letzte Woche / diese Woche (kw17)

Liebe iPhone-Mitläufer,

es war Demo-Woche. Gegen Energieriesen, gegen die Rüstungsindustrie. Für ein Recht auf Zukunft vielleicht, womöglich für ein Leben ohne Konsumterror. Bei solchen Veranstaltungen sind dann viele Fahnen zu sehen, meist von deutschen Parteiorganisationen, aber auch ein Tangoverein zum Beispiel hätte sicherlich mitmachen können – hat er aber nicht, wie die meisten. Im Internet wiederum bekennen sich hin und wieder mal Leute zu diesem und jenem, aber das meist anonym. Auf der Straße hingegen: Nahezu Fehlanzeige. Sind letztlich doch alle Geiseln des Systems und wird der Widerspruch nur demonstriert, aber nicht gelebt? Hätten die Menschen mehr Zeit, wäre es dann anders? Müsste es Freibier geben? Mehr zum Anclicken?

Die Rebellenpose ist schon seit langem nur noch okay, wenn sie ausschließlich als sexy gemeint ist und am besten auch noch zu Macht führt. Deshalb sind seit langem bestehende, offenkundig falsche Verhältnisse so unangenehm und werden symbolisch bestraft, aber eben nicht abgewählt oder so etwas. Denn coole Rebellen scheitern ungern, also gibt es das Problem nicht – oder sie werden so ins beständige Scheitern gepresst, dass sie echt schlecht aussehen, auf Demos zum Beispiel, denn diese Art Menschen ist wenigstens noch dabei. Wer Gewinnertyp sein möchte und das vor allem bleiben will, stänkert nur, setzt aber real immer auf die sicheren Pferde – oder macht aus allem so etwas wie Funpunk und Demosport. Gewinnertypen können natürlich auch coole Konsumismus-Modernisierer sein, die von links nach rechts gehend zuerst Orte, Staaten oder Menschen(gruppen) destabilisieren, damit dann bestimmte Abhängigkeiten von bestimmten „Stabilisatoren“ entstehen, die im Grunde natürlich das klassische Opium fürs Volk sind. Aber das bringt dann Wachstum und deshalb muss es von diesen Waren halt immer neue geben. Wie sagte gestern eine Nachbarin von mir: „Du kennst mich doch! Anders interessiert mich nicht. Neu muss es sein!“

Dabei gibt es klare Forderungen: „Bundeswehr raus aus den Schulen!“ zum Beispiel. Liebe Kinder, für Erwachsene sieht das in Essen so aus: Ihr geht von der Uni aus in Richtung Einkaufsstadt. Da seht Ihr dann rechts den Weg, der zu ThyssenKrupp führt und direkt daneben die Rotlichtstraße. Wenn Ihr dann dazwischen neben dem Parkhaus durch die Büsche springt, kommt Ihr zu einer Straße, an der das Rekrutierungsbüro der Bundeswehr liegt, genau auf der Rückseite der Agentur für Arbeit. Dann doch lieber von der Uni direkt in die Einkaufsstadt und zu all den Firmen, wo Ihr gesittet arbeiten könnt, oder? Wer gar nicht erst zur Universität gehen wird und diese Stadtarchitektur nicht zu sehen bekommt, wird natürlich schon in der Schule mit der Möglichkeit vertraut gemacht, ja auch an die Front gehen zu können. Das ermöglicht dann doch den Weg ins Rotlichtviertel, aber als Kunde, und ebenso auch den zu all den tollen Waren in den glitzernden Kaufhäusern. Nicht für den Konsum arbeiten geht nicht, entweder macht Ihr das hier oder halt mit der Waffe in der Hand in anderen Ländern. Damit die auch so werden. Das, liebe Kinder, will Euch diese Stadt erzählen.

„Kein Land darf Testgebiet für Waffen sein!“ Und natürlich auch kein Testgebiet für Drogen aller Art, inklusive technischer Neuerungen. Bitte die Reihenfolge beachten: Erst kam Facebook, dann die Drohnen. Später Konsumgüter. Anfixen, warten lassen, Überlegenheit demonstrieren, warten lassen. Substitute und Lifestyle rankarren. Warten lassen. Nächste Generation im Anmarsch? Härteren Stoff rankarren. Permanent nur warten lassen. Oder wie ein Bekannter sagte, dem ich eine Mischung aus Junkie- und Co-Abhängigen-Logik vorwarf: „Ey, wir leben nunmal in einer Drogengesellschaft!“ Klang exportfähig. Ich jedenfalls kann in viele Läden in Essen derzeit nicht gehen, weil ich mich nicht einem oder zwei gewissen Drogengebahren anpassen mag. Mangelnde Ignoranzkompetenz bestimmt.

