Kopten wollen keine Schutzbefohlenen sein

Boules Shehata

Am vergangenen Donnerstag feierten die koptischen Christen in Nordrhein-Westfalen unter Polizeischutz das Weihnachtsfest.

Schon lange bevor der eigentliche Weihnachtsgottesdienst begann, hatten sie sich versammelt. Ein gutes Dutzend koptischer Gläubiger war in der St. Maria Kirche in Düsseldorf Grafenberg zusammen gekommen, um zu beten. Der Hauptraum der schmucklosen ehemaligen evangelischen Kirche ist mit Ikonen verziert. Es riecht nach Weihrauch. Liturgischer Gesang erfüllt den Raum. Heute wird es voll werden, voller als sonst. Da ist sich Habib Reda, der Geschäftsführer der Gemeinde sicher: „Wir werden heute ein starkes Zeichen der Solidarität erleben. Es werden nicht nur koptische Gläubige kommen sondern auch viele Menschen, die nach dem Anschlag in Ägypten ein Zeichen der Solidarität mit den Kopten setzen wollen.“

21 Kopten starben am 1. Januar nach dem Besuch einer Messe in Alexandria durch einen Bombenanschlag. Die Attentäter kamen wohl aus dem Umfeld der islamistischen Terrororganisation Al Qaida. Es war der größte Terroranschlag auf Kopten in Ägypten seit 2000, als im Süden des Landes ebenfalls 21 Christen getötet wurden.

Doch auch Abseits solch spektakulärer Anschläge werden die koptischen Christen in Ägypten, die bis zu 10 Prozent der Bevölkerung der 80 Millionen Einwohner des Landes stellen, von Verfolgung und Diskriminierung geprägt. Anschläge auf Kopten und ihre Kirchen gehören in Ägypten seit Jahrzehnten zum Alltag. Häufig werden sie von der Polizei nicht einmal geahndet.

In Ägypten, in dem der Islam Staatsreligion ist, haben Kopten zudem immer schlechtere berufliche Chancen. Viele von ihnen leben am Existenzminimum. Im Staatsdienst, der in Ägypten stark aufgebläht ist und vielen Menschen das Einkommen garantiert, haben sie kaum eine Aufstiegsmöglichkeit.

Dabei sind die Kopten die Nachfahren der alten Ägypter. Ihre Sprache, die heute nur noch selten gesprochen wird, ging aus dem Ägyptisch der Pharaonen hervor. Ägypten, das war wie Syrien oder Jordanien, das Kernland des Christentums. Lange bevor Europa christianisiert wurde, hatten sich dort bereits christliche Gemeinden gebildet. Die Geschichte der Kopten geht bis auf das erste Jahrhundert nach Christus zurück. Als Gründer der Kirche gilt der Evangelist Markus, der auch der erste Bischof von Alexandria war.

Die fast zwei Jahrtausende alte christliche Tradition hält militante Islamisten jedoch nicht davon ab, die christlichen Ägypter zu verfolgen und es ist längst nicht nur Al Qaida, die Hatz auf sie macht. Auch in den normalen Moscheen sind Hasspredigten gegen Christen keine Seltenheit. Und die Verfolgung endet nicht an der Landesgrenze. Auch in Deutschland und in anderen Staaten werden die Kopten von Islamisten bedroht. Und so fand auch die Weihnachtsfeier in Düsseldorf wie überall in Deutschland unter Polizeischutz statt. Am Eingang wurden die Besucher kontrolliert. „Angst“, sagt der Geschäftsführer der Gemeinde Reda, „haben wir nicht, aber es ist bedrückend, wenn man, nur um einen Gottesdienst zu feiern, Sicherheitsvorkehrungen treffen muss.“

Und seine Tochter Sofie ergänzt: „Auf der einen Seite freue ich mich, weil Weihnachten ist. Auf der anderen Seite bin ich unendlich traurig wegen der vielen Menschen, die in Alexandria gestorben sind. Dieses Jahr feiern wir ein trauriges Weihnachtsfest.“

Von der Trauer vieler Kopten um ihre ermordeten Glaubensbrüder und -schwestern weiß auch der Pfarrer der Gemeinde, Boules Shehata. Wie er haben viele Mitglieder seiner Gemeinde ägyptische Wurzeln oder sind mit Ägyptern verwandt. Sie stellen, noch vor Eritreern und Sudanesen den größten Teil der geschätzten 6.000 Kopten in Deutschland.

Seit 1987 lebt Shehata in Düsseldorf. Er kam als junger Priester nach Deutschland, um die Gemeinde zu leiten.

