Emotionales Armdrücken

Andreas Bittl und Dagny Dewath/Foto: Birgit Hupfeld

Heute Abend  ist es wieder so weit: Das Fräulein Julie spielt im Rottstr.5-Theater verrückt. Was passiert, wenn ein alter, Frauen hassender Schwede, Foucault und eine Rasierklinge aufeinander treffen? Kürzung in ihrer schönsten Form. Mit „Fräulein Julie“, einer Tragödie von August Strindberg, holt das Bochumer Rottstr5-Theater Herrschafts- und Geschlechterdiskurse auf die Bühne. Arne Nobel pflastert den strindbergschen Stände-Switch mit den wackeligen Steinplatten triebhaften Kalküls und naiver Begierden, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Es ist der rasante Absturz in die Perspektivlosigkeit eines nimmergrünen Beziehungsgeflechts.

Weil der Lieblingswein von Strindberg und Michel Foucault Bier ist, trafen sie sich zu einem Sit-In in der Rottstr5. Strindbergs Tragödie von 1888 ist sein meist gespieltes Stück. Aber noch nie hat es eine Inszenierung gegeben wie jene, die aktuell im Rottstr5-Theater zu sehen ist: In einer postatomaren Zeit nach der Bombe wurde das feudale System revitalisiert. Ein bisschen Mad Max, aber immer noch Reclam. Mit Mut zur Klinge und Kürzung verhelfen Dramaturgie und Regie Strindbergs Klassiker zu appellativer Durchschlagskraft, mit der sich nahtlos an aktuelle Diskurse anknüpfen lässt.

Das Miteinander generiert sich orientierungslos. Im Wust aus Menschen, Geschlechtern, Hierarchien fällt es schwer, auf Augenhöhe unerschlossenes Land, ohne Gepäck aus der alten Welt zu betreten. Die Beteiligten hängen noch immer in und an den tradierten Herrschaftsverhältnissen und müssen einsehen: Ein Befehl klingt immer unfreundlich, auch wenn er auf den Wunsch eines anderen hin ausgesprochen wird.

Naturalistisches Küchendrama

Regisseur Arne Nobel ist dafür bekannt, dass er seinen Inszenierungen gerne ein gewisses Quantum Radikalität verpasst. Im Original liefert die Figurenkonstellation den Tod der Köchin nicht mit. Als Repräsentantin der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung bildete sie ursprünglich das Gegengewicht zum sittenwidrigen Verhältnis von Julie (Dagny Dewath) und Jean (Andreas Bittl). Doch wird der Tod der Köchin in der Spielversion des Off-Theaters letztlich zur logischen Konsequenz dieses aufreibenden Küchendramas.

Jean (Andreas Bittl) hofft auf seinen Aufstieg/Foto: Birgit Hupfeld

Monsieur Jean, der Knecht des Fräuleins, ist eigentlich verlobt mit Kristin, der Köchin des Hauses (Kerrin Banz). Er ist viel gereist, ein bisschen gebildet und deswegen überzeugt, er würde ihr als Verlobter nicht schaden. Gleichsam erwacht das Interesse der Herrin des Hauses an Jean, ihrem Untergebenen. Noch gilt, wenn sie befiehlt, muss er gehorchen. Jean will rauf und Julie will runter. Was folgt ist eine Nacht erotischer Verwirrung, eine Anleitung zum Unglücklichsein, ein naturalistisches Küchendrama. Das Setting der Story wird mithilfe des Bühnenarrangements komplettiert, in dem die Darsteller ständig ihre Plätze wechseln. Die Grenzen zwischen Ernst und Scherz, Hierarchie und Haltlosigkeit verschwimmen zunehmend.

