Pressefreiheit in Europa im Abwärtstrend

Als Berlusconi gestern (wieder mal) eine Vertrauensabstimmung im italienischen Parlament gewonnen hatte, erinnerte man sich daran, dass der Ministerpräsident nicht nur über die finanziellen Möglichkeiten verfügt, den einen oder die andere Abgeordnete zu kaufen, sondern dass er die drei größten Fernsehstationen schon vor langer Zeit gekauft hatte. Da der Regierungschef zudem über einen erheblichen Einfluss auf die drei staatlichen TV-Sender verfügt, hören und sehen die Italiener auf allen Kanälen Tag für Tag, was für ein toller Hecht ihr Berlusconi ist. Und die Italiener sehen nun einmal lieber fern, als Zeitung zu lesen. Auf einer Werbeseite für Italien heißt es ganz unbefangen: „Generell wird in Italien aber weniger Zeitung gelesen als im europäischen Vergleich, Fernsehen und Radio spielen dagegen eine größere Rolle.“

Dass es um die Pressefreiheit in Italien nicht zum Besten bestellt ist, hat keinen großen Neuigkeitswert. Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit, die die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ jedes Jahr erstellt, belegt Italien gegenwärtig den 49. Platz – gemeinsam mit Burkina Faso. Wer annimmt, bei Italien handele es sich um einen bedauerlichen Sonderfall, übersieht, dass zwar 13 der 27 EU-Mitgliedsstaaten unter den Top 20 vertreten sind, die anderen 14 aber deutlich weiter unten rangieren. Wer sich damit tröstet, dass es sich bei diesen 14 Staaten vorwiegend um osteuropäische Länder handelt, hat den Charakter der „Wertegemeinschaft“ Europäische Union nicht ganz verstanden – aber auch nicht ganz Unrecht.

Denn tatsächlich ist es um die Pressefreiheit in den nord- und westeuropäischen Ländern deutlich besser bestellt als in den süd- und osteuropäischen. Die skandinavischen Staaten Finnland, Island, Norwegen und Schweden stehen auf Platz Eins der Liste, ebenso wie die Niederlande und die Schweiz. Auch Österreich rangiert nur knapp hinter dieser Spitzengruppe. Deutschland ist auf dem 17. Platz schon ziemlich abgeschlagen; aber es ist noch ein recht ordentliches Ergebnis. 4,25 Punkte auf der Skala von 0 (die Spitzengruppe), Österreich hat 0,5 Punkte usw.: je mehr Punkte, desto weniger Pressefreiheit. Bis hin zu Nordkorea (104,75 Punkte), nur noch übertroffen von Eritrea (105 Punkte).

Verglichen damit sieht es freilich mit der Pressefreiheit gut aus in Europa. Aber will man sich damit vergleichen? Italien belegt – wie gesagt – den 49. Platz – von 178 Staaten, mit 15 Punkten. Und richtig: eine Reihe von südosteuropäischen Ländern ist noch schlechter platziert. Allein schon deshalb lassen sich die Defizite bei der Pressefreiheit nicht als italienischer „Sonderfall“ abtun. Überall in Europa geht es gegenwärtig abwärts. „Reporter ohne Grenzen“ warnt, dass die Europäische Union Gefahr laufe, ihre Führungsposition bei der Wahrung der Pressefreiheit einzubüßen. Bei der Präsentation des diesjährigen Berichts im Oktober erklärte ROG-Generalsekretär Jean-François Julliard gar: „Wenn die EU-Staaten keine Anstrengungen unternehmen, setzen sie ihre weltweit führende Position bei der Einhaltung von Menschenrechten aufs Spiel. Die europäischen Staaten müssen dringend ihre Vorbildfunktion wiedererlangen.“