„Viele aus der Gemeinde machen sich heute große Sorgen um ihre Freunde und Verwandten in Ägypten. Der Terror gegen die Kopten hat seit den späten 70er Jahren immer mehr zugenommen. Probleme gab es zwar auch vorher schon, aber es war kein Vergleich zu heute. Früher lebten wir Kopten halbwegs friedlich mit den Muslimen zusammen. Diese Zeit ist vorbei. Die Unterdrückung nimmt immer weiter zu.“

Und das nicht nur in Ägypten. Im ganzen arabischen Raum ist es für die Mitglieder der zum Teil  uralten christlichen Gemeinden immer schwerer geworden, zu leben. Radikale Islamisten haben sich die Vetreibung der Christen auf ihre Fahnen geschrieben, und die autoritären Regime der Region lassen sie aus Angst um ihr eigenes Überleben immer häufiger gewähren.

Auch in Deutschland hätten die Kopten in der Vergangenheit viele Probleme gehabt. Koptische Ägypter, die in Deutschland wegen der religiösen Verfolgung Asyl wollten, wurden in der Regel abgewiesen. „Die Behörden erklärten, in Ägypten bestehe Religionsfreiheit.“ Bei Mitgliedern der in Ägypten verbotenen Muslimbrüder hätte sich Deutschland indes, was die Anerkennung von Asylanträgen betraf, immer großzügiger gezeigt.

Die in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegründeten Muslimbrüder gelten als Begründer des modernen Islamismus. Ihr Vordenker, der Ägypter Sayyid Qutb, war zugleich der Inspirator islamistischer Terrorgruppen auf der ganzen Welt.

Doch Pfarrer Boules Shehata will nicht, dass die Kopten Ägypten verlassen. „Wir sind Ägypter, wir gehören in dieses Land und es muss auch weiterhin Christen in Ägypten geben.“ Jesus habe dort nach seiner Flucht aus Israel gelebt. Es gibt viele Heilige Stätten. „Sollen wir das alles aufgeben? Ich kann verstehen, wenn viele Kopten es in Ägypten nicht mehr aushalten und fliehen, aber das Ziel muss doch sein, dass wir dort als gleichberechtigte Bürger leben können. Ohne Diskriminierung und ohne Angst. Wir wollen auch keine Schutzbefohlenen sein.“ Schutzbefohlene, Dhimmis,  nicht gleichberechtige Partner auf Augenhöhe, ist der rechtliche Rang den der Islam Christen und Juden zugesteht.  Zumal es eine Illusion sei, dass Kopten in Deutschland ohne jede Sorge leben würden: „Unsere Kinder werden von ihren islamischen Klassenkameraden auch an deutschen Schulen beschimpft und bedroht. Sicher, die Lage ist mit der in Ägypten nicht zu vergleichen, aber es ist auch hier nicht immer einfach, ein Kopte zu sein und zum Glauben zu stehen.“ Auf Anfrage der Welt am Sonntag erklärte die Landesregierung, von solchen Vorkommnissen in NRW keine Kenntnis zu haben.

Aber es gibt bei aller Trauer um die Toten von Alexandria und die Bedrohung der Gemeinden im Ausland auch Zeichen der Hoffnung. In den Niederlanden haben such Muslime angeboten, die koptischen Gemeinden zu beschützen, und auch in Düsseldorf gab es am Donnerstag Zeichen der Solidarität. Aus anderen christlichen Gemeinden kamen Gläubige in die St. Maria Kirche um gemeinsam mit den Kopten das Weihnachtsfest zu begehen. Vom Zentralrat der Muslime kam der Vorsitzende, Aiman A. Mazyek gemeinsam mit seiner Frau und drei weiteren Vertretern nach Düsseldorf. Ganze Busladungen an gläubigen Muslimen hätte er zum Gottesdienst mitbringen können, allerdings sei ihm gesagt worden, wegen des hohen Andrangs könnten nur fünf Plätze für Abgesandte des Zentralrats bereit gestellt werden.

Mazyek: „Wir sind hier, um zu zeigen, dass die Terroristen gescheitert sind. Ihr Ziel war es, mit dem Anschlag auf die Kopten in Alexandria einen Keil zwischen die Religionen zu treiben. Das ist ihnen nicht gelungen.“

Das Verhältnis der Muslime zu den Kopten sei zudem traditionell ein besonderes: „Mitglieder der ersten Gemeinde Mohammeds in Mekka flohen noch zu seinen Lebzeiten nach Äthiopien und wurden  dort von den Kopten aufgenommen und geschützt. Das haben und werden wir nie vergessen.“

In Folge der Aufnahme wurden die äthiopischen Kopten von Mohammed persönlich vom Dschihad ausgenommen – gegen sie durfte kein heiliger Krieg geführt werden. Zu blutigen Kriegen kam es bei der islamischen Expansion nach Äthiopien hinein später trotzdem.