„Möglichst schneller Atomausstieg und Ächtung von Nuklearwaffen!“ Dass seit einiger Zeit manche Menschen ihre Zeitgenossen als Freiwild betrachten, mit denen alles gemacht werden darf, weil diese ja – zumindest ab einem gewissen Alter – aber auch alles immer ganz freiwillig tun, daran scheint sich die jüngste Generation schon fast gewöhnt zu haben. Aber der Spielplatz kennt anscheinend keine Grenzen. Denn auch die Zukunft wird von manchen einfach immer weiter eingeschränkt, Prozesse angestoßen, die dann später mal jemand anders klären soll oder auch nicht. Mehr Laissez-faire-Darwinismus geht kaum, außer bei der Gentechnologie und PID vielleicht noch. Im „Kleinen“ werden ebenso kaltschnäuzig Diktatoren installiert, die spätere Politgenerationen dann beseitigen müssen. Als würden die Väter sagen: „Jungens, ich hab Euch da mal ein bisschen was ins Nest gelegt. Ihr werdet sehen, Ihr müsst Euch auch die Finger schmutzig machen.“ In Atommüll gedacht: „Ach, schießen wir Erdlinge das irgendwann halt auf den Mars, ich seh da seit Jahren nicht, dass da jemand ist.“

Man könnte sich also ganz schön schämen als Erdling. Ach was, besser davon ausgehen, dass der Mensch schon immer so war und überall so ist. Und wer nicht so ist, ist halt krank oder so, ne? Auf gar keinen Fall darf jemand anders sein! Und wenn doch: Sofort infiltrieren, kolonialisieren, gar nicht einmal töten, besser: herabwürdigen. Niemand lache unserer Unkultur ins Gesicht! Alle müssen so sein wie wir, oder Diener, Zulieferer, Neger halt. Dirnen vielleicht noch. Aber es gibt keine andere Würde, erst recht keine höhere als die unsere! Wer das behauptet, widerspricht der Geschichte, der Evolution, der zu uns führenden Vergangenheit und der sich immer wieder selbst bestätigenden Gegenwart. Und die Zukunft belasten wir auch mit unserem Müll, auf dass diese unsere Lebensart federführend bleibt in Ewigkeit. So sieht’s aus, Neger! Jetzt vielleicht das Goldkettchen, den heißen Schlitten, das Crack und die angespitzte Schickse da vorne? Und alle so: Jau, da mag ich mich dann gleich viel besser leiden! And the colored girls go: “Frohes Fest!”

Logo: Friedensbündnis-ka.de
Fotos (feat. ua. die 13th Floor Elevators): Jens Kobler

Was das Ruhrgebiet von Woody Allen lernen könnte

Die Kultur des Trotzdem.

Als ich in der Kultstadt Wanne-Eickel, mitten im tiefsten Ruhrgebiet, in den 60gern das einzige Gymnasium für mehr als 100.000 Menschen besuchte, wurde mir im Geografieunterricht mein Heimatort als „Stadt der 1000 Züge“ präsentiert. Ich war tief beeindruckt, denn es sollten 1000 pro Tag gewesen sein. Mindestens ein ganzer Zug alle 1,5 Minuten und das 24 Stunden lang.

Dass es nicht weniger als der Anzahl von sage und schreibe 3000 Menschen bedurfte nur um den  Bahnhof meiner Stadt in Gang zu halten, war da nicht verwunderlich. Das Problem war nur, dass das keinen interessierte, der nicht in unserer Stadt lebte. Den Grund begriff ich, als ich auf Nachfragen erfuhr, dass sich der allergrößte Teil dieser Züge aus Güterwagen zusammensetzte die mit nichts als Kohle gefüllt waren.

Später hörte ich, dass den Schülern der Nachbargemeinde Gelsenkirchen ihre Heimat als die „Stadt der 1000 Feuer“ vorgestellt wurde, die im harten chemischen Kern aber nichts anderes als ihre 10 Mal Hundertfache Vergiftung bedeuteten. Mein Vater kommentierte solche Zahlen mit dem damals wie heute typischen Ruhrgebietshumor: Wer es hier schafft zu überleben, der schafft es überall. Welch herrlich böse Anspielung auf die Stadt, die schon zu seiner Jugendzeit  weltweit und unbestritten als das galt, was seine und meine Heimat heute endlich auch sein möchte: eine Metropole.

