Die Musik spielt nicht im Ruhrgebiet

Seit fast zwei Jahren suche ich jeden Morgen ein Musikvideo für einen Konzerttipp heraus. In den letzten Wochen empfehle ich immer häufiger Konzerte in Düsseldorf oder Köln. Und dass es dazu keine Alternative gibt, sagt viel über das Ruhrgebiet.

Im vergangenen Jahr, es war Kulturhauptstadt, haben wir es ja fast täglich gehört. Wie groß das Kulturangebot ist, wie umfangreich, wie bunt. Mag sein dass das, was Theater oder klassische Konzerte betrifft, sogar stimmt. Subventionskultur läuft. Für den Pop-Bereich stimmt es nicht. Sicher, wirft man einen Blick in den Coolibri-Kalender, gibt es keinen Tag, an dem nicht mehrere Konzerte stattfinden. Aber mal im Ernst: Was für welche? Irgendwelche Jazz-Sessions in irgendwelchen Kneipen, Blueser und Coverbands machen Tag für Tag den größten Teil des Konzertangebots aus.

In Köln – Düsseldorf sieht nicht viel besser als das Ruhrgebiet aus – ist die Situation anders. Ich habe fast jeden Tag die Qual der Wahl, welche Band ich vorstelle. Fast alle erfüllen die technische Minimalanforderung für die Rubrik und verfügen über ein halbwegs vorzeigbares Youtube-Video.

Im Ruhrgebiet ist das anders. Ich würde zum Beispiel gerne mal Doris Klit ankündigen. Immerhin treten die regelmäßig in meiner Lieblingskneipe Intershop auf. Aber sie haben kein Video.

In vielen Läden, die einstmals ein gutes Programm hatten, präsentiert sich heute vor allem das schreiende Elend: Münchener Freiheit in der Zeche Bochum. Dafür hätte man früher zu Recht den ganzen Laden auseinander genommen.

Oder die Zeche Carl. Die fliegt auch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Bahnhof Langendreer? Viel ist da auch nicht mehr. Hundertmeister in Duisburg? Vergiss es.Das  FZW – im vergangenen Jahr noch eine feste Bank? Ein Trauerspiel, verursacht von Dilletanten.

Es gibt natürlich Läden, die sich viel Mühe geben: Spatz & Wal in Unna, Bahia de Cochinos in  Castrop, das AZ in Mülheim oder das Parkhaus in Duisburg. Aber bei aller Liebe: Alles zusammengezählt kann diese angebliche Metropole mit ihren  fünf Millionen Einwohnern nicht mit Köln mithalten. Schon lange nicht mehr. Und ich will hier nicht irgendeinen Kram vorstellen, nur weil er im Ruhrgebiet stattfindet. Sicher: Über Tipps sind wir dankbar. Und noch mehr darüber, wenn einer eine Idee hat, worin der Grund für das ganze Elend liegt. Meine Theorie: Überalterung. Wegzüge. Es gibt hier schon lange keine Szene mehr, die eine Live-Kultur tragen kann. Das Publikum fehlt.

Der Ruhrpilot

NRW: Rot-Grün bricht in Umfrage ein…Kölner Stadtanzeiger

NRW II: Linke warnt Rot-Grün vor Kurswechsel…RP Online

NRW III: Rot-Grün legt Etat erst Ende Februar vor…RP Online

NRW IV: „In NRW findet ein Bildungs-Staatsstreich statt“…Spiegel

NRW V: Elitenförderung statt Bildung für alle…Zeit

Dortmund: Pfänder ist „Ombudsmann PCB“…Ruhr Nachrichten

Dortmund II: Aufsichtsräte für weitere 49 Prozent Steag-Anteile…Der Westen

Duisburg: 67 statt 84 Grundschulen würden reichen…Der Westen

Unis: Musikjournalismus in Dortmund studieren…Zeit

Umland: Erneute Fragen zu PFT…Zoom

Religion: Konservative gehen auf Lammert los…Bild

Blogs: Bücher 2010 & Empfehlungen für 2011?…Muschelschubse

Lesung Pfeffer Stahl Rottstr.5

Morgen liest unser Autor  Carsten Marc Pfeffer im Rottstr. 5 Theater in Bochum.

