Opernhits am laufenden Band, ein bisschen andalusische Folklore und selbst Nicht-Opernfans können fast vom ersten bis zum letzten Takt mitsingen. George Bizets „Carmen“ ist für jedes Opernhaus, jeden Musiker und jedes Regieteam Fluch und Segen zugleich. Beim Publikum kommt der schmissige Spanientaumel garantiert an, aber wie bewahrt man Carmen vor dem großen Kitsch-Overkill? Tatsächlich lauert ja unter der gleißenden musikalischen Oberfläche eine unvergleichlich brutale und illusionslose Geschichte. Ununterbrochen wird in der „Carmen“ über Liebe gesungen, jeder will hier jede und umgekehrt, aber eine einigermaßen echte Emotion gibt es nicht. Oder wenn – im Fall von Don José vielleicht – wird sie schnellstmöglich zu Hass und Gewalt umgewandelt. Gleich der hübsch pittoreske erste Akt auf dem Platz vor einer Zigarettenfabrik macht klar, dass „Liebe“ im besten Fall ein Spiel ist, meist aber ein reines Machtinstrument.
Bizet startet mit dem vollen Choraufgebot und gibt so der gesamten Story etwas Allgemeingültiges. Nicht die individuelle Geschichte steht im Vordergrund, sondern ist nur Mittel zum Zweck, um ein kollektives Schicksal zu illustrieren. Darin trifft sich die Dramaturgie der „Carmen“ mit Schillers Stücken „Wallenstein“ oder „Wilhelm Tell“, die beide ebenfalls dem Individuellen das Kollektive als Grundlage voranstellen.
In Dortmund macht bereits das Vorspiel klar, dass hier niemand gewillt ist, einfach nur dem Hit-Medley zu folgen. Dirigent Gabriel Feltz – Leiter der Dortmunder Philharmoniker – hat sich die Partitur sehr genau angeschaut und holt einen in vielen Details sehr eigenen Klang hervor. Auf sein Orchester kann er sich nicht nur technisch dabei stets zu hundert Prozent verlassen. Großartig, wie an vielen Stellen die Instrumentierung Bizets durch leichte Gewichtsverschiebungen ihre ganze dramatische Kraft entfaltet. In den Tempi ist Feltz radikal mit einem Hang zur maximalen Geschwindigkeit, was gelegentlich zu kleinen Schwierigkeiten in der Abstimmung zwischen Sängern und Orchester führt, grundsätzlich aber dem Dramatischen gut tut.
Regisseurin Katharina Thoma ist sicherlich keine Radikale und neigt nicht zur Provokation. Aber auch sie umschifft gemeinsam mit Bühnenbildnerin Julia Müer und Kostümbildnerin Irina Bartels den Kitsch komplett. Das ist gar nicht so sehr der Verlegung der Handlung an eine mittelamerikanische Grenze zu verdanken, sondern dem genauen Blick auf die thematischen Grundkonstanten dieser Geschichte. Katharina Thoma erzählt schlichtweg die Geschichte, wie sie von Henri Meilhac und Ludovica Halévy auf der Basis von Proper Mérimees gleichnamiger Novelle geschrieben wurde. Es geht um Männer – hier vor allem Soldaten – die Sex als Machtinstrument nutzen. Es geht um Frauen, die durchweg in der sozialen Ordnung den Männern nachgestellt sind. Und deren sexuelle Anziehungskraft das einzige Mittel ist, sozial zumindest etwas aufzusteigen. Was Thoma durch einen kleinen szenischen Kniff hinzufügt, ist das Verrinnen der Zeit. Die Frau, die es verpasst Jugend und sexuelle Attraktivität als Ausweg aus der prekären Situation zu nutzen, hat auf ewig verloren. Das illustriert Thoma durch eine Bettlerin, die sie als alterndes Gegenbild Carmen zur Seite stellt. Carmen selbst ist auf dem besten Weg, ihre eigentlich hervorragenden Chancen in dieser sozialen Konstruktion zu verspielen. Ist sie zu Beginn noch im roten Kleid ganz die rassige Spanierin, tauscht sie es im Verlauf gegen die praktische aber auch weniger aufreizende Kleidung der Rebellin und erscheint zum finalen Stierkampf im Chanel-Kostüm. Hier ist die Jugend schon fast dahin, aber das Designer-Outfit signalisiert bereits den fast geglückten Aufstieg zur Society-Ehefrau von Stierkämpfer Escamillo. In Thomas Lesart ist diese finanzielle Absicherung das Äußerste, was für eine Frau erreichbar wäre, an eine tatsächliche Freiheit der Entscheidung glaubt die Regisseurin nicht.
