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Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein, heißt es bei Nietzsche. Stimmt das überhaupt? Im Ruhrbarone-Interview spricht Josef Wilfling, langjähriger Leiter der Münchner Mordkommission, über menschliche Abgründe, die Beziehung zwischen Täter und Ermittler und über die Frage, ob er selbst zum Mörder werden könnte.
Herr Wilfling, als Mordermittler der Kriminalpolizei München wurden Sie über 20 Jahre lang tagtäglich mit den Abgründen der menschlichen Natur konfrontiert. Hat sich Ihr Menschenbild dadurch verändert?
Das bleibt nicht aus, wenn einem immer wieder vor Augen geführt wird, was Menschen anderen Menschen antun können. Nach und nach habe ich die nüchterne Einsicht gewonnen, dass wir Böse und Gut zugleich sind. Wir alle tragen das Böse in uns, deshalb müssen wir es fortwährend bekämpfen. Es kommt darauf an, das uns innewohnende Vermögen zu lügen, zu betrügen oder gar zu ermorden in Zaum zu halten. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder von uns zum Mörder werden kann.
Gilt das auch für Sie?
Ich kann für mich ausschließen, dass ich einen Menschen aus Habgier oder aus Wollust ermorden würde. Ausschließen kann ich aber nicht, dass auch mich die Emotionen irgendwann einmal überwältigen könnten, wenn ich in die entsprechende Situation hineingeraten und bis aufs Blut gereizt werden würde. Erfahrungsgemäß bricht es schneller aus einem hervor als man gemeinhin annimmt.
Aus welchem Grund bricht „es“ aus manchen von uns hervor?
Ein Beispiel: Der brave Ehemann kommt nach Hause, ertappt seine Frau mit einem anderen und wird dann auch noch von beiden beschimpft – schon ist es geschehen. Er wird zum Täter und sitzt am nächsten Tag bei der Mordkommission zum Verhör.
Was ist das häufigste Mordmotiv?
Habgier. Danach kommen die niedrigen Beweggründe, also alles, was uns an Emotionen in die Wiege gelegt wurde: Eifersucht, Hass, Rache. All das kann uns von heute auf morgen zum Täter werden lassen.
In Fritz Langs legendären Film „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ sagt der Mordermittler in Bezug auf sein Klientel…
… „Ich erkenne meine Schweine am Gang.“ Ich schätze den Film sehr, nur: 99 Prozent der Täter, mit denen ich zu tun hatte, waren Menschen wie du und ich. Den Mörder gibt es nicht. Das Böse geht durch alle Schichten. Egal ob intelligent oder dumm, dick oder dünn, reich oder arm – es kann jeden treffen, weil alle Menschen von Emotionen gesteuert werden. Das Böse ist in den meisten Fällen immer auch ein Sieg der Gefühle über den Verstand.
Die Erkenntnisse der Hirnforschung legen den Schluss nahe, dass es keine Schuld geben kann, da alles, so auch das Böse, gehirnphysiologisch determiniert ist. Demnach wäre es dem Menschen nicht möglich, Herr seiner Gefühle zu sein.
Man kann das Individuum nicht von seiner Pflicht verantwortlich zu handeln entbinden. Es wäre schlimm, wenn irgendwelche neurobiologische Vorgänge in irgendwelchen Hirnwindungen darüber bestimmen würden, ob wir zum Mörder werden oder nicht.
Was also nicht sein darf, kann auch nicht sein?
Nein, der Mensch hat einen freien Willen, er kann sich entscheiden! Dieser von Gott – oder der Natur – gegebene freie Wille versetzt uns in die Lage, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Es sei denn, man ist krank und kann infolgedessen diese Unterscheidung nicht treffen. Jeder Gesunde aber muss die Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Das Vermögen, unsere Gefühle zu beherrschen zeichnet uns aus. Es unterscheidet uns von Tieren.