Es gibt eigentlich nur gute Gründe, ins Rottstr. 5 Theater zu gehen: Die Stücke, die Konzerte oder die Lesungen. Eine Lesung findet morgen statt:  Carsten Marc Pfeffer und Enno Stahl tragen ihre Texte vor. Und danach wird mit einem waschechten Germanisten über die Gegenwartsliteratur diskutiert. Das Angenehme am letzteren ist, dass man dazu Bier trinken kann. Ein unglaublicher Vorteil gegenüber den Germanistikseminaren, an die ich mich erinnern kann.

Hier der offizielle Ankündigungstext – Es wird ein Abend für Schwerstintellektuelle:

Um in einer Welt der medialen Vielfalt noch literarische Texte zu schreiben, die Unmittelbarkeit erzeugen und Relevanz besitzen, bedarf es immer wieder der Suche nach neuen Formen. Enno Stahl und Carsten Marc Pfeffer begeben sich – auf ihre je eigene Art und Weise – auf die Suche nach neuen Ausdrucksformen.

Enno Stahl:

Wenn es nach dem 1962 in Duisburg-Rheinhausen geborenen Schriftsteller, Essayisten, Performer und promovierten Literaturwissenschaftler Enno Stahl geht, dann kann die Literatur nicht genug verschiedenartige und innovative Schreibweisen ausbilden, um der literarischen Rede eine Präsenz zu verleihen. Schon seit Mitte der 1980er Jahre veröffentlicht Stahl Romane, Novellen und Gedichte, die rigoros mit den konventionellen Formen brechen und den Versuch darstellen, Kunst und Leben zu verschalten. Stahl war zudem Mitherausgeber der Literaturzeitschrift „ZeilenSprung“ (1985-1991), aus der 1988 der KRASH Verlag hervorging, dessen Programm z.B. aus „Literatur-Tapes“, „Multiples“, „Buch- und Textobjekten“ und „Kartonromanen“ bestand. Während Stahls Roman „Peewee rocks“ (erschienen 1997 KRASH-Verlag) aus „3 Gossenheften“ im Pappschuber besteht und sich durch eine atemberaubende „High Speed Prosa im Steno-Stil“ auszeichnet, besteht „Heimat & Weltall“ (2009) aus zwei Zyklen, die sowohl die frühere und aktuelle Lebenswelt als auch mögliche Zukunftsvisionen literarisch erkunden. Enno Stahl wird an diesem Abend zu seiner versprochenen „Werkschau im Ruhrgebiet“ anheben.

Carsten Marc Pfeffer

Der Bochumer Blogger, Musiker und Dramaturg Carsten Marc Pfeffer ist in der schöpferischen Zerstörung von literarischen Formen geübt und souverän. Für sein Ruhr.2010- Tagebuch „A Local Heroe´s Diary“ erfand er die „Nouvelle Digitale“, eine zeitgemäßen Internet-Literaturgattung, die den Prinzipien der Hermeneutik folgend, die Kommentarfunktion in den Textprozess miteinfließen lässt. Carsten Marc Pfeffer wird Auszüge aus seinen gefeierten Ruhrbarone-Blogs lesen. Mit dabei sind die Texte: „Ein Fest für Boris (A-Seite)“ und „Journalist in Resistance“.

Podiumsdiskussion

In einer anschließenden Podiumsdiskussion wird der Germanist Markus Tillmann mit beiden Autoren über die Situation deutschsprachiger Gegenwartsliteratur und die Suche nach neuen literarischen Formen sprechen.

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Vollautomatischer Journalismus

Eine Marotte hat sich in der Fußball-Berichterstattung ausgebreitet. Man sagt nicht mehr, dies und das habe sich in der ersten Halbzeit ereignet, sondern „in Halbzeit eins“. Folglich fällt ein Tor auch nicht mehr in der 57. Minute, sondern in „Minute 57“. Wobei Pedanten trefflich darüber streiten könnten, ob dies denn exakt ein und dasselbe sei.

Aber egal. Klingt ja ungemein lässig. Wozu noch mühsam Worte beugen und ins Satzgefüge einpassen, wenn’s auch mit bloßer Nennung und Reihung getan ist?

Doch derart maul- und tastenfaule Sportjournalisten werden sich wundern. Gerade weil auf diesem Feld die allermeisten Floskeln verwendet werden, hat das Intelligent Information Laboratory in Evanston (nahe Chicago) bei ihnen angesetzt. Das dort kreierte Programm „Stats Monkey“ ist bereits in der Lage, aus online verfügbaren Basisdaten (Teams, Spielernamen, Treffer, Zeitraster, Resultat) und fleißig gesammeltem Sportvokabular lesbare Berichte zu basteln, passende Überschrift inklusive. Natürlich lässt sich auch bestimmen, dass der hochgezüchtete Automatismus mehr oder weniger maßvoll die Perspektive dieses oder jenes Vereins einnimmt.