Jean und Julie erobern einander, bezwingen und demütigen sich. Die Ebenen dieses kurvenhaften Emotionsverlaufs geraten ins Wanken, beinah wie bei Jean Genet wechseln ständig die Machtverhältnisse sowie ihre Maskeraden und plötzlich ist man mitten drin im Kampf um Herrschaft und Geschlechterverhältnisse. Fräulein Julie muss schon bald einsehen, dass sie nicht weiß, wie die Welt von unten aussieht. Jean und sie erahnen, aber unterschätzen die prägende Kraft der Klassenunterschiede. In der Sexszene der beiden sind ihre Körper auf ihre Silhouetten reduziert. Ihre Wirkmächtigkeit verdankt sie nicht zuletzt dem hervorragenden Einsatz des Lichts. Der Akt selbst ist kein wildes Rammeln, sondern entbrennt in stilvoller Körperästhetik hinter einem riesigen, halbdurchsichtigen Vorhang und verweist als Moment der Verschleierung auf die triebhaften Kräfte, die unter der sichtbaren Oberfläche der Zurückhaltung brodeln. Das Verlangen kulminiert in Begehren und entlädt sich im Akt. Die Entflammten bleiben nach der Apokalypse der Zweisamkeit in einer emotionalen Ruine zurück, bei der sich Drohung und Bedrohung abwechseln. Von Mäßigung, Halt und Orientierung sind sie weit entfernt.

Ruine eines Verlangens

Am Ende müssen Jean und Julie einsehen, dass es nicht reicht, „auf Purple Haze zu schlafen“, damit ihre Träume wahr werden. Beide ringen um Kontrolle, statt um Liebe. Sie will, dass er gut zu ihr ist. Er jedoch begreift nicht. Schließlich beschwert sich die hintergangene Köchin, sie wolle nicht länger in einem Haus wohnen, in dem man keinen Respekt mehr vor der Herrschaft hat. Ein Fehler. Am Ende kommt Solidarität nicht einmal unter den beiden Frauen auf, als Julie vorschlägt, man könne zu dritt fliehen. Nein, in diesen Verhältnissen verträgt man sich nicht.

Zwei, die keineswegs zimperlich miteinander umgehen/Foto: Birgit Hupfeld

Mittendrin findet sich die Darbietung einer großartigen Dagny Dewath, zwischen Dominanz und Geworfenheit und ein Andreas Bittl, der spielt als befände er sich in einem Rammstein-Video. Präzise zeichnen sie alle kaleidoskopischen Zersplitterungen der Emotionalität nach. Charmant richten sie einander mit ihren Worten und ihrem Spiel regelrecht hin. Dewath gelingt es mit der Intensität ihrer Mimik, alle Nuancen von Raserei, über Wut, bis hin zu quälender Verzweiflung zu erörtern, bis plötzlich sogar den Zuschauern die Tränen in den Augen stehen. Es gibt diese großen Szenen, in denen man ihr jede Regung, jedes Wort abnimmt. Alle Schauspieler verleihen dieser beeindruckenden Darbietung streckenweise ein geradezu erschütterndes Maß an Authentizität. Ihr leidenschaftliches Spiel straft die Wirklichkeit des Lebens als bloß verblassten Abglanz radikaler Emotionalität Lügen.

Am Ende geht es wie so oft um die verlorene Ehre. Sie fragt ihn, ob er wisse, was ein Mann einer Frau schuldet, die er entehrt hat. Er bedauert, dass das Gesetz nicht vorsieht, was mit einer Frau geschieht, die einen Mann verführt. Da waren sie wieder, die Geschlechterverhältnisse. Diese Inszenierung glänzt mit Aktualität, weil sie nicht bloß eine theatralische Lektion ist. Sie zeigt Ertrinkende auf dem Kampfplatz der Hierarchie, Scham und Schande, die noch immer keine antiquierten Zwangsvorstellungen sind.

Die nächste Vorstellung findet heute, um 19.30 Uhr statt.

Der Ruhrpilot

Barbara Steffens

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„Thomas Bernhard war ein Scheusal sondergleichen“

Heute wäre Thomas Bernhard 80 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass zeigt der TV-Sender TW1 die Themenwoche „80 Jahre Thomas Bernhard“. Im Rahmen dieser Reihe kommt auch Bernhards langjähriger „Lebensmensch“ Karl Ignaz Hennetmair zu Wort, mit dem ich kürzlich über seine Freundschaft zu dem österreichischen Autor, dessen Wutausbrüche und den „Märchenonkel“ Marcel Reich-Ranicki sprach. Naturgemäß ist es ein nicht ganz gewöhnliches Gespräch geworden. Gleich zu Beginn fährt mir Hennetmair, ganz im Sinne des Übertreibungskünstler Thomas Bernhard, „in die Parade“ und lässt sich in unvergleichlicher Art und Weise über Österreich aus.

