Es blieb friedlich, relativ friedlich, gestern am Freitag, am elften Tag des Aufstands in Kairo. Damit war nicht unbedingt zu rechnen am „Tag des Abgangs“, wie die Demokratiebewegung den 4. Februar nannte, weil ihr Rücktrittsultimatum an Mubarak gestern auslief. Und weil es am Donnerstag und in der Nacht zum Freitag Tote gab. Es wurde geschossen auf und um den Platz der Befreiung im Kairoer Stadtzentrum, die Schergen des Mubarak-Regimes ritten auf Pferden und Kamelen überfallartig in die demonstrierende Menge oder rasten in Tötungsabsicht mit Autos in Gruppen nichtsahnender Menschen.
Am Freitag war in der FTD zu lesen, dass ein Reisebüro am Platz der Befreiung (Tahrir-Platz) zu einer Gefängniszelle umfunktioniert wurde, und was sich darin am Donnerstag ereignet hatte. Silke Mertins berichtete von drei Männern, denen mit Gewalt Pullover und Jacken ausgezogen wurden. Auf die nackten Oberkörper wurden ihre Namen geschrieben, dann wurden sie mit eilig herbeigeschafften Kabelbindern gefesselt.
Nun findet ein Verhör statt: „Entweder du sagst uns, wer Donnertagnacht auf uns geschossen hat und was ihr jetzt vorhabt, oder … – „Ich weiß nichts!“ schreit einer der Männer, der mit blutverklebter Stirn am Boden vor den Schreibtischen liegt. Es hagelt Ohrfeigen. Was aus diesen drei Männern geworden ist, konnte Silke Mertins nicht mehr in Erfahrung bringen. Auch nicht, was aus den etwa 400 weiteren Gefangenen geworden ist, denen es ähnlich ergangen ist. Auch die Antwort auf ihre Frage, wo sie sind, wurde ihr „aus Sicherheitsgründen“ verweigert. Wo? „Hier auf dem Platz, an einem geheimen Ort.“ In der Moschee? Im U-Bahn-Schacht? In einem Gebäude? „Das können wir aus Sicherheitsgründen nicht sagen.“
Die FTD-Reporterin zitierte Adel Abdulatif, einen Aktivisten der Demokratiebewegung. Bei den Gefangenen handelte es sich um Zivilpolizisten und / oder Geheimdienstleute des Mubarak-Regimes, die der Oppositionsbewegung in die Hände gefallen sind. Die Fernsehbilder der erbeuteten Dienstausweise – von den Demonstranten wie Trophäen präsentiert – gingen um die Welt. Jetzt haben wir eine zumindest grobe Vorstellung davon, was mit den Ausweisinhabern währenddessen geschehen ist. „Entweder du sagst uns, wer Donnertagnacht auf uns geschossen hat und was ihr jetzt vorhabt, oder …“ – Oder was? … „Oder wir werden euch der Menge draußen überlassen.“
In diesem Fall hätten die gefangenen Stasi-Leute, wie Mertins schrieb, „kaum auf Gnade hoffen“ können – gewiss zutreffenderweise, vielleicht verständlicherweise. Man bedenke, dass gleichzeitig ihre Kollegen damit beschäftigt waren, Anhänger der Demokratiebewegung auf und um den Tahrir-Platz zu töten. Am Donnerstag Abend herrschten dort bürgerkriegsähnliche Verhältnisse. Aber rechtfertigt dies das Foltern von Gefangenen? Nach unserem Rechtsverständnis gewiss nicht, nicht einmal dann, wenn wir den Folterern im Namen von „Freiheit, Demokratie und Frieden“ (Hamed Abdel-Samad) eine Notwehrsituation zubilligen.