Seine Worte wurde in den frühen Achtzigern auch wissenschaftlich verifiziert, als der erste deutsche Krebsatlas veröffentlich wurde. Die diesbezügliche Sterblichkeitsrate war zu dieser Zeit im Ruhrgebiet über das Doppelte so hoch als der Spitzenwert in allen anderen Gegenden Deutschlands und viel größer als in allen anderen ähnlich großen Ballungsräumen Europas. Zu der Zeit als mein Vater  seinen ersten Metropolenvergleich wagte,  war die relative Sterblichkeit  sicher noch viel bedrohlicher. Was blieb den Menschen im Ruhrgebiet da Anderes übrig als diese Kultur des Trotzdem, die Kultur der großen Zahl, das Ausspielen der Quantität gegenüber der Qualität.

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Der Ruhrpilot

Dortmund: BVB-Meisterfeier wird vertagt…Ruhr Nachrichten

NRW: Land gegen PKW-Maut…RP Online

Ostermarsch: Frieden in Flaschen…Achse des Guten

Wunderforschung: Die Produktion von Heiligen läuft auf Hochtouren…FAZ

Bochum: Propst will Kirche zum Altenheim umbauen…Der Westen

Dortmund II: DEW startet Angriff in fremden Revieren…Der Westen

Essen: Gabi Dauenhauer geht ohne Scheu bis ins Extrem…Der Westen

Duisburg: Werke von Tony Cragg als Geschenk für Lehmbruck-Museum…Der Westen

Essay: Die nackte Existenz der Reichen…FAZ

Ilja Richter: „Wer am Ziel ist, ist naturgemäß am Ende angelangt“

© DERDEHMEL © DERDEHMEL

Ilja Richter wurde 1952 in Berlin geboren. Schon als Kind wirkte er in Hörspielen und Filmen mit. 1971 startete die ZDF-Musiksendung »Disco«, die Richter als Moderator bundesweit populär machte. Nach dem Ende von »Disco« 1982 wechselte Ilja Richter zum Theater und reüssierte als Schauspieler und Regisseur. Daneben schrieb er Kolumnen für die taz und veröffentlichte mehrere Bücher. Die »Disco« Revival-Tour, unter anderem mit »Middle of the Road« und Chris Andrews, startet am 5. Mai in München und führt bis 28. Mai durch 17 deutsche Städte. Zeit für ein Gespräch mit dem Entertainer über die »Disco«-Jubiläumstour, sein »5-Minuten-Judentum« und Heino.

Herr Richter, Ihre Sendung »Disco« startete vor 40 Jahren im ZDF und war elf Jahre lang Kult. Nervt es Sie, wenn man Sie nach so langer Zeit immer noch auf die Show anspricht?

Nur die Frage der Journalisten, ob es mich nervt, nervt. Dass die Menschen mich auf der Straße nach wie vor auf »Disco« ansprechen, finde ich wunderbar.

Sie gehen im Mai samt Stars und Bands der 70er-Jahre auf große Jubiläumstour. Worauf darf man sich freuen?

Auf eine großartige Familienshow mit einem bestens gelaunten Moderator und ausgewählten Klassikern der vergangenen Jahrzehnte.

»Licht aus – whomm! Spot an – jaaa!« Wird man auch wieder ihren legendären Slogan hören?

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Kreativwirtschaft und Metropolensimulation

Metropolen zeichnen sich dadurch aus, dass sie globale Trends setzen. Andere Städte und Regionen folgen ihnen mit zeitlichem Abstand. Die Kreativwirtschaft war so ein Trend. Und das Ruhrgebiet folgte ihm. Eigene Akzente setzt man anders.

Auf fast jeder Pressekonferenz der Ruhr2010 GmbH zum Thema Kreativwirtschaft taucht diese eine Folie immer ganz kurz auf: Drei Linien sind auf ihr zu sehen, und alle weisen sie nach oben. Sie zeigen das Wachstum der Kreativwirtschaft in Köln, Düsseldorf und dem Ruhrgebiet und sie dienen als Beleg für das wirtschaftliche Potential dieser Branche. Trotzdem mochte keiner auf dem Podium, dass man sie sich allzu lange anschaute. Denn die Linie mit dem deutlich geringsten Wachstum dieser fabulösen Branche ist die des Ruhrgebiets. Und da die Kreativwirtschaft im Ruhrgebiet trotz der ungeheuren Größe der Region mit fünf Millionen Einwohnern noch hinter vergleichsweise kleinen Orten wie Köln und Düsseldorf zurückliegt, ist sie alles andere als ein Beleg der Stärke. Sie zeigt, was niemand der Verantwortlichen der Ruhr2010 GmbH gerne hören will: Die Kreativwirtschaft hat keine Chance eine bedeutende Grundlage eines wirtschaftlichen Wachstums des Ruhrgebiets zu werden.

