Für die Linkspartei wird es eng in NRW

Die Linkspartei in NRW ist von Neuwahlen nicht begeistert. Dafür hat sie gute Gründe.

Mit dem Regierungswechsel in Nordrhein-Westfalen begann 2005 der Aufstieg der Linkspartei. Gerade  noch pünktlich zur Neuwahl des Bundestages, die eine Reaktion auf die Niederlage der SPD in NRW war, fusionierten PDS und WASG – und zogen in den Bundestag ein. Seitdem konnte sich die Linkspartei im Westen etablieren. Mit Neuwahlen in NRW könnte nun der Abstieg der Linkspartei beginnen.

Bei zwei NRW-Umfragen seit Jahresbeginn, Forsa und Emnid, lag die Linkspartei unter fünf Prozent. Entsprechend gering ist der Wunsch nach Neuwahlen bei der Partei ausgeprägt. Hubertus  Zdebel, Landessprecher der Linkspartei:

Die Menschen in NRW haben ein starkes Parlament und eine schwache Regierung gewählt. Sie wollten keine ‚Basta Regierung’ aus zwei Parteien, sondern eine Konstellation, die eine gerechte Umverteilung für die Mehrheit der Menschen auf den Weg bringt!

Das klingt nach pfeifen im Wald. Und dafür haben Zdebel und seine Pareifreunde auch jeden Grund. Im Landtag wird die Partei mit Wolfgang Zimmermann und Bärbel Beuermann von zwei an Blässe kaum zu überbietenden Politikern vertreten. Erfolge haben sie kaum vorzuweisen, dafür Peinlichkeiten wie die versehentliche Zustimmung zum rot-grünen Nachtragshaushalt. Starke Opposition sieht anders aus.

Und die derzeitige Bundesspitze der Linkspartei gleicht das nicht aus.

An der Basis der Partei ist die Stimmung nicht viel besser. Es rumort in vielen Kreisverbänden. In zum Beispiel Herne hat sich die Fraktion gespalten. In Gelsenkirchen sind die Ratsmitglieder sogar geschlossen aus der Partei ausgetreten. Ein attraktives Angebot an die Wähler sieht anders aus. Und da Grüne und SPD in NRW nach links gerückt sind und Hannelore Kraft an Beliebtheit gewonnen hat, wird es eng für die Linkspartei.

Ein Scheitern bei Neuwahlen in NRW könnte ein herber Rückschlag für die Linkspartei bundesweit werden. Und zu einem Richtungs- und Personalstreit führen, der für die SED-Nachfolgepartei im Westen existentiell werden kann.

Libyen im Bürgerkrieg: die Soldateska des Mörders und die geheimnisvollen „Freiheitskämpfer“

Es war wie ein Weckruf; urplötzlich schien mir alles klar. Caren Miosga hat es gesagt. Das Zauberwort „Freiheitskämpfer“. Es war spät geworden in der ARD; der Mainzer Karneval verschob die Tagesthemen bis nach Mitternacht. Ich war schon ein wenig schläfrig. Zack, da war ich wieder hellwach. „Freiheitskämpfer“ hatte sie gesagt, die Caren Miosga.

Das kannte ich noch nicht. Sie benutzte das Zauberwort für die libysche Opposition. „Rebellen“ oder schlicht „das Volk“, okay. Aber „Freiheitskämpfer“, das Wort war neu. Für Libyen. Ansonsten kannte ich das Wort selbstverständlich. „Freiheitskämpfer“ – so hießen die Mudjahedin in Afghanistan dereinst, bevor die USA damit begonnen hatten, die Taliban zur schlagkräftigsten Truppe gegen die Sowjets aufzubauen.

Nichts gegen Caren Miosga. Sie ist eine gute Journalistin, an deren freiheitlicher Gesinnung keinerlei Zweifel bestehen. Sie sympathisiert mit dem libyschen Widerstand – wie fast jeder hierzulande, wie auch Kollegen von den Ruhrbaronen. Aber „Freiheitskämpfer“, das war dann doch eine respektable Eigenleistung. Für welche Freiheit mögen die libyschen Rebellen wohl stehen? Für die persönlichen Freiheitsrechte (Art. 2 GG)? Für die Religionsfreiheit (Art. 4 GG) oder die Meinungsfreiheit (Art. 5 GG)? Freiheitskämpfer kämpfen vermutlich für all diese Freiheiten.

