. Ich bin kein Prediger, der den deutschen Wald in eine Savanne mit Großtieren umkrempeln will. Wir brauchen die Forste. Es ist auch völlig okay, wenn in manchen Schutzgebieten alte Buchenwälder wachsen. Die sind wunderschön. Ich plädiere lediglich dafür, dass wir als ein wohlhabendes Land zumindest auf einem Teil der Naturschutzflächen zulassen, dass wieder die großen Pflanzenfresser ihre landschaftsgestaltende und Artenvielfalt erschaffende Rolle einnehmen. Dabei bin ich gar nicht so pessimistisch, dass der Naturschutz künftig mehr in diese Richtung geht. In allen Bundesländern gibt es mittlerweile Waldweideprojekte mit robusten Rinder- und Pferderassen, die ganzjährig draußen leben können.

Was kann ich als Städter tun, um artenreiches Offenland zu fördern? Weidemilch kaufen?

Und Weidefleisch essen.

Der Text erschien bereits im Blog von Michael Miersch

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