Herr Hennetmair, lassen Sie uns über Thomas Bernhard reden. Sie waren…

… verzeihen Sie, dass ich Ihnen gleich zu Beginn in die Parade fahre, aber es ist nichts weniger als eine unglaubliche Perversität, dass das österreichische Feuilleton, das sich angesichts seiner durch und durch primitiven Berichterstattung schämen sollte, sich als solches zu bezeichnen, heuer nur mehr über den grässlichen Peter Handke oder die anderen scheußlich einfallslosen, vom Staat gleichwohl hoch alimentierten sogenannten Schriftsteller berichtet, und nur alle paar Jahre, wenn denn mal ein runder Geburtstag ansteht, an einen Jahrhundertschriftsteller wie der Thomas es war, erinnert.

Nun, ehrlich gesagt habe ich mit dem österreichischen Feuilleton nicht das Geringste am Hut.

Seien Sie froh! Die Zeitungen in Österreich sind ganz und gar stumpfsinnig, ja geradezu gemeingefährlich. So etwas gibt es nur hier, nirgends sonst.

„Niemand ist perfekt, außer Thomas Bernhard wenn er schimpft“, schrieb Siegfried Unseld seinerzeit. Offenkundig hat er sich geirrt. Sie stehen Bernhards Schimpfkanonaden in nichts nach.

Das mag sein. Wenn man sich jahrzehntelang mit Thomas Bernhards Leben und Werk auseinandersetzt, hat das naturgemäß Folgen.

Man läuft Gefahr, seine von Misanthropie und Hass auf alles Österreichische geprägten Satzkaskaden zu übernehmen? Das klingt zugegebenermaßen beängstigend.

Das ist der Preis, den man für die Lektüre seiner Bücher zahlen muss. Und fürs Protokoll: Die österreichische Presse ist bekannt für ihre Niederträchtigkeit. Das wissen alle – mit Ausnahme der Österreicher!

Wagen wir einen zweiten Versuch, Herr Hennetmair. Sie waren einer der wenigen Menschen, deren Nähe Thomas Bernhard zuließ. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Schauen Sie, der Thomas hat die sogenannten Intellektuellen wegen ihres affektierten Auftretens gehasst. Die Landbewohner wiederum verachtete er wegen ihres Stumpfsinns. Ich hingegen war weder das eine noch das andere. Als früherer Ferkelhändler und später dann als Realitätenvermittler stand ich irgendwie dazwischen. Ich glaube, er hat schlicht und einfach meine ehrliche, unverstellte Art gemocht, die in seinem Milieu, dem Kunstbetrieb, nicht existierte.

Was schätzten Sie an dieser Freundschaft?

Wenn man in der tiefsten österreichischen Provinz einen Geistesmenschen wie ihn trifft, ist das ein Glücksfall. In ihm fand ich inmitten dieser ganzen Geschmacklosigkeit einen Gesprächspartner. Die Welt wäre ja eine ganz und gar sinnlose, wenn es nicht Menschen wie Thomas geben würde, die uns mit ihrem Geist von unserer lächerlichen Existenz ablenken.

In seinem Werk reflektierte Thomas Bernhard geradezu monomanisch Krankheit und Tod. Wie müssen wir uns vor diesem Hintergrund den privaten Bernhard vorstellen?

Wenn er arbeiten konnte, schrieb er sich die Verzweiflung vom Leib, so dass wir abends ganz entspannt Krimis oder Sportschau schauen konnten. Der Thomas war dann ein sehr heiterer Mensch. Ungemütlich wurde er nur, wenn er nichts zu Papier brachte.

Was genau bedeutet „ungemütlich“?

Er brauchte immer ein Ventil, um Druck abzulassen. Wenn er nicht schreiben konnte, gingen wir als Ausgleich kilometerlang spazieren; da hat er dann über den Tod monologisiert. Monologe, die er anschließend Wort für Wort in seinen Büchern wiederholt hat, wie ich später feststellte.

Haben Sie diese Spaziergänge mit der Zeit nicht gelangweilt?

Es heißt, er hätte immer wieder ein und dasselbe Buch geschrieben – ein Riesenschmarrn! Wie bei seinen Büchern geriet man unweigerlich in einen Sog, wenn der Thomas Vorträge hielt. Minetti hat mit Recht gesagt, dass er in Bernhards Sätzen zu Hause ist. So ist es auch bei mir.

In Ihrem 2001 publizierten Tagebuch „Ein Jahr mit Thomas Bernhard“ beschreiben Sie, wie schwierig es war, nicht seinen Zorn zu erregen. War es eine Freundschaft auf Augenhöhe?