Besonders besorgniserregend dabei: „Mehr denn je sehen wir, dass die wirtschaftliche Entwicklung, institutionelle Reformen und die Achtung der Grundrechte nicht unbedingt zusammen gehen „, so Julliard weiter. In einem Land zum Beispiel wird regelmäßig der übliche Genehmigungsweg außer Kraft gesetzt, wenn sich Geheimdienst und Polizei die Telefonrechnungen von Journalisten schicken lassen. Dabei berufen sich die Staatsorgane auf den gesetzlich geregelten Fall, dass „nationale Interessen“ berührt sind, womit sie eine „unabhängige Kommission“ ausschalten, die eigentlich jeden Zugriff genehmigen müsste. Stattdessen bespitzelt der Geheimdienst die Journalisten einfach so, erstellt anhand von GPS-Daten Bewegungsprofile, überwacht Handytelefonate und organisiert Einbrüche in Redaktionsbüros. Die wichtigen Posten in Medienunternehmen sind an persönliche Freunde des Staatspräsidenten vergeben, die wenigen unabhängigen Journalisten werden mit allen Mitteln in ihrer Arbeit behindert, nicht zuletzt auch deshalb, um die persönlichen Machenschaften des Präsidenten zu kaschieren.

Dabei handelt es sich bei diesem Land um eine der ältesten Demokratien Europas. Es liegt in Westeuropa, gehört zur EU, sogar zum Euroraum. Doch seit der gegenwärtige Präsident an der Macht ist, haben sich die Arbeitsbedingungen für Journalisten dramatisch verschlechtert. Jetzt rangiert das Land auf dem Index für Pressefreiheit hinter Ghana, Namibia und Papua Neuguinea. Es handelt sich um unseren großen Nachbarn im Westen. Auch das ARD-Magazin „ttt“ hatte kürzlich über die erschreckenden Bedingungen für Journalisten in Frankreich berichtet.

JMStV: Problembär Beck droht mit Sperrverfügungen

Kurt Becks rheinland-pfälzische Landesregierung hat den JMStV entworfen. Auf sein drohendes Aus reagiert der einstieg SPD-Vorsitzende mit Drohungen.

In einem  Text auf der Internetseite des Landes Rheinland-Pfalz zeigt sich Problembär Beck wütend über das Aus für den Jugendmedienschutzstaatsvertrag:

„Denn mit der Verweigerung der Zustimmung würde eine einmalige Chance vertan, mit freiwilligen Alterskennzeichnungen und den Einsatz von Jugendschutzprogrammen Kinder und Jugendliche vor verstörenden Inhalten im Netz zu schützen und gleichzeitig die Kommunikationsfreiheit der erwachsenen Nutzer zu erhalten.“

Und weil Beck es auch nicht mit der Selbstkritik hat, beginnt er zu drohen:

„Falls die Novellierung scheitert, wird der Weg der koregulierten Selbstregulierung nicht weiter beschritten, so dass die staatliche Regulierung von oben Platz greifen wird. Basierend auf den derzeitigen rechtlichen Grundlagen werden die Jugendschutzbehörden Sperrverfügungen erlassen.“

Beck ist ein alter Mann, der in der Gegenwart noch nicht angekommen ist. Er hält am Bild eines paternalistischen Staates fest, der so wie er ihn kannte, heute nicht mehr funktionieren kann. Und er sieht nicht, dass sein Kurs die SPD ins netzpolitische Abseits führte. Die SPD tut gut daran, Leute wie ihn und Eumann nichts mehr zum Thema Medien sagen zu lassen. Weinbau und Subventionsverschwendung beim Nürburgring sind doch auch sehr schöne Themen.

JMStV-Aus: Die rot-grünen Verlierer

So sehen Verlierer aus_ Marc Jan Eumann, Staatssekretär im Ministerium für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien Foto: Landtag NRW

Der JMStV ist Geschichte. Morgen wird der NRW-Landtag seine Zustimmung zu dem Vertrag nicht erteilen. Alle Fraktionen sind gegen seine Ratifizierung. Es hätte eine große Stunde für die Netzpolitiker von Grünen und SPD sein können. Es wurde die große Stunde der Union. Bleibt das ohne Konsequenzen?