Das Guttenberg-Syndrom – die Suche nach einer  Projektionsfläche für das Gute, das Schöne und das Edle. Hohn und Spott für die Landsleute, die in dem Lügenbaron aus dem Frankenland den Erlöser und Heilsbringer sehen, den Verkünder des Wahren und des Guten. Den Mann, dem man vertrauen kann. Was den Lesern der Regenbogenpresse und der Bildzeitung der schnieke Märchenprinz ist, sind den aufgeklärten Intellektuellen todesmutige Guerillakämpfer, die gegen den Despoten antreten. Die große Sehnsucht nach dem Wahren und dem Guten macht unsensibel für Details. Liebe macht blind. Aus libyschen Stammeskriegern werden Freiheitskämpfer.

Die Rebellen haben britische Journalisten verschleppt? Na und, Gaddafi hält schließlich Niederländer fest. Die Schwarzafrikaner in den „befreiten“ Gebieten werden zu Opfern rassistischer Verfolgung? Na klar, das ist aber Gaddafi schuld, schließlich hat der ja Söldner aus afrikanischen Ländern angeheuert. So genau können unter diesen Umständen selbst Freiheitskämpfer nicht differenzieren. Alles Randnotizen; das Entscheidende: der Diktator schießt auf das eigene Volk. Mehr muss nicht gesagt werden, auch jetzt nicht, wo sich der Begriff „Bürgerkrieg“ für das Gemetzel in Libyen längst etabliert hat.

Die „Freiheitskämpfer“ sind in der Lage, Städte einzunehmen und zurückzuerobern, Panzerangriffe zurückzuschlagen. Großer Jubel. Und was macht der Diktator? Schießt nach wie vor auf das eigene Volk. Scheiß auf die Fußnoten! Wir müssen unterscheiden zwischen dem, was in der Wissenschaft gilt, und dem, was in der Verteidigungspolitik getan werden muss. An die Arbeit! Es ist reichlich zu tun. Die Bestellliste der „Freiheitskämpfer“ liegt auf dem Tisch. Der libysche Nationalrat, der eigentlich noch nicht so recht anerkannt ist, hat umständehalber schon einmal beschlossen: eine Flugverbotszone ist einzurichten, ein Eingreifen ausländischer Truppen auf libyschem Boden wird hingegen strikt abgelehnt, außerdem werden Funkgeräte und Mobiltelefone dringend benötigt. Also hopp!

Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit. Auch in diesem „Krieg, in dem es keine Gnade gibt für Verlierer“, so ein zur Opposition übergelaufener Ex-Offizier in Libyen, der seine fünf Söhne gegen die Gaddafi-Truppen aufzubieten hat. Unterdessen verschärft Gaddafi seine Propaganda. Die Rebellen seien im Grunde durchweg von Al Qaida gesteuert. Das ist entweder Unfug, zumindest aber übertrieben. Wer weiß schon Genaueres?! Klar ist aber, dass auch Al Qaida den bewaffneten Kampf gegen das Gaddafi-Regime organisiert, und dass der Terminus „Freiheitskämpfer“ ein Euphemismus derer ist, deren politische Sehnsüchte Guttenberg nicht stillen konnte.

Wir sehen im Fernsehen junge Männer, die bereit sind, als Märtyrer zu sterben. „Allahu Akbar“ rufen sie stolz in die Kamera und ballern mit ihren MGs in die Luft. Das besagt nicht viel, eigentlich gar nichts. In Tunesien haben Beschwerden über die mangelnden Zukunftsperspektiven der akademischen Jugend die „Jasminrevolution“ ausgelöst. Haben Sie dergleichen schon einmal aus Libyen vernehmen können? In Ägypten war klar, dass es um Freiheit ging. Selbst Muslimbrüder im typischen Outfit erklärten, Religion solle keine Rolle spielen, es gehe ausschließlich um ein freies Land. Schon mal aus Libyen gehört? In Tunesien wie in Ägypten haben wir emanzipationswillige Frauen mit ihren männlichen Laptop-Kommilitonen gesehen, die einfach nur „normal leben“ wollten. Solche Bilder gibt es aus Libyen nicht, obwohl doch Bengasi und viele andere Städte „befreit“ sind. Wie kommt´s nur?

Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist in Libyen deutlich höher als in den meisten Balkanländern, höher als in den EU-Staaten Rumänien und Bulgarien. Gewiss, der Gaddafi-Clan bestiehlt das Volk. Doch einmal ganz abgesehen davon, dass auch Rumänien und Bulgarien noch nicht völlig korruptionsfrei sind, nochmal die Frage: haben Sie schon einmal Beschwerden über mangelnde Zukunftsperspektiven aus Libyen gehört? Wie oft haben Sie aus dem Mund der „Freiheitskämpfer“ das Wort „Demokratie“ gehört? Oder gar „Freiheit“.

Keine Frage: Gaddafi muss weg. Der ganze Clan und das ganze System sind am Ende, und zwar zu Recht. Und doch zwingt uns niemand, in diesen Bürgerkrieg militärisch einzugreifen. Schon für die Rebellen Partei zu ergreifen, fällt schwer, solange wir nicht sicher sind, ob Mädchen auch unter ihrer Herrschaft noch werden zur Schule gehen dürfen. Solange wir nicht sicher sind, dass die Menschenrechte bei ihnen ein wenig besser aufgehoben sind als bei dem durchgeknallten Langzeitdiktator, der einen ebenso rücksichts- wie aussichtslosen Kampf um sein politisches Überleben führt.

Wem es mit den Menschenrechten ernst ist, sollte sich auf die humanitäre Hilfe vor Ort und auf die Unterstützung der Flüchtlinge in Europa konzentrieren. Die Ereignisse in Libyen sind zu furchtbar für revolutionsromantische Anwandlungen.

Der Ruhrpilot

NRW: Neuwahlen – ein strategischer Schuss ins SPD-Knie?…Der Westen

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Umwelt: E10 – der nächste Schildbürgerstreich der Regierung…Welt

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Internet II: Internet macht einsam?! Von wegen…Zweipunktnull

Trauer: Sabrinaa ist fort…Kueperpunk

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„Mich mangeln die Wörter“ (2) – Heute: „Werte demonstrieren“

Self- oder Ego-Marketing heißt sie, die systematische Vermarktung des „Produktes Ich“. Natürlich setzt Selbstvermarktung voraus, dass da überhaupt erst einmal ein Ich existiert, das es zu verkaufen lohnt, was naturgemäß selten der Fall ist.
Herz, Geist, Seele: Fehlanzeige? Mitgefühl: abhanden gekommen? Was soll’s, muss man alles nicht haben, kann man heute auch nur „demonstrieren“.
Wo keine Haltung sich entwickeln durfte, da übt sich der Poser als Charakterchamäleon. Copy & pose. „Jedes Ei hat etwas, das andere Eier nicht haben. Du musst es nur entdecken“ (Reinhard Siemes, Werbepapst). Verraten bin ich also und verkauft, falls ich mich nicht beizeiten selbst verkaufe.

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Die cineastische Klangwelt des René Aubry – am 10.3. auf Zollverein

René Aubry gehört nicht zu den Künstlern, die zu den gefragten Namen im Tournee- und Festivalzirkus zählen. Und da kommt das Anliegen der Konzertreihe in der Zeche Zollverein ins Spiel, eben solche Künstler, die unbeirrt vom großen Hype ihr Ding machen, zu präsentieren. Am Donnerstag, den 10.3. gibt es eines der seltenen Gastspiele dieses introvertierten Musikers aus Frankreich, der nur zu gerne – vor allem als Filmmusik- und Tanztheater-Komponist im Verborgenen waltet.