Das war es uneingeschränkt. Ich habe ihm immer geradeheraus meine Meinung gesagt. Alles andere hätte er auch nicht akzeptiert. Dessen ungeachtet war die Freundschaft zu ihm eine ungeheure Herausforderung. Es glich meinerseits gelegentlich einem Tanz auf dem Vulkan.

Inwiefern?

An einem Tag war er der liebste Mensch auf Erden. Dann wiederum glich er dem Bruscon aus seinem „Theatermacher“ und ließ an nichts und niemanden ein gutes Haar. Diese Wut zu ertragen konnte anstrengend sein. Bei aller Liebe, Thomas war immer auch ein Scheusal sondergleichen.

1975 kam es zwischen Ihnen beiden zum Bruch. Haben Sie es jemals bereut, sich mit ihm eingelassen zu haben?

Niemals! Mir war immer klar, dass es schwieriger ist, mit einem Geistesmenschen befreundet zu sein als mit einem Idioten. Dem Idioten können Sie ja alles sagen, ohne dass er es versteht. Gegenüber dem Geistesmenschen muss man aber stets acht geben. Der Künstler ist naturgemäß feinfühliger als der Fleischhauer.

Warum sprechen Sie bis heute nicht über den Grund des Bruchs?

Na, weil ich finde, dass das nur den Thomas und mich etwas angeht. Er hat eben andere Menschen oft ohne jeden Grund beschuldigt. Und da habe ich ihm jedes Mal gesagt: „Ich schau dich lebenslänglich nicht mehr an, wenn du mich so beschuldigst.“ Ich habe nur Wort gehalten.

Um welche Beschuldigung handelte es sich genau?

Guter Versuch, aber schon allein dem Thomas zuliebe sage ich kein Sterbenswort. Das nehme ich mit ins Grab.

Bernhards Biographin Gitta Honegger schrieb, dass er homosexuell gewesen sei und dass das bei Ihrer Entzweiung womöglich eine Rolle spielte. Wie stehen Sie dazu?

Na, das ist doch wirklich ein ganz großer Schmarrn. Ich weiß von mindestens einem Fall, wo er mit einer Dame weggegangen ist und bei ihr übernachtet hat. Man darf halt nicht alles glauben, was die Leute zwischen Buchdeckel klatschen. Jedes Jahr ein neues infames Gerücht. Was die Honegger heute, war der Marcel Reich-Ranicki früher.

Sie spielen darauf an, dass Reich-Ranicki einmal schrieb, Bernhard sei infolge seines lebenslangen Lungenleidens impotent gewesen.

Ja, eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen. Jeder weiß, dass Reich-Ranicki gerne den Märchenonkel gibt und sich Geschichten ausdenkt, weil ihm die Wirklichkeit zu fad ist. Aber wie ich wird der ja bald enteignet, dann hat es sich ohnehin. Dann spielt es keine Rolle mehr, wer was sagt.

Enteignet? Wie meinen Sie das?

Na, Sie sind noch jung, bei Ihnen dauert es hoffentlich noch eine Weile. Aber früher oder später werden wir in dieses dunkle Nichts unter unser aller Füssen gestoßen. Das ist ja die eigentliche Gemeinheit im Leben. Dagegen werde ich wie Thomas Bernhard bis zum Schluss aufbegehren.

Das Interview erschien, in anderer Version, zuerst auf Cicero Online.

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Zurück in der Truman Show – Die Goldene Kamera

Wo war eigentlich Bernd Eichingers Sarg bei der Goldenen Kamera am Samstag? Den hätte man doch auch schön zur Schau stellen, feierlich auf der Bühne platzieren können. Bitteschön, der Zuschauer lässt sich auch vom überraschenden Tod gerne rühren, solange es nicht der eigene ist. Im Sarg hätte nicht mal wirklich der Tote liegen müssen, hätte schon keiner nachgeschaut, war schließlich nur Fernsehen.  Wo Gefühle vor allem willkommen sind, nicht wenn sie wahr, sondern wenn sie telegen sind.