Es war das erste große Projekt von Marc Jan Eumann (SPD). Der NRW-Medienstaatsekretär wollte den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag in der letzten Sitzung des Landtages im Jahr 2010 durchbekommen. Eumann stand hinter dem Vertrag und es sah lange Zeit so aus, als ob er Erfolg haben würde. Der Ober-Netzpolitiker der NRW-Grünen, der Landtagsabgeordnete Matthias Bolte war bereit zuzustimmen – aus staatspolitischer Verantwortung.

Nun sind beide gescheitert: Eumann ist als Staatsekretär für die Niederlage verantwortlich. Er hätte die Chance gehabt, die rot-grüne Landesregierung im Bereich der Netzpolitik modern aufzustellen. Die Grundlage dazu hatten Menschen wie Jens Matheuszik vom Pottblog durch ihre Mitarbeit am Landtagswahlprogramm gelegt. Eumann verpasste die Chance, gab der Union ohne Not die Möglichkeit sich politisch zu profilieren und hat sich damit selbst disqualifiziert.

Dass er, als Vorsitzender der SPD-Medienkommission auch noch den Netzsperren-Befürworter , Musik-Lobbyisten und CDU-Sachverständigen  Dieter Gorny als Berater in die Kommission holte, zeigt, das Eumann im Moment der größte Ballast der Medien- und Netzpolitik der SPD ist. Ein Ballast, den die Sozialdemokraten möglichst schnell abwerfen sollten.

Als heillos überfordert erwies sich auch der Grüne Matthias Bolte. Früh ging er auf den Kurs von Eumann  ein. Seine Erklärung, man müsse dem Gesetz aus staatspolitischer Verantwortung zustimmen, war zu keinem Zeitpunkt mehr als aufgeblasenes Geschwätz, um die eigene Schwäche zu verdecken. Das ausgerechnet die Union und die FDP, deren Landesregierung ja an der Entstehung der Vertrages beteiligt waren, gemeinsam mir der Linkspartei Bolte eine Lektion zum Thema „Unabhängigkeit des Parlaments“ erteilen mussten ist  peinlich. Das spürt man im Magen die Bedeutung des Wortes Fremdschämen.

Bolte und Eumann haben ihren Parteien geschadet. Der eine, Eumann, aus Überzeugung, der andere, Bolte, aus purem Opportunismus.

Versager auf ihren Politikfeldern sind sie beide.

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Obdachlosenmagazin Bodo sucht neue Räume

Das Obdachlosenmagazin Bodo sucht neue Räume. Und langsam wird es eng.

Noch haben der Redaktion und der Verein des Obdachlosenmagazins Bodo Räume im Hochbunker am Springerplatz in Bochum. Doch der wird renoviert, alle Mieter müssen raus. Schon seit längerem such Bodo neue Räume – scheiterte aber bislang an der Ignoranz der Vermieter.

Jetzt hat Bodo noch sechs Wochen Zeit, neue Büros zu finden. Wenn jemand etwas weiß, kann er sich ja bei dem Verein melden. Übrigens: Bodo ist mittlerweile ein richtig gutes Magazin geworden. Schöne Reportagen, ein breites Themenspektrum – unter der Leitung von Bastian Pütter hat sich Bodo sehr gut entwickelt. Damit gibt es mehrere gute Gründe, Bodo zu kaufen.

Kontakt:

www.bodoev.de

Der Ruhrpilot

Laute laue Abgeordnete im Landtag

JMStV: Jens gefällt die NRW-CDU…Pottblog

JMStV: NRW-CDU will Staatsvertrag kippen…WDR

Alice Schwarzer: „Ich rede über Islamismus“…Der Westen

Alice Schwarzer II: …ist jetzt Ruhrpott-Professorin…Bild

Steag: Kommunen schaffen sich einen Stromriesen…Zeit

RWE: Alle Standorte bleiben…Der Westen

Ruhr2010: „Es war schön und zu schnell zu Ende“…Der Westen

Bochum: „Große Bedenken gegen Steag-Kauf“…Der Westen

Bochum II: notstand-Bücheraktion 2010…Bo Alternativ

Dortmund: Neues vom Unabhängigen Zentrum…UZDO

Wikileaks: Immanuel Kant 2.0…DL

Umland: Creative-Commons-Party “CreativeChaos” am 18.12.2010 in der Kreativfabrik…Netzpolitik