“Man kann nicht Demokratie predigen, aber mit Diktaturen ins Bett gehen”, sagt Abdel-Samad. Aber kann man Demokratie predigen, während man seine Feinde foltert? Gut, eine Revolution – wo gehobelt wird, fallen Späne. Schwamm drüber. Was aber, wenn das Folterverbot nicht nur einmal kurzfristig außer Kraft gewesen sein, sondern prinzipiell überhaupt kein Bestandteil in der Vorstellungswelt der ägyptischen Oppositionsbewegung sein sollte? Was, wenn „Freiheit, Demokratie und Frieden“ der Folter ebensowenig entgegenstehen wie der Todesstrafe, der Unterdrückung der Frau und vielen anderen im Westen an und für sich nicht gern gesehenen Herrschaftsinstrumenten, auf die in der arabischen Welt keineswegs die Muslimbrüder einen Monopolanspruch erheben können?
Während sich am Donnerstag Abend auf und um den Tahrir-Platz in Kairo all die zitierten grässlichen Dinge ereigneten, plauderte eine Handvoll Nahost-Experten in der ZDF-Sendung Illner über die Ereignisse. Akhtam Suliman, der Deutschland-Korrespondent von Al-Dschasira, erklärte dazu, dass die ägyptische Jugend jetzt keine – auch noch so gut gemeinten – Ratschläge aus dem Westen brauche, sondern verwies stattdessen auf das Selbstbestimmungsrecht des ägyptischen Volkes. Und der „Journalist und Israel-Kenner“ Henryk M. Broder, Abdel-Samad Reisegefährte in der ARD-Reihe „Entweder Broder“, kam sich vor wie 1989.
Er sei „voller Bewunderung für die Menschen in Ägypten“, erzählte Broder, und hege „tiefe Verachtung“ für die Bedenkenträger auf Deutschlands Sofas, die, anstatt sich zu freuen, die Risiken der gegenwärtigen Entwicklung betonen. Ja, die Freiheit sei ein Risiko, so Broder. Recht hat er, und so bleibt mir nichts Anderes, als mit seiner tiefen Verachtung leben zu müssen. Allerdings: von Broder verachtet zu werden, ist immer noch leichter erträglich, als von einer Kanaille wie Jürgen Todenhöfer bescheinigt zu bekommen, „schöne Sachen“ zu sagen. Wer nicht einmal Bedenken bekommt, wenn er mit einem „bekennenden Kriegsgegner“ wie Todenhöfer, um die Metapher Abdel-Samads aufzugreifen, ins Bett geht, ist vor lauter Liebe blind geworden.
Es wäre nicht der Rede wert, wenn Broder der einzige wäre, der hierzulande zwischen den Sympathien für den Muslimhasser Sarrazin und der Kumpanei mit dem Taliban-Begleiter Todenhöfer hin und hergerissen ist. Doch er ist nicht der einzige. Wenn in Deutschland irgendwo irgendwie die Humanität auf der Strecke bleibt, ist man des Beifalls der Massen sicher, wenn man erklärt, wie schön das doch ist.
Letzte Woche ergab es sich (schon), dass sich der Autor dieser Zeilen die generelle Sinnfrage gestellt hat. Und zwar („nur“) in Bezug auf Inhalte, die ja anscheinend beständig vermittelt werden sollen, medial. Es ist bereits merkwürdig, jetzt so eine Aufzählung an die folgende Stelle im Text zu machen, aber ich riskier es mal. Mir fiel das Besagte auf an den Kritiken zu „Content“ von Gang Of Four, an der Fernsehsendung von Stuckrad-Barre, an der öffentlich-rechtlichen Selbstkritik am Verhalten gegenüber dem „Regime Mubarak“ und am eigenen Schreiben natürlich.
Zunächst aber möchte ich ganz herzlich meine Verachtung für einen gewissen Udo Hautschkapp (oder so) aussprechen. Dieser interviewte für die WAZ den in der letzten Woche anscheinend öffentlich-rechtlich, also von deutschen Staats wegen „zuständigen“ Aiman Mazyek in seiner „Funktion“ als Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, und dies nicht nur in ebensolchem Schubladisierungsstil („Juden hier, Islam bitte da vorne, coole Volldeutsche am Anfang und am Ende“), sondern auch indem er sich nicht entblödete, zweimal bei sechs Fragen folgenden Antwortheischer zu formulieren: „Sind Sie da nicht etwas dünnhäutig?“ bzw. „Jetzt sind Sie aber dünnhäutig, oder?“ Kann mir jemand diesen zotig-ausgekochten Kruppstahl-Witz mal erklären? Was macht denn die Volldeutschen bitte so dickhäutig? Und ist das erstrebenswert? Beziehungsweise: Ich sehe da nur eine vorgetäuschte Dickhäutigkeit. Alle sind eher … dickflüssig (Erläuterung hier).