Wegen dringender Bühnenarbeiten komme ich mir derzeit häufig so vor wie jemand, der viel zu spät zu einer Party erscheint, auf der schon alle besoffen sind oder andere, weniger legale Drogen verspeist haben. Den so genannten Coup (professionell auch: „Scoop“) habe ich erst spät nachts in der ZDF-Mediathek gesehen. Ich wusste nicht, ob ich bei einer freakigen Show gelandet war und schnell Drogen nachschmeißen sollte, um mithalten zu können. Ich entschied mich dann doch zum enthaltsamen Entsetztsein. Um mal die Hälfte des anzunehmenden Hasses von mir abzulenken: Ich freue mich sehr für Monica Lierhaus, wenn es ihr gut geht, besser geht, wenn sie zuversichtlich in die Zukunft schaut und daran arbeitet, dass diese Zukunft täglich besser wird. Das ist toll, das ist ein großer Erfolg für sie. So wie es ein großer Erfolg wäre für jeden, der eine vergleichbare Geschichte erlebt hat.

Aber was bitteschön soll dieses roboterhafte Auftreten, dieses Ablesen eines wahrscheinlich mühsam eingeübten Textes mit metallsurrender Stimme vor etwa tausend meist relativ belanglosen Mitarbeitern der Fernsehindustrie und etwa viereinhalb Millionen Fernsehzuschauern? Es ist richtig, dass die Verantwortlichen einer Rehabilitationsmaßnahme ihre Patienten motivieren, dass sie ihnen Ziele setzen. Das gilt für eine Sportmoderatorin genauso wie für einen Frührentner aus Duisburg, den man mit der Aussicht auf einen Spaziergang mit dem Hund motiviert, oder für einen Zerspanungsmechaniker bei ThyssenKrupp, der darauf hinarbeitet, an seinen alten Arbeitsplatz zurück kehren zu können. Es ist aber ebenso wichtig, dem Patienten beizubringen,  mit dem veränderten Leben nach einem Schlaganfall, Aneurysma, Unfall oder nach einer Amputation  klarzukommen.

Wäre die Kulisse etwa 500 000 Euro billiger gewesen und hätte statt Günter Netzer eine TV-Bratze wie Britt statt ernstzunehmender schlecht imitierte Gefühlsregungen gezeigt, hätte man sich im normalen Fernsehmüll des RTL-Nachmittags gewähnt. Dort vermutet man auch eher den Hang zu öffentlichen Heiratsanträgen.

Aber es war eine neue Form der Scripted Reality, es war die Goldene Kamera, es war im ZDF. Wobei der Lierhaus-Scoop jede Diskussion erübrigt, warum ein paar lächerliche Bierstände bei Thomas Gottschalk Furore machen, diese Veranstaltung des Springerkonzerns aber nicht als Dauerwerbesendung gekennzeichnet wird. Die „Hörzu“, dieses tantenhafte Fernsehprogrammheft mit auf niedrigem Niveau dümpelnder Auflage, hatte seinen Höhepunkt wahrscheinlich, als das Radio seinen Schwerpunkt von der Mittelwelle auf UKW verlagerte. Es muss vierzig Jahre her sein, dass mein Vater als Preis für ein gelöstes „Hörzu“-Kreuzworträtsel einen Schmuckkasten mit Pralinen gewann und fortan in der Straße als gewiefter Intellektueller galt.

Natürlich ist die Goldene Kamera nicht der unglaublich armselige „Steiger Award“ eines Sascha Hellen. Während der umtriebige PR-Profi aus dem Pott wahrscheinlich nur schauen muss, wer von seiner Politiker- und Promirestehalde gerade völlig terminlos ist, wird man bei Springer schon hin und wieder den Agenten eines einzufliegenden Hollywoodstars eindringlich auf die mögliche Win-win-Situation hinweisen müssen. Oder man passt gerade gut in die Werbestrategie eines Filmverleihs.  Doch die Goldene Kamera ehrt in der Regel lieber einen Tatort als Dominik Graf. Fernsehprofis wie Roman Brodmann, Georg Stefan Troller, Gordian Troeller, Axel Corti oder Eberhard Fechner werden den meisten Gästen der Springerzeremonie eher unbekannt sein.

Das Fernsehen darf verletzte Menschen zeigen. Das muss es manchmal sogar, wenn es um verprügelte Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern geht oder um Katastrophenopfer in der Karibik. Das Medium hat sich mittlerweile darauf versteift, selbst bei der letzten Selbstentblößung Unbekannter in schauderhaften Billigformaten darauf  hinzuweisen, der Bloßgestellte habe sich freiwillig zur öffentlichen Demütigung verpflichtet. Über Sendungen wie das „Dschungelcamp“ können sich allenfalls noch die Schützer australischer Schleimmaden aufregen. Den Rest spült eine Welle berechtigter Schadenfreude weg.