Umland: “butsch, butsch – zweimal ins Gesicht” und andere Mentalitäten…Zoom

Mädelz & Technik: Trennen uns immer noch Welten?…Kaffee bei mir

Debatte: Ende des Antifaschismus…Jungle World

Update NRW: Stimmen von FDP, CDU und Linken reichen nicht zum kippen

Marc Jan Eumann, Staatssekretär im Ministerium für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien Foto: Landtag NRW

CDU, Linke und FDP werden in NRW gegen den JMStV stimmen. Was Rot und Grün machen ist allerdings nicht ganz egal: Sie haben normalerweise keine Mehrheit im Landtag. Morgen aber schon.

Neben der FDP und der Linkspartei wird auch die CDU im Landtag gegen den Jugendmedienschutzstaatsvertrag stimmen. Den hat sie selbst mit ausgehandelt. Netzpolitik meldet es gerade – es wurde von der CDU im Landtag bestätigt. Damit könnte der JMStV Geschichte sein – wenn nicht Rot-Grün ausnahmsweise eine Mehrheit hätte. Christian Söder hat uns in einem Kommentar darauf hingewiesen, dass morgen zwei Landtagsabgeordnete der Union fehlen: Rüttgers soll in Italien sein, ein weiterer ist krank. Es müssen also noch Stimmen von SPD und Grünen dazukommen. Und die beraten wie sie sich entscheiden werden. Sollte tatsächlich eine Mehrheit gegen den JMStV in NRW zustande kommen, wäre er Geschichte: Alle Länder müssen ihm zustimmen, damit er am 1. Januar 2011 in Kraft treten kann. Ohne Zustimmung aus NRW kein JMStV.

Ich hätte das nie für möglich gehalten. Es ist eine große Überraschung. Und es ist so unendlich peinlich für SPD und Grüne. Die wollten erst zustimmen, dann doch irgendwie diskutieren und zuletzt wohl wieder zustimmen. Und natürlich diskutieren. Nun sind sie blamiert – und würden mit einer Zustimmung zum JMStV gegen die Stimmen der Union den letzten Rest an netzpolitischer Reputation verlieren.

Ist Häme erlaubt? Ja. Besonders würde  mich die mögliche Niederlage für den Medienstaatssekretär Marc Jan Eumann (SPD)freuen, der im Hintergrund alles dafür tat, den JMStV durchzubekommen. Und ich muss mich für eine grandiose Fehleinschätzung entschuldigen. Aber damit, dass die Union kippt, konnte man nicht rechnen. Jörg-Olaf Schäfers schreibt auf Netzpolitik treffend: „Hell freezes over!“

Sepp Herberger hatte doch Recht: Das Spiel dauert 90 Minuten :-).

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Die EstNische (9): Schnee-Fall

Irgendwann wird Schnee zum logistischen Problem. Das Zeug will einfach nicht in der Erde verschwinden, sich ins Grundwasser verflüssigen, bleibt liegen. Es stapeln sich Haufen auf Straßenlaternen oder Zaunpfosten, abenteuerliche Konstruktionen, für die der Este nicht so das Auge hat.

Er schippt. Und schippt. Und schippt. Es schneit noch, er schippt. Es wird gleich wieder schneien, er schippt. Richtiger müsste ich schreiben, sie schippt. Bei meinen Spaziergängen durch die Schneewelt (->hier das Video) sehe ich Frauen, alte und jüngere, die zwischen den Haus- und Schneewänden dafür sorgen, dass wenigstens etwas Platz bleibt.