Mazyek sprach sich für einen Bestand der koptischen Gemeinden in Ägypten aus: „Die Kopten sind unsere Brüder und Schwestern. Natürlich haben sie wie jeder ein Recht, ihren Glauben zu leben.“

Auf die Frage, ob denn die koptischen Brüder und Schwestern wirklich gleich berechtigt sein sollten, wie es auch Shehata fordert, und nicht nur Schutzbefohlene, antwortet der eloquente Islamfunktionär, der auch Delegierter der alljährlich in Kairo von der ägyptischen Regierung ausgerichteten internationalen Islamkonferenz ist, ausweichend. Die Frage nach der Rolle der Schutzbefohlenen im Islam sei rechtlich  kompliziert und ihre Beantwortung schwierig. Aber ja, in einem Land wie Ägypten, das sich arabische Republik nennt, gäbe es zur vollständigen Gleichberechtigung keine Alternative.

Der Artikel erschien in ähnlicher Form bereits in der Welt am Sonntag

Der Ruhrpilot

Ruhr2010: Was vom Jahre übrig blieb…Der Westen

Duisburg: Gerichtsurteil kann Aus für Kulturclub Djäzz in Duisburg bedeuten…Der Westen

NRW: Letzte Frist für die WestLB…RP Online

NRW II: Gemeinschaftsschule soll Gesetz werden…Der Westen

Gelsenkirchen: Diskussionsveranstaltung mit Marc-Jan Eumann (SPD)…Pottblog

Verkehr: Weniger Haltestellen beim Rhein-Ruhr-Express…Der Westen

iPad: Ruhr Nachrichten mit eigener App…Pottblog

Medien: “Westfalenpost bleibt Heimatzeitung”…Zoom

Comic: bored with the internet…F!XMBR

Terror in der Nachbarschaft – Brandanschlag auf die Moschee in Berlin-Wilmersdorf

Berlin, Wilmersdorfer Moschee, Brienner Straße Foto: Axel Mauruszat

Der siebte Brandanschlag auf Berliner Moscheen innerhalb weniger Monate lässt die Ermittler ratlos zurück. Von Andreas Lichte.

Yasir Aziz, 27, geboren in Pakistan, studiert in Schweden. Vor einem Monat kommt er nach Berlin, um in Ruhe an seinen Masterabschlüssen in Marketing und in Weltpolitik – Spezialisierung in Menschenrechten – zu arbeiten. Am Samstag, 8. Januar 2011, um 1:45 Uhr nachts, ist es mit Ruhe und Menschenrechten vorbei, Aziz sagt:

„Ich arbeitete gerade am Computer, als ich lautes Knallen hörte. Zuerst dachte ich: »vielleicht die Sicherungen, ein Kurzschluss«, aber dann schaute ich aus dem Fenster und sah das Feuer vor der Tür.“

„Die Tür“ ist die Tür zum Wohnhaus des Imam, direkt neben der Moschee. Dort ist Aziz für 2 Monate zu Gast.

Aziz ruft die Polizei, und versucht selber das Feuer zu löschen. Die Polizei-Streife, die schon nach 3 Minuten da ist, kann mit ihrem Feuerlöscher den Brand der Haustür erfolgreich bekämpfen.

Aziz sagt: „Ich war geschockt.“ Was wäre passiert, wenn er geschlafen hätte, und die Polizei nicht so schnell am Einsatzort gewesen wäre? Aziz: „Wenn es erst einmal brennt, dann gibt es für das Feuer keine Grenzen mehr. Von der Tür hätte das Feuer leicht auf die Holzfenster darüber übergreifen können …“

Und auch die Kriminalpolizei nimmt den Anschlag ernst, untersucht 5 Stunden lang den Tatort, obwohl der Brandsatz dilettantisch aus Gaskartuschen, Spiritusflaschen und Silvesterböllern gebastelt war. Der Hintergrund, die Berliner Morgenpost schreibt:

„Schon von Juni bis Dezember 2010 hatte die Polizei in Berlin insgesamt sechs Brandanschläge auf islamische Einrichtungen registriert. Im Juni, zweimal im August und im November war die Sehitlik-Moschee am Columbiadamm Ziel gewesen. Weitere Anschläge wurden im November auf die Neuköllner Al-Nur Moschee und im Dezember auf ein islamisches Kulturzentrum in Tempelhof verübt.“

Also sagt ein Polizeisprecher zum Fall der Wilmersdorfer Moschee: „Ob ein Zusammenhang mit Brandanschlägen oder versuchten Brandanschlägen auf Moscheen in der Vergangenheit besteht, wird derzeit geprüft.“

Ich wohne in Sichtweite der Ahmadiyya-Moschee, der unter Denkmalschutz stehenden, ältesten Moschee Deutschlands in Berlin-Wilmersdorf. Ich liebe ihre Architektur: Ein UFO in der biederen Villen- und Reihenhausbebauung.