Am Samstag aber kam Monica Lierhaus auf die Bühne, auf eigenen Wunsch, wie im Nachgang betont wurde. Die Erzeugung von Schadenfreude konnte nicht das Motiv der Veranstalter sein. Lierhaus erhielt einen Ehrenpreis in einer ungenannten Kategorie, die man allenfalls ahnen kann. Nächstenliebe kann aus rein systematischen Gründen nicht das Motiv eines Medienkonzerns sein, egal wie lieb die Chefin die Geehrte hat. Wahrscheinlich hat Monica Lierhaus den Fantasiepreis aus einem Grund, und das völlig zu Recht erhalten: Für den direkten Appell an das limbische System der Zuschauenden. Ihre Aufgabe war das Auslösen von Emotionen. Die Tränen der anderen Showbeschäftigten bewiesen, dass man bei Springer mit der Ehrung richtig gelegen hatte. Tränen schlagen Erkenntnis. Auch wenn man das vorher wusste, Hörzu und ZDF haben es noch einmal eindrucksvoll vorgeführt.

Investigative Journalisten werden hoffentlich bald recherchieren, warum die Moderatorin der ARD-Sportschau ihren ersten öffentlichen Auftritt ausgerechnet im ZDF feierte, auf einer Veranstaltung  des Springerkonzerns, der sich zumindest in der Frühphase der Erkrankung nicht so gern wie andere an die Bitte um Zurückhaltung hielt. Soweit mir bekannt, halten in Kündigungsprozessen Anwälte die Mandanten an, ihre Arbeitskraft dem alten Arbeitgeber anzubieten. Das sichert den Geschassten einige Rechte. Die ARD, alter Arbeitgeber von Monica Lierhaus, reagierte ziemlich perplex auf den Wunsch der Rückkehrerin, bald wieder vor der Kamera zu stehen. Im Ersten muss man den Auftritt bei der Konkurrenz als Affront begriffen haben. Ihr Comeback hätte Monica Lierhaus auch im Haussender beim Kollegen Beckmann zelebrieren können. Dessen Spezialität sind doch einfühlsame, widerwort- und barrierefreie Interviews mit Schicksalsgebeugten. Bevor die große Medienwelle überschwappte, wollte man beim Ersten erst heute Nachmittag, mit drei Tagen Verspätung, Stellung nehmen. Wer dann etwa den ARD-Programmdirektor Volker Herres am Montag im Radio hörte, ahnt, dass ernsthafte Freude schon mal anders klingen kann.

Um nichts falsch zu verstehen: Joachim Löw nach einem Länderspiel zu fragen, ob die Italiener in der zweiten Hälfte auf dem rechten Flügel nicht Schwächen offenbarten, ist eine Arbeit, die man können muss. Monica Lierhaus hat gezeigt, dass sie das kann, dass sie die richtigen Fragen stellen kann. Aber das ist alles nur Fernsehen. Jeder Altenpfleger, der sich bei seinen Heimbewohnern erkundigt, ob sie zum Klo möchten oder ob die Suppe zu heiß ist, stellt täglich hundertfach wichtige Fragen. Aber das ist nur das Leben und nicht das Fernsehen. Monica Lierhaus scheint den Unterschied derzeit nicht zu erkennen. Das war das eigentlich Traurige an ihrem Auftritt. Und das löste wahrscheinlich die direkte Reaktion des Saalpublikums mit aus. Die latente Angst, selbst schlagartig ausgestoßen zu sein aus der selbsterwählten Truman Show.

Das Goldene Springer-ZDF arbeitet wahrscheinlich schon an der nächsten Preisverleihung. Man könnte doch mal bei Gaby Köster nachfragen. Der hat ein Springer-Blatt doch auch nachgestellt, bis es von einem Gericht gestoppt wurde. – Schade, das wird nichts. Bei Wikipedia, dem gehobenen Recherchetool der Durchschnittspresse, sehe ich gerade, sie wird wohl schon im März zur Leipziger Buchmesse wieder auftreten. Wikipedia zitiert einen Angehörigen: „Sie ist natürlich nicht mehr die Gaby, die sie vorher war, aber es geht ihr gut“. Springer-Scoops gehen anders.