Und dann gab es ja letztens im hiesigen, sogenannten „öffentlichen Bewusstsein“ noch die Mediengesetze in Ungarn. Wenn „Merkel und die EU was sagen“ und Ungarn reagiert, dann ist alles gut. (Kurz nach so etwas ist ja denn auch in Ägypten alles gut.) Wenn aber jemand vom deutschen Staatsfernsehen zugibt, dass man ja jahrzehntelang zu „nett“ gegenüber der herrschenden Klasse Ägyptens gewesen sei, dann ist plötzlich alles supergut in Deutschland. Denn wie man sich Ägypten gegenüber verhalten hat, so verhält man sich in der Gegenwart in Bezug auf andere (oder alle?) Themen ja nie. Und wenn dann was in Bezug auf Ägypten schon gestern oder übermorgen wieder passend gemacht wird in den Medien, dann kann das entweder so nicht sein oder bekommt eine vergänglichste Gegendarstellung, die gegenüber dem medialen Mainstream wirkt wie ein Tropfen im Ozean. Meine Güte, was muss das ein armes Leben sein bei den öffentlich-rechtlichen und in den Massenmedien überhaupt! (Bitte nicht missverstehen: Ich bin eben kein Ultra-Interventionalist! Ich sage immer: Deutschland muss jetzt mal 1000 Jahre die Schnauze halten.)
Und damit zu Stuckrad-Barre. Der weiß, dass er nichts sagen kann und macht das tapfer schlecht.
Was ist denn, wenn jemand versucht, etwas zu sagen, und es wird durch die benannten Medien gedroschen? Glauben wir doch einmal, auf dem neuen Gang Of Four Album könnte dies der Fall sein. Sie möchten uns vielleicht einmal mehr etwas mitteilen. Coolibri: „Wo Inhalt draufsteht, ist auch Inhalt drin.“ – Musikbeschreibungsblabla und dann „…, so dass immer auch nicht nur Hirn und Herz, sondern auch Bein und Bauch beansprucht sind, getreu dem neuen Song ‚I Party All The Time‘“ (Wer in etwa weiß, um was es bei diesem „Song“ geht, wird jede Behauptung, das sei doch zynisch gemeint im Coolibri, zurecht als Geschwätz abtun.) Intro (in Gänze): „Die Post-Wave-Opas im dritten Frühling ihrer aktuellsten Reunion. Ein feuchter Traum für alle fathers I’d like to fuck.“ ?? „Ich hab’s verstanden, aber ich darf’s den Lesern und Leserinnen nicht mitteilen“? „Sie haben zwar recht, aber wir scheißen drauf“? „Inhalt wurscht, action matters. Modeseite, übernehmen Sie!“? Zur Spex nur, dass Klaus Walter das besprechen musste. Okay, nur weil die Musikkritik brachliegt, sind Inhalte noch nicht verloren. Aber wie kuratiert man jetzt den dickhäutigen, schnelllebigen, flüssigen Deutschen die (Pop-)Kultur? Für welche Art von Inhalten sollen die überhaupt Zeit haben?