Gruselige Aussichten, nicht wahr? Zumal andere Institute drauf und dran sind, einfachere Wirtschafts- und Börsenberichte ohne weiteres Zutun menschlicher Journalisten zu generieren. Ja, selbst an Kinokritiken wagt man sich. Hier gibt es gleichfalls eine Datenbank mit gängigen Wendungen. Sodann werden positive mit negativen Ansichten gleichsam nach Proporz abgewogen, bis das System zu einer mittelprächtigen Meinung gelangt, die jeder persönlichen Färbung entbehrt. So war es jedenfalls bei ersten Tests. Auch da ließen sich allerdings ganz andere Befehle geben, sozusagen nach Mustertafel: „Erstelle Verriss / Formuliere Lobhudelei / Brich Polemik vom Zaun“.

Selbstverständlich haben einige Verleger bereits Interesse signalisiert. Manche dürften demnächst ins Zeitalter des Roboter-Journalismus einsteigen, zumindest probehalber. Werden Journalisten aller Sparten also nach und nach überflüssig? Die jungen US-Forscher wiegeln ab und behaupten, dass es hier lediglich ums journalistische Graubrot gehe. Medienmacher, denen lästige Arbeiten abgenommen werden, bekämen dadurch den Kopf frei für edlere Aufgaben: Kommentare, Analysen, Debatten, investigative Recherchen. Schön wär’s.

Doch wer heute im Lebensjahr fünfundzwanzig steht und Journalist werden will, darf sich jetzt ein paar zusätzliche Gedanken machen. Darauf Brief und Siegel am heutigen Wochentag eins.

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Nachtrag: Hiermit versichert der Autor, keine Maschine zu sein. *krrrrxxx*

Protest gegen Erdgasförderung

Am vergangenen Mittwoch stellte ExxonMobil in Münster seine Pläne zur Erdgasförderung in NRW vor. Das Unternehmen hofft auf Milliardenumsätze. Die zahlreichen Kritiker konnte das Unternehmen nicht überzeugen.

Jeder der fünf Regierungsbezirke in NRW hat einen Regionalrat und gemeinhin wirken diese politischen Gremien im Verborgenen. Weder Medien noch Bürger interessieren sich für die Arbeit der dort engagierten Politiker. Das war am vergangenen Mittwoch in Münster auf einer Sondersitzung des Regionalrates anders. Dort stelle das Energieunternehmen ExxonMobil seine Pläne zur Erdgasförderung vor. Im Sitzungssaal herrschte drangvolle Enge. Gekommen waren vor allem Gegner der Erdgasförderung im Münsterland.

In NRW lagern bis zu 2200 Kubikkilometer Erdgas. Neue Fördermethoden und gestiegene Gaspreise haben das Interesse der Industrie geweckt, sich die schwierig zu fördernden Gasvorkommen näher anzuschauen. Bekannt sind sie seit Jahrzehnten.

Kurz nach bekannt werden der Pläne mehrerer Energieunternehmen, mit Probebohrungen die in den Kohleschichten gebundenen Erdgasvorkommen zu erkunden, hatten sich bereits zahlreiche Bürgerinitiativen gebildet. Ihre große Sorge sind mögliche Umweltschäden bei den Probebohrungen und der späteren Ergasförderung. Denn im Gegensatz zu herkömmlichen Gasvorkommen werden die Lagerstädten im Münsterland durch den Einsatz von Chemikalien erst förderfähig gemacht werden. Sowohl in Niedersachsen als auch in den USA kam es dabei zu teilweise schweren Belastungen des Grundwassers.

Gernot Kalkoffen, Vorstandsvorsitzender von ExxonMobil, gab sich gemeinsam mit seinen Mitarbeitern alle Mühe, die Sorgen zu zerstreuen. Eine Probebohrung in Nordwalde hat das Unternehmen beantragt. Detailliert wurde die Anlage erläutert und versprochen, die Kritiker in jeder Phase einzubeziehen.

Die stört schon, dass die Erdgasförderung in Deutschland dem Bergrecht unterliegt. Das aus dem 19. Jahrhundert stammende Bergrecht kennt beispielsweise keine Umweltverträglichkeitsprüfung und auch Bürgerbeteiligung galt nicht viel im alten Preußen.