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Weizenpreis und ägyptische Revolution – kleiner Grundkurs, Teil 2

Fahren wir fort mit dem kleinen Grundkurs für Revolutionäre! Gestatten Sie bitte, dass ich einmal kurz mich selbst zitiere. Nur so als Einstieg: Eine revolutionäre Situation entsteht …, wenn nach einer langen Periode relativer Prosperität die tendenzielle ökonomische Aufwärtsentwicklung … abreißt. Und nun schauen Sie sich bitte einmal diese Grafik an! Sie zeigt das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Ägypten.

Grafik: Google; Daten: Weltbank

Okay, die Weltbank-Daten, die der Google-Grafik zugrunde liegen, sind nicht preisbereinigt. Und die Inflationsrate ist in Ägypten schon deutlich höher als bspw. bei uns. Sie liegt, oder besser: lag stets so zwischen 5 und 20 %. Genaueres hier – CIA-Zahlen, das sind eigentlich immer die besten. Denen können Sie wirklich vertrauen. Und hier finden wir auch Zahlen zum BIP. Klarer Fall: auch real lag das ägyptische Wachstum deutlich über dem in Deutschland, der EU oder den USA.

Jahr      1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
BIP (real) 6,3    5,1   3,5   3,2     3,0    4,1   5,1     5,5    5,8
Wachstum in Prozent

Selbstverständlich: diese Steigerungsraten werden auf einem wesentlich niedrigeren Niveau erzielt. Ägypten ist ein armes Land. Zum Beispiel auch viel ärmer als Tunesien, das BIP pro Kopf ist am Nil gerade mal halb so hoch. Ägypten liegt mit 1.739 US$  auf dem 118. Platz weltweit. Tunesien steht mit dem 96. nicht so deutlich weiter vorn, hat aber mit 3.398 US$ beinah das Doppelte zu verteilen. Ginge es also nach der absoluten Höhe des Volkseinkommens, hätte Tunesien nie und nimmer den Anfang im revolutionären Prozess Arabiens machen können.
Das Wohlstandsniveau ist – revolutionstheoretisch betrachtet – keine relevante Größe. Auch die beeindruckenden Wachstumsraten Ägyptens bieten keinerlei Erklärung für umstürzlerische Bestrebungen. Zumal sie zum Ende des letzten Jahrzehnts noch einmal deutlich zugelegt hatten. Allerdings hat am ägyptischen Wachstumstyp so einiges nicht gestimmt. So ist zum Beispiel aus der einstigen Kornkammer Afrikas und des Nahen Ostens über die Jahre der weltweit größte Importeur von Weizen geworden. Und der Weizenpreis steigt unaufhaltsam.

Seit dem Juni 2010 bis Ende Januar, also in sieben / acht Monaten, hat der Weltmarktpreis für Weizen um 70 Prozent zugelegt. Die Folgen sind hierzulande überschaubar, für Ägypten allerdings dramatisch. Wir werden uns darauf einstellen müssen, für jedes Brötchen zwei bis drei Eurocent mehr berappen zu müssen. Wie viel von den vier Prozent, die McDonalds mehr für den Einkauf seiner Lebensmittelrohstoffe hinblättern muss, wie viel der Fast-Food-Konzern auf jeden Burger wird umlegen können, kann ich Ihnen nicht sagen. Die kleinen Burger kosten den Endverbraucher gegenwärtig genau einen Euro. Was soll McDonalds da machen?!
Auch wenn revolutionstheoretisch die Höhe des BIPs zunächst einmal zu vernachlässigen ist, liegt es auf der Hand, dass ein Land wie Ägypten von der explosionsartigen Erhöhung des Weizenpreises in ganz anderer Weise getroffen wird. 1.739 US$ BIP pro Kopf und Jahr, d.h. jedem Ägypter stünden täglich gerade einmal fünf Dollar zur Verfügung – unter der Annahme, dass das Volkseinkommen gleich verteilt wäre. Das ist es bekanntlich nicht.
Die privaten Haushalte müssen noch etwas Anderes kaufen als Weizenprodukte, und die Preise für die anderen Lebensmittelrohstoffe schießen in vergleichbarer Weise in die Höhe. Außerdem müssen aus dem BIP auch die Staatsausgaben bestritten werden. Zwar zeigt sich der Westen bei der Finanzierung des staatlichen Unterdrückungsapparats „großzügig“; dennoch liegt der Pro-Kopf-Anteil für die Militär- und Polizeiausgaben deutlich höher als bspw. bei uns. Letztlich bleibt auch in Ägypten das Volk auf den Kosten für seine Unterdrücker sitzen.