Es ist übrigens keine Arroganz, wenn ich hier nicht öffentlich kommentiere. Bei meinem letzten Selbstversuch bei den Ruhrbaronen habe ich gemerkt, dass das (Gegen-)Kommentieren nichts bringt. Es schadet eher der (erbetenen) Exegese. Gerne antworte ich via Mail auf wasimmer, aber nicht im vorgesehenen Rahmen. Den Trick können Sie sich ja mal merken für die nächste Woche. 🙂
Fotos: Jens Kobler (feat. u.a. „Brazil“ von Terry Gilliam)
In Zusammenarbeit mit dem NRW Kultursekretariat ist es fünf Veranstaltern aus fünf Städten gelungen, sich in ein lebendiges Austauschmodell zwischen bedeutenden Musikern NRWs zusammen mit interessanten internationalen Gästen zu begeben. Unter dem Motto soundtrips NRW werden die Spiel-Karten in der vielgestaltigen Szene innovativer Musik neu gemischt und ausgelegt. Look inside ist eine Einladung, an diesem Prozess zu teilzuhaben. Die Personalunion von Veranstaltern und Musikern in diesem Projekt garantiert ein künstlerisch hochwertiges und lebhaftes Modell der Zusammenarbeit, das beispielhaft ist.
AUDREY CHEN CELLO, ELEKTRONIK
Das nächste Konzert innerhalb dieser Reihe findet am Sonntagabend in Münsters Kulturzentrum Cuba (www.muenster.org/cuba/haus/blackbox) statt und wird von der Cellistin Audrey Chen bestritten. Diese überzeugt durch ihre expressive und äußerst individuelle Spielweise. Sie benutzt das Cello, sowie ihre Stimme schonungslos, greift außerdem auf Live-Elektronik zurück. Und mit der Geigerin Gunda Gottschalk steht ihr eine Schlüsselfigur der Wuppertaler Freejazz und Improv´-Szene zur Seite.
Wer über die Zeit des Nationalsozialismus spricht, dem hört man zu? Im Anschluss an die Lesung und Diskussion mit Enno Stahl und Carsten Marc Pfeffer kam es zu Irritationen. Unter dem Titel „Heimat & Weltall“ trafen sich die beiden Autoren auf Einladung der Literarischen Gesellschaft Bochum im Rottstr5-Theater. Ein Besucher der Lesung und der Autor Enno Stahl empfanden die von Stahl geäußerten Sachverhalte als unzutreffend und missverständlich im Artikel zur Lesung wiedergegeben. Daher erhielt Enno Stahl die Möglichkeit, noch einmal dezidiert zu den strittigen Fragen Stellung zu nehmen. Herausgekommen ist ein Interview mit durchaus streitbaren Thesen.
Weshalb haben Sie mit dem Schreiben begonnen?
Weil ich musste.
Was ist Ihre größte Motivation auch nach Jahren noch immer als Autor tätig zu sein?
Dass ich muss. Und zwar der guten, alten Aufklärung wegen.
Wie würden Sie Ihre literarische Arbeit beschreiben? Wie gehen Sie vor?
Oft ist da nur ein guter Titel. Und ein übergreifendes Erkenntnisinteresse: Medien, soziale Herkunft, urbanes Leben. Dann schält in Bildern und Sequenzen eine Geschichte heraus. Diese versuche ich, durch Material und Quellenrecherchen zu untermauern, d.h. ich versuche damit, Bereiche zu verstehen und darzustellen, die ich nicht aus eigner Anschauung kenne, um die Sache möglichst realistisch und plausibel zu gestalten. Als Letztes kristallisieren sich über zahlreiche Überarbeitungsprozesse Stil und Form des Buches heraus: die Perspektive, die Erzählweise, der Ton. Jedes meiner Bücher verlangt einen eigenen, einen anderen Ton. Deshalb wirken sie bisweilen recht unterschiedlich.
Geht es Ihnen beim Schreiben auch darum, alte literarische Formen aufzubrechen? Wenn ja, welche und inwiefern?