Gestern Nacht um drei waren es dann Männer, die ihren Transporter parkten, Werkzeug heraus holten, feixten und im Nachbarhof Eisplatten zertrümmerten, Schnee und Eis mit Schubwannen wegschoben oder auf einen zwei Meter hohen, zehn Meter, vier Meter langen Berg warfen. Heute sah ich Lastwagen, mit dem Schnee verbracht wird, sogar einen geschlossenen Lieferwagen, den Männer mit Schnee füllten. Ich weiß nicht, wohin sie ihn bringen, den Schnee, was sie damit machen. Lagern sie Wildbrett? Machen sie Bier? Wird der Schnee in einem Hangar mit Heizstrahlern einfach vernichtet? Ich habe etwas Angst. Aber letztlich heißt es: Wir oder der Schnee. Wer macht sich breiter?

Die Wege auf denen Menschen laufen können und Wagen fahren, werden enger, die Schneemauern dicker. Es ist ein Überlebenskampf. Und Monika war erst der Anfang. Es ist Mitte Dezember. In Estland nennt man den Sommer auch: zwei lausige Monate fürs Skifahren. Zwei! Meine Angst wird größer.

Andererseits, Tallinn leuchtet, das Eis glitzert, der Schnee weckt Schauma-Erinnerungen, als Schäume noch Träume waren und kein Nitrat, saure Böden, Weichmacher. Ich bin auf Zigaretten mit weißem Filter umgestiegen, um den Gesamteindruck nicht zu stören. Nur beim Rauchen aus dem Fenster unserer Nichtraucherwohnung, beuge ich mich nicht zu weit vor, schaue nicht nach oben, zu den mörderischen Eiszapfen, Damokles‘ Schwerter.

Ich sehe mich schon gepfählt, wie ich nach dem Schlag überkippe, das eisige Metall der Fensterbank greife, abrutsche, noch am Band eines Meisenknödels hänge, dann falle und verzweifelt versuche, in einem Schneeberg zu landen … Ich kann mir das gut vorstellen, weil ich es sah. Vor dem Schnee.

Nebenan stürzte einer vom Dach, als er die Dachrinne von Herbstlaub reinigen wollten, der Wasserstrahler blieb oben liegen, er stürzte sieben Meter auf das Pflaster. Ich hörte den Aufprall, sah wie der Dacharbeiter aufstand, die Farbe aus seinem Gesicht wich. Er saß im Kofferraum seines Kombis mit einer Decke umwickelt, von einer Nonne umsorgt und wartete auf den Krankenwagen, wimmerte, zitterte. Mein Fenster zum Hof.

Auf dem Platz vor dem Rathaus steht ein großer Weihnachtsbaum. Ein Typ aus Bremen verkauft deutsche Bratwurst (aus Tartu) und deutschen Glühwein (aus spanischem Rotwein). Abends stinkt er nach Wurst und ist trotzdem sauglücklich, weil die Geschäfte gut laufen. Auf dem Weihnachtsmarkt, mühsam frei geräumt von den Schneemassen, spielen sie wie zuhause „I’m dreaming of a white christmas“. Dann doch lustig.

* 2010, Ruhrgebiet ist Geschichte. Das kommmende Ding heißt Tallinn 2011, Geschichten von der Küste. Und ich bin dabei. Mit Geschichten vom Meer, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Richard Holbrooke ist tot

Richard Holbrooke ist tot. Er starb gestern während einer Operation an seiner Halsschlagader im Alter von 69 Jahren. Barack Obama bezeichnete ihn als einen „wahren Giganten der US-Außenpolitik“, David Petraeus würdigte ihn als einen „Titanen“, Joe Biden nannte ihn den „talentiertesten Diplomaten seiner Generation“ und Hillary Clinton – vergleichsweise nüchtern – den „entschiedensten Verteidiger und treuesten Diener Amerikas“. Jetzt, nach seinem Tod, werden sich die anerkennenden Worte häufen. Dabei kann man über Holbrooke vieles sagen, nur eines nicht. Richard Holbrooke war nicht sonderlich umgänglich. 

