Orwells Kritik unserer Grundausstattung

George Orwell Foto: Cassowary Colorizations Lizenz: CC BY 2.0

Anfang des Jahres kam George Orwell Essay „Über Nationalismus“ 75 Jahre nach seinem Erscheinen auf deutsch heraus. Schon nach wenigen Seiten wünschte ich mir, dieses Buch schon vor Jahrzehnten gelesen zu haben. Orwell verwendet den Begriff Nationalismus nicht in der traditionellen Bedeutung des Wortes. „Mit »Nationalismus« meine ich zunächst einmal die verbreitete Annahme, dass sich Menschen wie Insekten klassifizieren lassen und ganze Gruppen von Millionen oder Abermillionen Menschen mit dem Etikett »gut« oder »böse« belegt werden können. Zweitens aber – und das ist deutlich wichtiger – meine ich damit die Angewohnheit, sich mit einer einzigen Nation oder einer anderen Einheit zu identifizieren, diese jenseits von Gut und Böse zu verorten und keine andere Pflicht anzuerkennen als die, deren Interessen zu befördern.“ Dem Nationalismus stellt Orwell den Patriotismus entgegen und auch diesen Begriff verwendet er nicht im üblichen Sinn: „Mit »Patriotismus« meine ich die Verbundenheit mit einem bestimmten Ort und einer bestimmten Lebensweise, die man für die beste auf der Welt hält, aber anderen Menschen nicht aufzwingen möchte. Patriotismus ist von Natur aus defensiv, militärisch wie kulturell.“ Was Orwell damit herausarbeitet ist also eher der Gegensatz zwischen Autoritär und Liberal und zwischen fanatisch und reflektierend, zwischen Volkserzieher und Demokrat.

George Orwell war einer der großen Freiheitskämpfer des 20. Jahrhunderts. Er kämpfte mit der Waffe in der Hand im spanischen Bürgerkrieg bei der mit den Anarchisten verbündeten POUM gegen Franco und dessen nationalsozialistischen Unterstützer und mit seinen Büchern und Essays gegen jede Form des Totalitarismus und der Unterdrückung – was zu seinen Lebzeiten vor allem bedeutete, den Nationalsozialismus und den Stalinismus abzulehnen.

In seinem Essay zeigt Orwell auf, was den „Nationalismus“ ausmacht: Die Identifizierung mit einer Gruppe oder einer Idee, die so weit geht, dass die Wirklichkeit zu ihren Gunsten verbogen und Tatsachen ignoriert werden, nur um in der Wirklichkeit oder auch nur in Debatten auf der Siegerseite zu stehen. Und ja, oft erkennt man sich und das eigene Denken in dem, was Orwell beschreibt, wieder, auch wenn uns viele der Beispiele Orwells heute fremd sind: Die Beschreibung der geistigen Lähmung, die von identitären Debatten und der ihnen auf den Fuß folgenden Polarisierung ausgeht, machen das Buch so aktuell, als sei es gestern geschrieben worden. Und natürlich nimmt sich Orwell nicht aus, wenn er nach der Beschreibung von Fanatikern der unterschiedlichsten Couleur schreibt: „Wir erliegen jedoch einer Selbsttäuschung, wenn wir nicht erkennen, dass wir alle ihnen in unbedachten Momenten ähneln. Es muss nur ein bestimmter Ton getroffen oder an einen sensiblen Punkt gerührt werden – einen Punkt vielleicht sogar, von dessen Existenz man selbst bislang nichts wusste –, und die unvoreingenommenste und sanftmütigste Person verwandelt sich mit einem Mal in einen brutalen Parteigänger, der unbedingt gegenüber seinem Widersacher »punkten« will und dem es egal ist, wie viele Lügen er erzählt und wie vielen logischen Irrtümern er dabei aufsitzt.“

Intellektuelle hält Orwell für besonders anfällig, sich für den Nationalismus zu begeistern, die Wirklichkeit unter einer Idee zu stellen, die sogar zur Verschwörungstheorie ausufern kann. Gegen Ende des zweiten Weltkriegs schreibt er „Ich habe beispielweise gehört, wie jemand voller Überzeugung behauptete, die amerikanischen Truppen seien nicht nach Europa verlegt worden, um gegen Deutschland zu kämpfen, sondern um eine englische Revolution niederzuschlagen. Man muss der Intelligenzia angehören, um solche Dinge zu glauben: Kein normaler Mensch könnte so dämlich sein.“

Orwell sieht allerdings auch eine Ausweg, der aber ist ebenso lohnen wie anstregend:

„Was die nationalistischen Liebes- und Hassgefühle angeht, von denen ich gesprochen habe, so gehören sie bei den meisten von uns zur Grundausstattung, ob wir wollen oder nicht. Ob man sie loswerden kann, weiß ich nicht, aber ich glaube, dass es möglich ist, sie zu bekämpfen, und dass das in erster Linie eine moralische Anstrengung ist.“

 

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