Ein Grund, warum Gerd Bollermann, der für Bergbau in ganz NRW zuständige Regierungspräsident aus Arnsberg, auch eine Initiative auf den Weg gebracht hat, das Bergrecht zu überarbeiten. Seine Behörde versprach zudem die Pläne ExxonMobils von einem Experten wissenschaftlich begleiten zu lassen, der auch von den  Kritikern akzeptiert wird. Auch die Landesregierung kam den Gas-Gegnern entgegen und verlangt nun eine Wasserrechtliche Prüfung auch bei den Probebohrungen. Bislang war das nicht nötig.

Die Gegner konnte das nicht überzeugen. Adolf Denner aus Hiltrup, Mitglied einer Anti-Erdgasinitiative aus Steinfurt: „Viele Detailfragen, wie  die genauen Chemikalien, die zum Einsatz kommen werden, blieben offen. Ich habe meine Meinung nicht geändert.“

Vor ExxonMobil liegt noch viel Überzeugungsarbeit.

Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version in der Welt am Sonntag

Der Ruhrpilot

Norbert Röttgen

NRW: Röttgen steckt in der Neuwahl-Falle…RP Online

NRW II: Doch kein schnelles Rauchverbot…Köln.de

NRW III: „Schwarz-Grün ist noch nicht tot“…RP Online

NRW IV: Schwarze Verwerfungen…Post von Horn

NRW V: Sind die erfolgreiche Städte arm dran?…Bild

NRW VI: Röttgen bietet Schulfrieden an…Westfalen-Blatt

NRW VII: Exxon hofft auf Milliardenerlöse und tausende Jobs…Handelsblatt

Ruhrgebiet: Städte und private Entsorger streiten um Müll…Der Westen

Umland: Der Kölner, der mit Antisemitismus vorm Dom nervt…Welt

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letzte Woche / diese Woche (kw4)

Letzte Woche ist mir aufgefallen, dass ich in dieser Kolumne schon wieder diesen marktschreierischen Ton angeschlagen habe. Vielleicht dachte ich, das macht man hier so. Vielleicht wollte ich auch nur darauf aufmerksam machen, dass ich „wieder da bin“. Jedenfalls ging und geht mir permanent das Thema nicht aus dem Kopf, wie speziell im Ruhrgebiet eng miteinander verknüpft ist, dass Menschen vor allem fremder Herkunft hier Fronarbeit geleistet haben und dass ein gewisses Maß an Verwirrung und Entfremdung dem über viele Jahrzehnte zugespielt hat. Und dann fragte ich mich: Was ist heutzutage anders? Die Antwort ist: wenig.

Ich habe dann einmal in einem Klassiker der Cultural Studies nachgelesen, namentlich bei Stuart Hall. Sein Aufsatz „Kulturelle Identität und Globalisierung“ enthält die schöne Fragestellung: „Werden nationale Identitäten homogenisiert? Kulturelle Homogenisierung lautet der angstvolle Schrei derjenigen, die davon überzeugt sind, dass die Globalisierung unsere nationalen Identitäten und die ‚Einheit‘ der Nationalkultur zu unterminieren droht. Dieses Bild ist jedoch als eine Sichtweise der Identitäten in einer spätmodernen Welt so zu einfach, vergröbert und einseitig.“ Genau. Wobei „nationale Identitäten“ ja wohl nur für Leute interessant sind, die bestimmte Probleme haben. Ich hab dann direkt das Buch weggelegt und mir „Auf verlorenem Posten“ von Slavoj Žižek zugelegt.

Ein alter Studienfreund von mir hat mal bei Žižek gearbeitet. Ich muss den mal fragen, ob dieser Mann vielleicht Marxist, aber kein Kommunist ist. Vielleicht sieht er sich ja als Sozialist oder so etwas. Er schreibt sogar an einer Stelle etwas, das man so auslegen könnte, dass er unter bestimmten Umständen auch einem national orientierten Sozialismus nicht abgeneigt ist – natürlich nur als eine „historische Übergangsphase“. Und er sagt auch (indirekt) etwas über Tunesien und all die anderen Staaten, um die es letzte Woche und diese Woche geht. Nämlich: „Wenn Schwellenländer ‚vorzeitig demokratisiert‘ werden, kommt es zu einem Populismus, der in die wirtschaftliche Katastrophe und zu einem politischen Despotismus führt – kein Wunder, dass die derzeit wirtschaftlich erfolgreichsten Länder der Dritten Welt (Taiwan, Südkorea, Chile) die Demokratie erst nach einer Zeit der autoritären Herrschaft ganz angenommen haben.“ Und dann erklärt er uns noch ein wenig, was China da eigentlich gerade macht. Diese distanzierten marxistischen Analysen helfen ihm anscheinend gut dabei, mit der Jetztzeit klarzukommen. Und ich weiß jetzt auch, was die immer alle mit „Neo-Liberalismus“ meinen.