Das Erstaunliche dieser Carmen-Inszenierung ist, dass Katharina Thoma für ihren Blick auf die Geschichte gar nicht viel braucht – schon gar nicht harte Eingriffe in die Vorlage oder Drastisches wie vordergründige Gewalt oder Vergewaltigungsszenen. Sie ist einfach eine psychologisch sehr genaue Regisseurin, die es perfekt versteht, glaubwürdige Charaktere auf der Bühne zu zeigen. Deutliche Regieeinfälle sind da sogar die Schwachpunkte: Etwas wenn Leutnant Zuniga von den Schmugglern nicht einfach zum (tödlichen) Spaziergang aufgefordert, sondern in Maschendraht gewickelt mit der Sackkarre weggefahren wird, oder wenn die Bettlerin sich in der Kartenlegeszene mit Maske in den leibhaftigen Tod verwandelt. Hier wird es arg plakativ. Nötig hat das diese Inszenierung nicht. Großartig ist Katharina Thoma immer dann, wenn sie auf der Basis ihrer klaren Haltung die Geschichte inszeniert. Und das gelingt ihr nicht nur mit Individuen, sondern – und das ist in der französischen Oper, die meist auch eine Choroper ist, ganz besonders wichtig – auch in den großen Ensemble- und Chorszenen. Gerade im ersten Akt, in dem neben dem vollen Chor auch noch den Kinderchor auf der Bühne ist, liefert Thoma ein exzellentes Beispiel ihrer handwerklichen Perfektion, in dem sie jeden Sänger und jede Sängerin in der Masse als Person darstellt. So entsteht tatsächlich ein realistisches und lebendiges Bild dieser Gesellschaft.
Das verdankt die Regisseurin selbstverständlich zu einem großen Teil auch ihrem Ensemble. Gerade Opernchöre gelten oft genug als Inszenierungs-Verhinderer. In Dortmund gilt das keinesfalls. Genauso wie das gesamte Sängerensemble sind hier auch die Chöre mit einer ungehemmten Spielfreude begabt. Und vergessen wir nicht: Die Frauen arbeiten in einer Zigarettenfabrik und in ihrem ersten Auftritt geht es vor allem um den Genuss der Feierabendzigarette. Ein Opernhaus, das eine Carmen inszeniert, sollte auch Sängerinnen haben, die bereit sind, auf der Bühne zu rauchen. Dortmund hat solche Sängerinnen zum Glück. Auch Ileana Mateescu raucht hier genüsslich eine Zigarette und dreht sie vorher sogar noch selbst. Darüber hinaus bringt sie alle körperlichen Voraussetzungen für eine überzeugende Carmen mit – so unverschämt sexy ist sie in ihrem roten Kleid, so gefährlich überzeugend, wenn sie im zweiten Akt für Don José singt und tanzt. Stimmlich meistert sie die Partie ebenfalls locker. Lediglich in der Tiefe fehlt es ihr vielleicht etwas an Dunkelheit. Christoph Strehl ist als Don José ein absolut ebenbürtiger Partner. Dass seinem Tenor bei der Vorstellung am 9.2. etwas die Durchsetzungskraft fehlte, mag einem Infekt geschuldet sein. Sowohl seine Aussprache wie sein elegantes Timbre machen ihn ansonsten zu einem idealen Sänger in der französischen Oper. Morgan Moody, nicht nur heimlicher Publikumsliebling in Dortmund, gibt einen virilen und kraftvollen Escamillo, der sich allerdings mit dem Französisch etwas schwer tut und gelegentlich den Text nasal vernuschelt. In der Schmugglerszene im zweiten Akt liefern Stephan Boving und Fritz Steinbrecher ein musikalisches wie darstellerisches Kabinettstück. Sie lassen sich auf Gabriel Feltz‘ atemberaubendes Tempo ein und kriegen es trotzdem noch hin, auch darstellerisch präsent zu bleiben. Und wer bei Stephan Bovings hohem und charaktervollen Tenor sich nicht wünscht, ihn bald mal als Loge in Wagners Rheingold zu erleben, hat keine Ahnung von Oper. Sensationell ist Julia Amos als Micaela. Ihr Sopran ist so jugendlich frisch, glockenrein und unbeschwert, dass ihr die Rolle des unschuldigen Mädchens wie auf den Leib geschneidert ist.
Nach der Premiere war auch die zweite Vorstellung nahezu ausverkauft. Das Dortmunder Publikum hat offensichtlich begriffen, dass Intendant Jens-Daniel Herzog das Haus wieder auf Spur gebracht hat. Er selbst hat sich zum Ziel gesetzt, in der Topklasse der deutschen Stadttheater wieder mitzuspielen. Dort ist das Dortmunder Haus spätestens in dieser Spielzeit wieder angelangt. Der Anschluss an die ganz großen Häuser in Berlin, Frankfurt, Stuttgart oder München ist allein aufgrund der finanziellen Ausstattung wohl derzeit kaum möglich. Der Ruf als erfolgreiche Talentschmiede ist dem Dortmunder Haus aber jetzt schon sicher. Und wenn es bei der Spielplangestaltung und der Wahl der Regisseure genauso klug, mutig und glücklich weitergeht wie in den vergangenen zwei Spielzeiten, werden sich Essen und Düsseldorf/Duisburg in Zukunft an Dortmund messen lassen müssen und nicht umgekehrt.
Die Frauen….. parallel gab es im Schauspielhaus „Verbrennungen“. Regie von einer Frau. Hauptdarstellerinnen wären fast alle Frauen und Thema war Krieg und der Kampf um Vergebung und das Wiederfinden von Liebe. Ebenfalls sehr zu empfehlen.
[…] » Wir sind doch alle verknallt in Carmen – http://www.ruhrbarone.de […]