Das vordergründige Aufbrechen tradierter Formen bestimmte die erste Phase meiner Arbeit, so war ich, denke ich, einer der ersten deutschen Spoken-Word-Autoren, das heißt, versuchte, das Medium Lesung weg zu bringen von dieser Wasserglas-und-Blumenstrauß-Ästhetik, vielmehr Intensitäten zu erzeugen, Bewegung und körperliche Action auf der Bühne, wie wir das in den Achtziger Jahren von den Independent-Bands kannten. Auch speiste ich Kunst- und Performance-Elemente ein, zelebrierte LAUT!gedichte mit verzerrter Gitarre oder Schrott-Drums. In meinen Texten, insbesondere den Erzählungen des Bandes „Trash me!“ provozierte ich den Betrieb, indem ich das Ideal hehrer Dichtung decouvrierte, nurmehr das Alltäglichste zum Material meiner Literatur machte (der Lektor eine der größten deutschen Verlage, heute dessen Leiter, sagte: „Das ist gegen den Betrieb geschrieben!“, wurde also verstanden). Gleichzeitig aber „experimentierte“ ich – in der (Anti-)Tradition der Wiener Gruppe – mit fragmenthaften Formen („Die Affenmaschine“, 1988; „Firenze Geometrica“, 1989; „Entropics 1990“, 1991) oder mit parallelen Handlungsschienen („piratebrut!, 1994; „Stete Geburten, Novelle“, 1994). Später, als auch solche Formen der Aufbrüche allzu beliebig wurden, weil fast jeder so was machte, selbst das Establishment, kam ich zu konzentrierteren Erzählformen. Auch deshalb, weil mir klar wurde, dass auf dem „Avantgarde“-Sektor kein freies Gelände mehr zu finden ist: Hinter dem Nullpunkt der Literatur ist eben tatsächlich – nichts.
Auch die Trash-Literatur konnte ich in der Form nicht mehr weiterführen, da sie soziale Bilder nur wiedergibt, nicht aber interpretiert, daher keine wirklich kritische Kraft besitzt. Heute sind meine Stil- und Formbrüche weniger zu spüren, sie finden sich aber in „2PAC AMRU HECTOR“ (2004) in der Ebenen- und Materialmontage, in „Diese Seelen“ (2008) in der untergründigen Verästelung der Geschichten. Das nächste Buch wird ein innerer Monolog, aber nicht wie bei „Molly Bloom“ in der kurzen Zeit vorm Einschlafen, sondern als Mittel zur Wiedergabe eines Plots. Darauf wird wieder ein stark konstruierter, mit viel Originalmaterial montierter Roman folgen.
Auf Markus Tillmanns Frage, ob Literatur aufrütteln kann, sagten Sie, die Vorstellung, dass Literatur aufrütteln kann, sei Ihnen egal. Was haben Sie damit ausdrücken wollen?
Diese Frage wurde immer wieder an Literatur gestellt. Mittlerweile haben wir aber gemerkt, dass die Zeiten, in denen Literatur Revolutionen auslösen konnte wie bei Rousseau und Voltaire, längst vorbei sind. Heute ist Literatur eine im kapitalistischen Verwertungssystem vollkommen integrierte Kulturtechnik. Wie der Film wird sie von ihrem Publikum nicht mehr als etwas Sublimes wahrgenommen, etwas, das in der Lage wäre, die Welt wirklich aus der Distanz kritisch zu betrachten, sondern als Unterhaltung. Wahr und richtig daran ist, dass man der Literatur zu viel aufbürdet, wenn man von ihr verlangt, aufzurütteln in einer Welt von Snuff-Videos, Beschneidung, Elendsflüchtlingen und Massenmord, Bilder und Fakten, die schon für sich Aufstände erzeugen müssten.
Die Folgenlosigkeit der Literatur ist nun so oft festgestellt worden, dass mir die Frage danach einfach schon egal ist. Sie impliziert die Frage, ob ich das mache, was ich mache, um aufzurütteln. Da das aufgrund der genannten Umstände kaum möglich sein kann, beschäftige ich mich damit nicht, sondern mache das, was ich tun muss, weil ich es als meine soziale und künstlerische Verpflichtung ansehe.
Wie ist Ihre Aussage, es sei „belästigend, dass die nachfolgenden Generationen immer noch nationalsozialistische Geschichten erzählen müssen“ zu verstehen?