Neo-Liberalismus ist nämlich, wenn alle sich so frei fühlen, dass sie das den anderen auf jeden Fall auch aufzwängen müssen. Und das kommt natürlich, seit das Private politisch ist und umgekehrt, nicht nur in den besten Familien, sondern auch in anderen kleinen Systemen vor. Und deshalb können sich die ganzen „befreiten“ Individuen, ob jetzt Ruhr-Migranten zur Industrialisierung, die post-faschistische deutsche Nachkriegsjugend ff., die Ex-DDR-Bürger, Sie und ich permanent mit total vielen Idiosynkrasien und Vorlieben beschäftigen, solange das doch bitte nur unter der Prämisse passiert, dass bloß jedem und jeder das Seine und Ihre zu gewähren sei. So sieht nämlich in Europa die spezielle Mischung aus Faschismus-und-Folgen und einer gewissen Marktradikalität bzw. Liberalisierung aus. Und weil da kaum jemand noch andere Maßstäbe hat als diesen diffusen Freiheitsbegriff, der eineN aber nicht rauslässt aus bestimmten Gewohnheiten, deshalb sind alle beständig so verwirrt und müssen total viel kaufen, Fernsehen oder Internet gucken und anderes komisches Zeug in sich (und andere) rein stopfen. Kein Wunder, dass das manchen merkwürdig vorkommt, die noch nicht so lange in der Gegend sind.

Ach ja: Und als ich dann aus einer Ausstellung zu Migration kam, letzte Woche, wollte ich bescheuerterweise zuhause noch einmal einen Blick in vergangene Zeiten werfen und kramte meine Roberto Rossellini Box hervor: „Paisà“, „Deutschland im Jahre Null“, „Stromboli“, „Reise in Italien“. Und mir fiel auf, dass mein Vater gesagt hatte: „Dass Du diese Zeit nur über Filme …“ Und mir fiel ein, dass all das eine Ästhetisierung des Grauens ist. (Kurz vorher ging es in einem Gespräch auch darum, wie Musealisierung auch eine Ästhetisierung von Schicksalen und Gräueln sein kann.) Und ich war froh, dass ich mich all dem nicht nur über Filme nähern kann, sondern dass ich mich täglich damit auseinander setzen kann, wie wer heutzutage wieder in irgendwelche Kästen gestellt wird, damit andere ihre eigene, verwirrte Art von Freiheit leben können, zum Beispiel durch die „Erschließung“ von Märkten und Arbeitskräften. Diese Woche wird wieder voll sein von diesbezüglichen Nachrichten.

Fotos: Jens Kobler (Oberes feat. „Manscape“ von Wire – am 28.02. wieder in Köln! Unteres nach „A Design for Life“ von den Manic Street Preachers. Auch gut: Deren Cover von „We are all bourgeois now“ von McCarthy)

Das Murren der Komissköppe und das Gezeter über den Schnellschuss-Minister

Verteidigungsminister Guttenbergs Entscheidung, Norbert Schatz als Kommandanten der Gorch Fock mit sofortiger Wirkung abzuberufen, ist von der liberalen Presse und der parlamentarischen Opposition heftig kritisiert worden. Er habe „den Kapitän der Gorch Fock gefeuert“, schreibt der Westen, „um sich selbst zu retten“. Die Süddeutsche Zeitung, Spiegel Online und viele andere verweisen darauf, dass Guttenberg noch am Freitag erklärt hatte, erst die Untersuchungsergebnisse abwarten zu müssen, heute dann aber eine „rasche Entscheidung“ (Spiegel) getroffen habe, die „kein Führungsstil“ (SZ) sei. Von einer „übereilten“, gar „hastigen“ Personalentscheidung spricht der Westen, die zeige, „wie sehr der Minister unter Druck steht“. Außerdem gingen die „gewiss erdrückenden Vorwürfe“ ausschließlich auf „Medienberichte“ zurück. Gemeint ist die Bildzeitung.