„Es soll in unserer Galaxie hundert Milliarden solcher Sonnensysteme wie unseres geben und wiederum hundert Milliarden solcher Galaxien. Und das soll nur zehn Prozent des Universums ausmachen, dazwischen ist es leer und kalt. Wenn Sie sich das nur zwei Sekunden lang vorstellen, ist alles, was wir tun, völlig unbedeutend“, hat der Strafverteidiger und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach kürzlich in einem Interview gesagt. Warum sollten wir, inmitten dieses unvorstellbaren bedeutungslosen kosmischen Nichts, überhaupt irgendwelche Gesetze befolgen?
Weil es uns sonst gar nicht gäbe! Der Kosmos mag noch so gewaltig sein, wenn wir nicht unsere Gesetze befolgen würden, hätten wir uns schon längst umgebracht und ausgelöscht. Außerdem ist es unsere verdammte Pflicht, in dieser Welt, in der es offenkundig alles andere als gerecht zugeht, nicht auch noch Leid hinzuzufügen. Die Notwendigkeit für Recht und Gesetz ergibt sich aus den scheußlichen Morden, die ich aufzuklären hatte. Der nur schwer zu ertragende Anblick von grausam hingerichteten Menschen ist Grund genug, dass wir stets nach der goldenen Regel handeln sollten.
Haben Sie eine Erklärung dafür, aus welchem Grund so viele ansonsten durch und durch friedlich Bürger geradezu süchtig sind nach blutrünstigen Krimis und Thrillers?
Vielleicht stellt diese Vorliebe einen notwendigen Kontrapunkt zu unserem ansonsten eher langweiligen demokratischen Alltag dar. Für viele ist es ein schaurig-schönes Gefühl in Abgründe hineinzuschauen, ohne selbst davon betroffen zu sein. Dabei spielt sicherlich Neugier eine große Rolle. Wenn der Leser aber nur einmal an einem echten Tatort mit echten Leichen stehen würde – von der Faszination würde nichts mehr übrig bleiben. Dass einzige, was man dann spürt ist Fassungslosigkeit, Mitleid mit den Opfern und nicht zuletzt auch Wut auf den Täter.
In Ihrem Buch „Abgründe“ beschreiben Sie, dass die Beziehung zwischen Täter und Mordermittler in der Verhörsituation außerordentlich komplex ist. Sie beschreiben zum Beispiel, dass manche Täter nur deshalb gestehen, um ihnen gewissermaßen ein Geschenk zu machen.
Es kommt durchaus vor, dass der Mordermittler aus der Sicht des Täters eine Art Vaterrolle einnimmt. Ein Serienmörder zum Beispiel hat mir nach Monaten des Verhörs seine Tat gestanden, um länger in meiner Gegenwart sein zu können. Die Chemie zwischen Täter und Ermittler muss stimmen. Dabei habe ich oftmals auch schauspielern müssen und mich dem jeweiligen Tätertypus angepasst. Für den Ermittlungserfolg ist das unverzichtbar.
Inwiefern?
Im Verhör mit einem Täter, der seinen Ehepartner übertötet hat, biete ich mich als Beichtinstanz an. Viele dieser Täter können mit ihrer Schuld nicht leben und werden früher oder später versuchen, sich ihre Tat von der Seele zu reden. In diesen Fällen muss ich emphatisch sein. Wenn ich aber einen eiskalten Mörder verhöre, muss ich mich anders verhalten. Bei diesem Typus kann zum Beispiel ich nicht an dessen Gewissen appellieren. Er hat nämlich keins.
Zum Abschluss noch eine Frage, die man sich nach der Lektüre Ihres Buches zwangsläufig stellt. Hatten Sie im Laufe Ihrer Karriere nie Angst, dass Ihnen ein Täter, den Sie überführt haben, nach seiner Freilassung auflauert?
Es gibt schon sehr gefährliche Täter, die ich hinter Schloss und Riegel gebracht habe und die mittlerweile ihre Strafe abgesessen haben. Ich verhehle nicht, dass ich denen lieber nicht alleine nachts im Park begegnen möchte. Aber die sind ja auch nicht dumm und wissen, dass man schnell auf sie als Täter kommen würde – falls sie den Angriff auf mich überhaupt überleben würden.