Das heißt nicht, dass es keine Kreativwirtschaft im Ruhrgebiet gibt. Es gibt sie, Tausende arbeiten in dieser Branche. Verlage, Werbeagenturen, Galerien, Designer, Programmierer – sie alle sind Teil eines Branchenmixes, den jede Stadt und jede Region vorzuweisen hat. Überall gibt es  – neben der Kreativwirtschaft – auch zahlreiche Beschäftigte in der Finanzwirtschaft. Sie arbeiten bei Banken und Sparkassen. Verkaufen Versicherungen und Bausparverträge. Und irgendwo findet sich immer jemand, der einem einen Fond verkaufen will. Oder im Außenhandel. In der Logistik. In der Medizin. Doch bei kaum einer Branche ist die Verführung so hoch, sie zur entscheidenden Zukunftsbranche zu machen wie in der Kreativwirtschaft. Dafür gibt es einen Schuldigen, und der heißt Richard Florida.

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Der Ruhrpilot

Tilo Sarrazin

Sarrazin: Schmeisst den Spinner raus…Lummaland

Sarrazin II: Sarrazins Vorstoß endet in peinlichen Halbschwüren…Welt

Volkszählung: Wer sind wir, und wenn ja, wie viele?…RP Online

NRW: SPD und Grüne „machen Radikale salonfähig“…Welt

NRW II: Beamte fliegen Streife wegen Waldbrandgefahr…RP Online

Ostermärsche: Frieden in Flaschen…Achse des Guten

Energie: Vorweggehen oder Weggehen?…Bundesstadt

Dortmund: Borussia Dortmund twittert offiziell…Pottblog

Dortmund II: 1200 Menschen gedenken der Opfer des Nazi-Regimes…Ruhr Nachrichten

Dortmund III: Die Langsamkeit im U-Turm macht auch Gründungsdirektor Broeckmann zu schaffen…Der Westen

Bochum: Das Aus der K.gallery in der Rottstr5…Ruhr Nachrichten

Bochum II: SPD Hamme bittet NRW-Umweltminister Remmel um Unterstützung…Der Westen

Essen: Italiener feiern Passionsspiel im Elisenpark…Der Westen

Reklame: Der kleine Darth Vader aus der VW Passat-Werbung ist nichts gegen den kleinen Thor und seinen Hammer…Pottblog

Architektur: Subervsive sowjetische Superstrukturen…Exportabel

Matte Wetter, Teens & Pop-Musik

Die Zeche übervoll / Foto: OH Napoleon

 

Nicht nur Chris Roberts weiß: Man kann nicht immer 17 sein. Aber man kann  sich wenigstens noch mal anschauen, wie das früher eigentlich so gewesen ist.  Dazu besucht man am besten ein Konzert von Boyce Avenue. Im Rahmen ihrer Europa-Tour legten diese nämlich gestern einen Zwischenstopp in der Zeche Bochum ein. Ein Erfahrungsbericht:

Boyce Avenue waren da und die Teens hin und weg. Das Konzert der Manzano-Brüder in der übervollen Zeche Bochum war restlos ausverkauft. Dank gut gemachter Coverversionen, die sie über YouTube, Myspace & Co. veröffentlichten, haben Boyce Avenue mit ihrem Akustik-Pop-Rock weltweite Bekanntheit erlangt.

Die Halle der Zeche war bis zum Bersten gefüllt. Wohin man auch blickte: 16- bis 18-Jährige Teens, Teens, Teens. Die Diskokugel drehte sich und die Kids schwitzten, was die Poren hergaben. Die Luftfeuchtigkeit erreichte schnell einen grenzwertigen Bereich und plötzlich glich die Zeche einer Sauna. Erstickend wirkende Luft mit verringertem Anteil an Sauerstoff: Matte Wetter, fast wie bei der Arbeit unter Tage. Die ausliegenden Flyer wurden kurzerhand zu Fächern umfunktioniert, um dem angeschlagenen Kreislauf ein bisschen Entlastung zu verschaffen.

Ausverkauft und volles Haus

Die Support Band OH Napoleon macht Indie-Pop, musiziert eigentlich zu fünft, kam an diesem Abend jedoch als Trio. Sie spielten vor einem mindestens 800-Leute-starken Publikum, von dem sie begeistert empfangen wurden. Inhaltlich wurde in ihren Texten nicht allzu viel verhandelt. Man könnte sogar behaupten, sie hätten in ihren Songs nicht wirklich viel zu sagen. Aber was heißt das schon? Manchmal bewegten sich die Texte

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