Auch SPD und Grüne attackierten Guttenbergs Vorgehen. Grünen-Verteidigungsexperte Omid Nouripour, der mit dem Führungsstil und den Medienberichten als Entscheidungsgrundlage den liberalen Medien offenbar die Stichworte geliefert hatte, fällte das vernichtende Urteil über Guttenberg: „Das ist beliebig“. Und SPD-Fraktionschef Steinmeier erwartet vom Minister, dass dieser nicht wieder (!) Sündenböcke suche, sondern „dass er dieses Mal Manns genug ist, seine eigenen Fehler dann auch als solche  einzugestehen.“
So können wir es im Spiegel-Online-Artikel lesen, der die Überschrift trägt: „Der Schnellschuss-Minister“. Selbstverständlich werden auch die ARD-Tagesthemen etwas zum Thema machen; angekündigt ist ein Beitrag mit dem Titel – dreimal dürfen Sie raten, richtig: „Der Schnellschuss-Minister“.

Es ist nicht abzustreiten: wenn der Verteidigungsminister gestern ankündigt, erst Untersuchungsergebnisse abwarten zu wollen und heute Herrn Schatz feuert, ist es die Pflicht der Opposition wie der Presse, hier kritisch nachzuhaken. Und wenn Herr Nouripour die ganze Sache ein wenig koordiniert, kann man nur sagen: gute Arbeit. Auch wenn Herr Steinmeier es für angemessen hält, seinen häufig bemühten „Anstand“, weil es hier um Komissköppe geht, ganz martialisch durch ein „Manns genug“ zu ersetzen, mag man es als seine Sache abtun, wie er gedenkt, sich als Kanzlerkandidat der SPD zu profilieren. Wenn er jedoch mit den Wörtchen „diesmal“ und „wieder“ ganz diskret einen Vergleich zieht zum vom Oberst Klein befohlenen Luftangriff am 4. September 2009, dann beweist dies, dass Steinmeier im Grunde das Massaker von Kundus bis heute nicht verstanden hat.

Der Tod der jungen Kadettin auf der Gorch Fock war vermutlich ein Unfall, vielleicht – wie die Mutter klagt – lag auch fahrlässige Tötung vor. Ein Vergleich mit dem Gemetzel von Kundus verbietet sich von vornherein. Herrn Guttenberg zu kritisieren, kann eigentlich nie verkehrt sein. Dass er jedoch dafür kritisiert wird, dass im Zuge der Kundus-Afffäre zwei deutsche Generale ihren Job verloren hatten, stimmt allein deshalb nachdenklich, weil dabei irgendwie unter den Tisch fällt, dass bei Kundus mehr als Hundert Zivilisten ihr Leben verloren hatten. Und doch: das, was über den Kapitän Schatz zu erfahren ist, und sei es auch „nur“ aus Medienberichten, sollte allemal ausreichen, Guttenberg nicht ausgerechnet dafür zu schelten, diesen Kerl suspendiert zu haben.

Na sicher hat Guttenberg so gehandelt, um sich selbst zu retten. Was ist das denn bloß für ein bescheuerter Vorwurf?! Zweifellos zeigt sein Herumeiern in einer der gegenwärtig drei aktuellen Affären, die den Verteidigungsminister beschäftigen, dass der Superstar der deutschen Politik gnadenlos überschätzt wird. Gut so. Man mag darüber schreiben. Dass aber liberale Medien und rot-grüne Politiker den Eindruck erwecken, diesem Kommandanten Schatz könne womöglich Unrecht widerfahren sein, stellt ein unerträgliches Anbiedern an den Corpsgeist der Bundeswehrführung dar. Schnellschuss-Minister … – Bei so einem Typen wie Schatz kann man gar nicht schnell genug schießen. Und wenn Guttenberg jetzt geschossen hat, wie auch immer und warum auch immer, dann kann man ruhig einmal schreiben: gut getroffen, Kleiner!

Keine Sorge! Man macht damit keine Reklame für diesen ach so beliebten, angeblich so sympathischen Nachwuchsstar. Im Gegenteil: wer Guttenberg dafür kritisiert, diesen Schatz degradiert zu haben, macht sich gemein mit Herren, mit denen sich weder ein unabhängiger Journalist noch ein roter oder grüner Politiker gemein machen darf.