Die exponentielle Steigerung der Rohstoffpreise wird freilich auch getrieben von der Spekulation an den Lebensmittelbörsen. Man mag darüber streiten, wie hoch der Anteil der Spekulation am Weizenpreis ist. Man kann nicht darüber streiten, dass Spekulanten nur dort spekulieren, wo es etwas zu spekulieren gibt. So liegt die tiefere Ursache für diese verheerende Preisentwicklung darin, dass in diesem Jahr – und absehbar auch in der weiteren Zukunft – die Nachfrage das Angebot, also die weltweite Weizenproduktion bei weitem übersteigt. Die FTD schreibt:
„Laut Prognosen der Uno-Landwirtschaftsorganisation FAO wird die weltweite Produktion von rund 680 Millionen Tonnen im Vorjahr auf rund 650 Millionen Tonnen in der Erntesaison 2010/11 sinken. Dagegen dürfte die Nachfrage von 659 auf 666 Millionen Tonnen zulegen. Verantwortlich für die Verknappung sind schlechte oder geringe Ernten. Diese sind Folge von Dürren in wichtigen Anbauländern wie Russland, anderen ehemaligen Sowjetrepubliken und in China sowie von Überschwemmungen wie in Australien.“

Russland bspw. hat seine Weizenexporte vorläufig völlig gestoppt. Die Angebotsverknappung trifft auf eine sprunghaft angestiegene Nachfrage. Mehr als alle Spekulation fällt dabei ins Gewicht, dass (ausgerechnet) „die Regierungen nordafrikanischer Staaten aus Angst vor weiteren Protesten gegen die hohen Preise das Getreide auf(kaufen). Marktteilnehmer rechnen in der nahen Zukunft weiterhin mit starkem Kaufinteresse vor allem aus Nordafrika und dem Nahen Osten.“ Ein Teufelskreis. Wer die Anhäufung der Missernten in 2010 für ein singuläres Ereignis hält, mag prinzipiell Recht haben. Doch bislang sind entsprechende Katastrophenmeldungen aus aller Welt nicht weniger geworden.
Es scheint, dass bedingt durch den Klimawandel katastrophenbedingte Ernteausfälle tendenziell zunehmen. Eine angebotsdämpfende Wirkung hat zweifellos die Exportsubventionspolitik der großen Lebensmittelrohstoffexporteure, von der man mit einigem Recht sagen kann, dass hier der Imperialismus seine hässliche Fratze zeigt. Wie es möglich ist, dass ausgerechnet französische Bauern an der Spitze militanter Globalisierungsgegner mitmarschieren, bleibt unter diesen Umständen jedoch äußerst rätselhaft.

Zugegeben: letztlich bleibt die Entwicklung auf der Angebotsseite der Lebensmittelrohstoffmärkte spekulativ. Dagegen ist die Sachlage auf der Nachfrageseite ziemlich klar: das starke Bevölkerungswachstum ist – zumindest in den nächsten Jahrzehnten – ungebrochen. Es werden immer mehr Menschen zu ernähren sein – was prinzipiell gewiss möglich wäre, wenn sich ein ökonomischer Mechanismus etablierte, der zu einer Ausdehnung der Anbauflächen führte. Nach wie vor ist jedoch genau das Weltwirtschaftssystem vorzufinden, das aus der Kornkammer Ägypten den größten Weizenimporteur der Welt gemacht hat.
Niemand verhungert in Ägypten. Und dort, wo verhungert wird, machen die Menschen keine Revolution. Es revoltieren diejenigen, deren Entwicklungsperspektiven auf unabsehbare Zeit versperrt sind. Dies ist die ökonomische Erklärung für die gegenwärtige Situation in Ägypten wie in ganz Nordafrika. Freilich: die Ökonomie erklärt nicht alles. Doch ohne den sprunghaften – und nicht wieder rückgängig zu machenden – Anstieg der Lebensmittelpreise bleibt die revolutionäre Situation in Ägypten und den anderen Ländern unerklärlich.