Der erste Höreindruck von Aubrys in Kürze neu erscheinende CD „Refuges“ (Bezug in Deutschland über NRW-Vertrieb, www.mv-nrw.de) macht auf ganz unspektakuläre Weise neugierig:  Schön, ist diese Musik, sanft und sphärisch. Dass man sich einfühlt, fordern diese Stücke nicht aggressiv ein, sondern laden dazu mit viel freundlicher Wärme ein. Neue Ebenen tun sich für den auf, der sich einlässt. Und da ist genug Intensität, um ein visuelles Geschehen auf einer Leinwand oder einem Bildschirm fast schon überflüssig zu machen. Denn genug Bilder im Kopf stellen sich ein, breiten sich vielfältige emotionale Kräftefelder aus…

Aubry lieferte viel musikalisches Material für die Choreographien von Carolyn Carlson und Pina Bausch, die selbst nur zu gern auf Aubrys Werke zurück griff. Ein Stück aus dem Vorgängeralbum untermalt eine jener legendären Choreographien, die im gerade angelaufenen Wim Wenders Film über die unsterbliche Tanztheater-Ikone zu erleben sind.

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NRW: St. Hannelore will Neuwahlen

SPD und Grüne schrecken vor Neuwahlen nicht mehr zurück. Sie wollen stabile Mehrheiten für ihre Politik und die Legitimation durch den Wähler  für den dauerhaften Bruch der Verfassung. Und ganz nebenbei könnten bei einer solchen Wahl  Linkspartei und FDP aus dem Landtag fliegen. Das Ganze ist also auch machtpolitisch attraktiv.

Die rot-grüne Landesregierung hat Visionen und anstatt zum Arzt zu gehen, zieht es sie zu den Wählern. Die sollen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und ihrem Kabinett erlauben, eine Schuldenpolitik zu machen, die nicht durch die Landesverfassung gedeckt ist. Und wenn man schon dabei ist, soll der Wähler auch den kompletten Umbau der nordrhein-westfälischen Wirtschaft abnicken. Umweltminister Johannes Remmel will die gesamte Politik des Landes dem Primat des Klimawandels unterordnen.

Diese Politik, so Kraft und Remmel, soll auf  die Dauer rentierlich sein und innerhalb weniger Jahrzehnte eine Menge Geld einsparen: Investitionen in die Bildung und Kinderbetreuung, wie Kraft sie fordert, sollen irgendwann einmal dafür sorgen, dass die Sozialausgaben sinken. Auch die dem Klimawandel geschuldeten Umbaukosten sollen sich irgendwann einmal rechnen: Dann nämlich, wenn das Zeitalter von Kohle und Öl vorbei ist und die Unternehmen aus NRW im globalen Wettbewerb dank des väterlichen Drucks der Landesregierung gut dastehen.

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Der Ruhrpilot

NRW: Land steuert auf Neuwahlen zu…FTD

NRW II: SPD droht mit Neuwahlen…Welt

NRW III: Grüne streiten um Neuwahlen…RP Online

NRW IV: Neuwahlen wären ein fragwürdiges SPD-Manöver…Der Westen

NRW V: Schneider wirft Friedrich Stimmungsmache gegen Migranten vor…EPD

NRW VI: Streit um Klimaschutzgesetz…WDR

Ruhrgebiet: Gas-Schatz für das Stadtwerke-Konsortium…Ruhr Nachrichten

Ruhrgebiet II: Wo Jecken im Revier um die Häuser ziehen…Der Westen

Duisburg: Politiker reden über den demographischen Wandel…Der Westen

Essen: Stadt prüft Klage gegen Feuerwehr-Ausrüster…Der Westen

Dortmund: Eine Rabenschwarze Nacht…FZW

Bochum: Mummenschanz im Kunstmuseum…Ruhr Nachrichten

Umland: Exxon lässt Erdgasbohrung im Münsterland nach Protesten unabhängig überwachen…Der Westen

Umland II: SPD, Piraten und Berlin…Rot steht uns gut

Umland III: Helge Schneider macht Karneval…FAZ

Umland IV: Rochaden auf dem Markt der Reklamezeitungen…Zoom

Literatur: Lesung in Moers…Isis

Guttenberg: Kens verschleppter Rücktritt…FAZ

Guttenberg II: Merkels Reaktion (bei Cebit) auf zu Guttenbergs Rücktritt…Netzpolitik

Rechte: „Islamkritiker sind oft mit Rechtsextremen verbandelt“…Spiegel

Arabien: Wie Linke Gaddafi nachweinen…Jungle World

Arabien II: Besondere Hilfe für arabische Demokraten…Kaffee bei mir?