Was haben sie damit zu tun? Die Autoren der jüngeren Generation, die über ihre Großeltern, Urgroßmütter, Urgroßonkel und Ururgroßtanten usw. schreiben, haben keine echte Kenntnis mehr von dieser Zeit, außer aus dem Fernsehen. Oft gehorcht die Themenwahl allein einem durchsichtigen Erfolgskalkül: Wer über die Nazizeit spricht, dem hört man zu. Sprechen sollten aber jene, die dazu berufen sind: Zeitzeugen oder Historiker, die über ein intensives Quellenstudium immer mehr und neue Details über das Schreckensregime zu Tage fördern. Ich selber arbeite an einem wissenschaftlichen Projekt, bei dem das literarische Leben der NS-Zeit rekonstruiert wird. Man kann nicht behaupten, dass alle kleinsten Rädchen, Stellschrauben und Funktionsmechanismen der Nazidiktatur bis ins Letzte bekannt wären. Die Bergwerkarbeit im Stollen der Geschichte brauchen wir, nicht Belletristik.
Die Ubiquität der literarischen Nazierzählungen verwässert das Thema. Ebenso wie im deutschen Film werden diese Stoffe zumeist an Einzelschicksalen, besonders ungewöhnlichen Ereignissen, Plots und Protagonisten (Rosenstraße, Aimée & Jaguar etc.) aufgezogen. Die tatsächlichen Nazigräuel lassen sich aber nur als Kollektivhorror erzählen (Schindlers Liste). Fällt diese bio-politische Dimension unter den Tisch, führt das eben nicht zur Aufwertung der Einzelschicksale, sondern zu einer Verharmlosung des Terrors. Hier gibt es natürlich Ausnahmen.
Noch mehr stört mich allerdings, dass die fortgesetzte Behandlung von NS-Themen, der ja politische Verantwortlichkeit automatisch zugemessen wird, den Blick auf die Gegenwart verschließt, die durchaus nicht ohne Grauen ist. Verglichen mit der Nazizeit leben wir aber tatsächlich in der besten aller Welten!
Wenn indes in monatelangen Verhandlungen darum gerungen wird, ob HARTZ-IV-Empfänger 5 Euro mehr im Monat kriegen dürfen oder nicht, wenn trotz vermeintlich steigender Beschäftigungszahlen die Diskrepanz zwischen Arm und Reich in Deutschland permanent steigt, so groß ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr, wenn Leute für drei Euro sechzig die Stunde arbeiten, weil die Angst vor Arbeitslosigkeit, also vor sozialem Abstieg, der Würdelosigkeit, dem Ausschluss noch viel bedrängender ist als das Gefühl der Ausbeutung, wenn geistige und seelische Verwahrlosung zunehmend grassiert, eine verfehlte Ausländerpolitik zu unlösbaren Integrationsproblemen geführt hat, alles das, was die Berliner Funktionselite aus Politik, Showgeschäft und Sport mit mitleidiger Teilnahmslosigkeit zur Kenntnis nimmt oder in unzähligen Selbstdarstellungs-Talkshows leidenschaftlich diskutiert – in einer solchen Zeit frage ich mich doch, warum nachwachsende Autoren nicht darüber schreiben, über ihre Gegenwart, das, was sie kennen, was sie umgibt und was zu bekämpfen dringend erforderlich wäre.
Sie haben sich als „bekennender sozialer Realist“ bezeichnet. Was meinten Sie damit?
Sozialer Realismus ist ein Begriff, den ich in einigen Aufsätzen zu definieren versucht habe (Literatur in Zeiten der Umverteilung, 2005 – Sukultur-Leseheft oder Kurzfassung hier: http://ennostahl.de/t_essays.php?id=64, Der sozial-realistische Roman – Sukultur-Leseheft oder hier: http://ennostahl.de/t_essays.php?id=10).
Wie gestaltet sich Ihrer Ansicht nach das Verhältnis von Literatur zu Politischem?