Holbrooke war nicht der Typ von Kumpel, den man ständig um sich haben möchte. Und ob er, wie Biden formulierte, ein talentierter Diplomat war, ist letztlich eine Definitionsfrage. Obama hatte Holbrooke, dessen Beauftragter für Afghanistan und Pakistan er war, engmaschig kontrolliert, da Holbrooke ständig mit dem außenpolitischen Apparat im Weißen Haus aneinander geraten ist. Petraeus waren Holbrookes Bemühungen um eine Einbindung der Taliban in einen Aussöhnungsprozess ohnehin äußerst suspekt. Holbrookes tiefe Verachtung für Karzai war allgemein bekannt. 

Einzig Hillary Clinton stand in letzter Zeit voll auf seiner Seite; Holbrooke war ein enger persönlicher Freund der Clintons. Als er letzten Freitag im Büro der Außenministerin Bericht erstattete, platzte ihm die Halsschlagader. Holbrooke soll seine Beschwerden zunächst heruntergespielt haben, bevor er auf dem Weg zum Arzt zusammengebrochen ist. Der Riss an der Aorta wurde letzte Nacht 20 Stunden lang operiert. Richard Charles Albert Holbrooke, so sein vollständiger Name, überlebte die Operation nicht. 

In den Vereinigten Staaten ist es üblich, den Vornamen Richard auf die Kurzform „Dick“ zu reduzieren. Holbrooke mochte das nicht. Weniger wegen der obszönen Verwendung des Wortes für das männliche Geschlechtsteil, was ja dann alle Richards stören müsste. Vielmehr deshalb, weil unter einem „Dick“ ebenfalls ein unangenehmer Mensch verstanden wird. Man denke an den deutschen „Dickkopf“. Die „Naturgewalt der US-Diplomatie“ wollte nicht mit „Dick“ angesprochen werden; dabei konnte Holbrooke verdammt unangenehm werden. 

Unvergessen ist Holbrookes Rolle beim Zustandekommen des Dayton-Abkommens, das die Gräuel des Bosnienkrieges beendete. „Diese Soldaten“, stellte Holbrooke US-Militärs in Belgrad Slobodan Milošević vor, „befehligen die amerikanischen Luftstreitkräfte, die bereit stehen, Sie zu bombardieren, wenn wir nicht zu einer Einigung gelangen“. In Dayton (Ohio) pflegte er den serbischen Diktator anzuschreien und übte auch auf die anderen Konfliktparteien einen solch enormen Druck aus, dass ihnen ein Friedensabkommen als das kleinere Übel erscheinen musste – kleiner jedenfalls, als länger ihn ertragen zu müssen. 

Mit Richard Holbrooke verlieren die USA einen einmaligen Außenpolitiker – einmalig, aber doch ein Mann der „alten Schule“, insofern, als dass sein Denken und Handeln vornehmlich von der Zeit geprägt war, in der die Vereinigten Staaten als einzig verbliebene Supermacht meinten, der Welt ihren Willen aufdrücken zu können. Es zählt zu den bleibenden Verdiensten Holbrookes, nach dem dramatischen Versagen Europas das Gemetzel in Bosnien beendet und damit seinen Teil dazu beigetragen zu haben, dass der Balkan (jedenfalls bislang noch) nicht in einem mörderischen Chaos versunken ist. Jahrzehntelang war Holbrooke für den Auswärtigen Dienst tätig, u.a. war er 1993 für neun Monate Botschafter der USA in Bonn. 

Holbrookes Mutter Trudi Moos war 1933 nach der Machtergreifung der Nazis mit ihrer Familie von Hamburg nach Buenos Aires emigriert. 1939 wanderte sie dann in die USA ein, wo sie Holbrookes Vater kennenlernte, der Ende der 30er Jahre aus Weißrussland in die USA ausgewandert war. Holbrooke hinterlässt eine Frau und zwei erwachsene Söhne.