Internet: Zum Sterben der Blogs…Weissgarnix

Wir sind mehr als Religionsanhänger

Christuskirchen Foto: Ayla Wessel/Kulturagentür

Die neueste Ausgabe der Leitkulturdebatte reduziert die Menschen wieder auf ihren religiösen Hintergrund. Kirchen, Islamverbände und Kulturkonservative dürfen sich freuen.

Ach, die letzten Jahrzehnte liefen nicht gut für die Vertreter der unterschiedlichsten Glaubensrichtungen in Europa. Im Zweifelsfall blieben die Meisten lieber am Sonntag länger im Bett liegen, als in die Kirche zu gehen. Und viele wissen von ihren Freunde gar nicht mehr, zu welcher Konfession sie gehören. Oder ob sie überhaupt noch in einer Kirche sind.

Wie gut, dass es seit ein paar Jahren immer mal wieder eine Leitkulturdebatte gibt: Ist Europa christlich-jüdisch geprägt oder auch islamisch? Keine Frage: Als Europa noch ein verschlammter Kontinent war, in denen die Menschen kaum älter als 4o wurden und man gerne auch mal eine Hexe verbrannte, war der Kontinent christlich-jüdisch geprägt. Und Muslime versuchten ihn immer mal wieder zu erobern. Auf dem Balkan klappte das. In Zentraleuropa holten sie sich vor Tours und Poitiers und Wien blutige Nasen.

Europas Aufstieg zu einem Kontinent, auf dem man gut und halbwegs frei leben kann, begann mit der Überwindung der Religionen. Die Aufklärung ist der große Wurf. Und eine gute Tradition der Aufklärung ist es, die Menschen als Individuum wahr zu nehmen. In der Leitkulturdebatte wird genau das unterlassen. Da sind wir alle vor allem religiös geprägt. Sicher, zu einem Teil trifft das zu. Aber ich bin auch stark durch Popmusik und Literatur geprägt. Auch ein paar Freunde hatten mehr Einfluss auf  mich als jeder Wanderprediger oder Papst. Und dann ist da noch die Familie, die persönliche Geschichte: Liebeskummer, Glück, Momente der Einsamkeit, das Gefühl, verlassen zu werden und das Gefühl, geliebt zu werden.  Der Beruf, Geschmack, Stil – Identität setzt sich aus hunderten von Fassetten zusammen, von denen mal die eine, mal die andere bestimmend ist. Wir spielen mit Identitäten, wechseln sie, variieren sie. Zum Teil mehrmals am Tag: Sind Freund, Partner, Fan, Sohn, Vater, ein Vertreter unseres jeweiligen Berufes, ein Häuflein Elend und ein arrogantes Arschloch.

Es ist herrlich.

Nur diese Vielfalt kommt in der Leitkulturdebatte nicht vor. Jeder  Türke in ihr ist nur Moslem. Und wenn er viel mehr Schalke-Fan ist als Gläubiger? Oder Vater? Trinker? Sportler? Geht nicht.

Das spielt den Kulturkonservativen aller Gattungen in die Hände, denen die Unübersichtlichkeit ein Grauen ist. Sie wollen uns wieder in die alten Schemata pressen. Denn nur in dieser alten Welt konnten sie ihre Macht behaupten. Ok, das ist ihr Problem. Meins ist es nicht. Die Leitkultur Europas ist die Aufklärung, ist der Individualismus. Nicht irgendwelche Wüstenkulte. Deshalb sollte man Religionen auch nicht noch aufwerten – und schon gar nicht viel Rücksicht auf sie nehmen.