Das lässt sich so allgemein kaum beantworten. Jede Form von Literatur transportiert eine bestimmte Gesinnung, entweder bewusst oder unbewusst. Trivial- und Unterhaltungsliteratur, aber auch Vieles, was in den Kaderschmieden des deutschen Schrifttums Leipzig und Hildesheim zusammengeschrieben wird, enthält sich vordergründig jeder politischen Aussage, ist gerade darum zutiefst affirmativ, wirkt sich also durchaus politisch aus. Weite Teile der deutschen Gegenwartsliteratur müssen daher – meiner Ansicht nach – einer ideologiekritischen Analyse unterzogen oder anders gesagt: dekonstruiert werden. Doch auch das Gegenteil existiert: Literatur, die sich explizit jeder Politizität enthalten möchte, sich selbst für eher konservativ hält, kann außerordentlich politisch sein. Gutes Beispiel dafür Hans Henny Jahnn.
Ab wann ist für Sie Literatur als Kunstform auch politisch?
Besser wäre die Frage: Ab wann ist sie kritisch? Wenn sie ihre eigenen Voraussetzungen kennt und überprüft, den sozialen Standpunkt des eigenen Sprechens mit einbezieht, wenn sie die unmittelbare Realität mit all ihren sozialen und politischen Aporien in den Blick nimmt, mit den Mitteln der Literatur Missstände namhaft macht – das gilt, wie man leicht erkennt, für sehr viele Werke der Weltliteraturgeschichte von Grimmelshausen über Laurence Sterne, Heine, Stendhal, Flaubert, Zola, Cechov, selbst Joyce.
Ist politisches Engagement auch Aufgabe von Autoren?
Natürlich. Ob dieses Engagement allerdings darin besteht, sich einer Sitzblockade einzureihen oder das zu tun, was der Autor am besten kann: schreiben, muss jeder für sich selbst entscheiden. Das werte ich nicht, sondern halte beides für gut und legitim.
Wie halten Sie es selbst damit in Ihren Büchern? Wie viel Politisches steckt in Ihrer eigenen literarischen Arbeit?
Ich glaube, das habe ich ausreichend beantwortet. Zudem beantwortet es der Literaturbetrieb auf seine Weise: Schauen Sie sich einfach die Rezensionen an, auch bestimmte Nicht-Rezensionen sprechen da eine deutliche Sprache.
Welche Frage hätten Sie bei der Podiumsdiskussion im Anschluss an die Lesung gerne gestellt bekommen?
Da habe ich keine Präferenzen, sondern bin ganz offen für die Bedürfnisse und die kreative Neugier der Rezipienten.
Was war nach der Lesung und der Podiumsdiskussion Ihr persönliches Resümee des Abends?
Es war gut. Auch wenn von einer Podiumsdiskussion – aus Zeitmangel – keine Rede sein konnte. Es war ja nur ein Gespräch zwischen Autoren und Moderator. Tatsächlich hörte ich später, dass manch einer aus dem Publikum sehr gerne noch Fragen gestellt hätte.
Mit welchem Eindruck hätten Sie Ihre Zuhörer am liebsten auf den Weg nach Hause entlassen?
SPD und Grüne planen nun auch in NRW ein radikales Rauchverbot.
Das Neospießertum kann sich freuen: Auch in NRW wird wohl bald das Rauchen ohne Ausnahme in Kneipen verboten. So steht es in einem Bericht der Rheinischen Post. Treibende Kraft: Gesundheitsministerin Barbara Steffens. Die hat früher selbst einmal geraucht, aber der Satz, die schlimmsten Kritiker der Elche waren früher selber welche trifft wohl auch hier zu.
Mir ist zwar nicht klar, warum der Staat in die Rechte einzelner Unternehmer, der Wirte, eingreifen soll. Und ich verstehe den heiligen Zorn nicht, mit dem gegen die Raucher vorgegangen wird, aber so ist das wohl in einer Zeit des Neopuritanismus, in dem jede Abweichung von der Norm, jede Form von Exzess abgelehnt und zunehmend diskreditiert wird. Lustig: In Dortmund fordern die Grünen in Saufraum für Alkoholiker in der Nordstadt. Gleichzeitig sollen alle Raucher vor die Türen getrieben und diskreditiert werden.
Ich würde mir ja eine Landesregierung wünschen, die sich weniger darum kümmert, ob ich im Intershop eine Kippe am Tresen rauche, sondern darum, zum Beispiel die Landesfinanzen in Ordnung zu bringen. Die sich um die kommenden Pensionslasten sorgt. An einer vernünftigen Infrastruktur arbeitet. Die Bürger entlastet. Aber das ist wohl alles zu anstrengend. Da ist es leichter, ein paar Raucher vor die Tür zu treiben.
Bei den Grünen gibt es etliche, die diese Politik für Unsinn halten. Bis hinein in die Landtagsfraktion. Aber den Mut gegen den Rauchverbotsquatsch den Mund aufzumachen haben sie nicht. Und die SPD, die bislang eher für Ausnahmen war? Macht bei dem Versuch, die besseren Grünen zu werden, alles mit. Darf ich bitte Neuwahlen haben? Ich will eine Landesregierung, die mir nicht vorschreibt, wie ich zu leben habe.
Thomas Westphal ist der neue Chef der Ruhrgebiets-Wirtschaftsförderung. Eine Ermunterung von unserem Gastautor Anton Kowalski
Leicht hasset ja nich bei uns im Pott, im Djschungelkämp von all die Wiatschaftschaftsföadara. Lauta Divas, un jeda kuckt imma nua auf sein`n Schprengel. Mit sein Büagameista und seine Jungs und Mädels vonne Poltik. Und watte da machs in Deine Zentrale vonne wmr, da traun se dich nich üba`n wech. Bekuck`n sich dat un mäckan übba allet, watte so machs.
Abba allz alta Juso kennze dich doch aus mit Schtrategie. „Doppelschtrategie“ hieß dat früha ma: mit ain Bein mitt`ndrin im Getümmel un mit´m andan Druck machen von außen! So lässt sich villaicht wat reiss´n in Richtunk Schtrukturrefoam`n. Müss`n ja nich antikapilistisch sain. Will ja kaina mähr – und die vonne Wiatschaft schon gahnich.
Abba füa uns im Pott, da wäa doch wat zu machen, odda? Un wennet nua ´n bisschän mäa is, als dat Sammelsurium wat wa alle kennen mitte Projekte von dreiunfuffzig Döafan aus unsam Pott!
Zu mach`n wäa da ja wat, wennze wiaklich willz. Und`n paa Schrategen, die mit dich mitmachen, finnze schon. Düafte kain Problem sain, bei übba 500 Jung´s und Mädels vonne Wiatschaftsföadarung die wia so ham im Pott. Und umme 30 Gründas- un Haitek-Zentas, sechs Kamman vonne Industrie und Handel, drei Kamman von dat Handwärk, zwai Hände voll mit Hochschul`n – mit all die Professoan, die noch ne Mak nebenhäa mach`n woll`n und mit ihre Transfäastell`n, die auch gäan Kohle vadien woll`n. Und so weita und so foat!
Wat abba ächt fählt bei uns im Pott sind Schtruktuan üban Tellarand von jedem sain Doaf hinaus. Füan ganz`n Pott und nich nua füa son klein`n Schpreng`l, wo man nich üban Kiachtuam rauskuck´n tut. Ich sach ma – zum Beischpiel nua aine Kamma, die füa de Industrie und den füa den Handel von uns alle im Pott schpricht. Odda nua aine Rua-Uni und iagendwann vielleicht auch nua ain Obabüagameista (wenn die, die dat jezz mach`n inne Rente sind).
Leicht wiad dat allet ja nich. Abba vielleicht kannze den ganzen Ziakus, den wa jezz hab`n ma vonne MacKinnsies übbaprüf`n lassen? Ob dat alles noch so`n Sinn macht? Und ob dat nich allet bessa zu mach`n is. Bin mia da sicha, da sparsse jede Menge Kohle, die wa alle woanders reinsteck`n könn´n . Odda die wa ganich ers ausgeb`n müss`n. Denk ma drübba nach mit`n paa helle Köppe. Die findse schon bei uns.
Wiad allet nich einfach! Is abba ma `n Vasuch wäat.
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