Im Winter letzten Jahres kam ich abends nach Hause, der Feuerwehr-Grosseinsatz war nicht zu übersehen, die Strasse war gesperrt. Mein erster Gedanke: „Die Moschee!“ Nein, damals war es nur ein Wohnhaus in ihrer Nähe. Aber was ist da los, dass ich jederzeit mit einem Anschlag rechnete?

Und das war noch bevor „Deutschland schafft sich ab“ des geistigen Brandstifters Thilo Sarrazin das ganze Land in Hysterie versetzte.

Werbung


Der Ruhrpilot

Duisburg: Dezernent empfiehlt, Duisburg teilweise abzureißen…Der Westen

NRW: „Ein Jahr der Bewährungsprobe“…Welt

SPD:…buchstabiert Fortschritt – ohne Internet…Netzpolitik

Essen: Krater verschluckt zwei Autos…Der Westen

Bochum: Viel zu wenig Kinder…Ruhr Nachrichten

Duisburg II: Vogt (CDU): „Rot-Rot-Grün schadet der Stadt“…Der Westen

Dortmund: Aus dem Bauch eines Orchesters…Der Westen

Umland: A Letter from Texas concerning Tucson Arizona…Zoom

Nazis: NPD freut sich auf Volkszählung…Isis

Das Attentat von Tucson, die Tea Party und die vielen verwirrten Einzeltäter

Screenshot YouTube-Video

Gabrielle Giffords hatte keine Angst, obwohl eine ganze Reihe von Vorfällen in den letzten beiden Jahren Anlass genug dazu gegeben hätten. Die demokratische Kongressabgeordnete pflegte gar einen ironischen Umgang mit der schießwütigen Atmosphäre in ihrem Wahlkreis: „Wenn man einen Distrikt repräsentiert, zu dem die Wildwest-Stadt Tombstone gehört, dann überrascht einen nichts mehr.“ Allerdings kritisierte Giffords die Tea-Party-Bewegung wegen ihrer „unglaublich aufgeheizten Rhetorik“. An deren Sprecherin Sarah Palin gerichtet sagte Giffords: „Wenn man so etwas tut, dann muss man auch wissen, dass es Konsequenzen haben kann.“ Palin hatte auf der Website ihres Political Action Committees auf einer US-Karte die Wahlbezirke der demokratischen Abgeordneten mit Fadenkreuzen markiert, die für die Gesundheitsreform gestimmt hatten. Palin beeilte sich, den Opfern und den Angehörigen der schwer verletzten Demokratin ihr Beileid auszusprechen.

Jared Lee Loughner ist der Name des “verwirrten Einzeltäters”, der gestern Morgen Gabrielle Giffords aus nächster Nähe in den Kopf geschossen hatte, danach noch mindestens sechs Menschen erschossen und mehr als zehn weitere Menschen – zum Teil schwer – verletzt hatte. Ein recht hübscher Bengel, der 22-jährige Schütze, der „im übrigen … nicht im rechten Lager zu finden (sei), da er beispielsweise das Kommunistische Manifest, neben anderen Büchern, als favorite Buch angibt“, worauf uns ein Kommentator namens Müller freundlicherweise hinweist. Nun gut, auch Hitlers Mein Kampf gehört zu den Favoriten des Mörders; aber zugegeben: ob Jared Lee Loughner nun dem „rechten Lager“ zuzurechnen ist oder nicht, wird bei solch einem komplizierten Typen letztlich nicht zweifelsfrei zu klären sein. „Natürlich haben“, schreibt Müller, „Palin und die Tea Party Bewegung die politische Rhetorik radikalisiert, zu einem Mord haben sie aber nie aufgerufen.“

Das ist natürlich – gemeint i.S.v. „selbstverständlich“ – richtig. Allerdings hat eine Radikalisierung der politischen Rhetorik, hält man sich die politische Atmosphäre in den USA vor Augen, nichts Natürliches an sich. Und die Art und Weise, wie Palin und die Tea Party die Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern verschärft haben, ist zwar – natürlich – noch nicht der Aufruf zum Mord; der Grad, der von offener Mordhetze noch getrennt hatte, war jedoch schon recht schmal. Und ja: dieser Jared Lee Loughner war und ist verwirrt. Dass er ein Einzeltäter war, darf schon jetzt als widerlegt gelten. Die Polizei sucht nach (mindestens) einem Komplizen. Freilich lässt sich, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es sich um ein Mordkomplott von zwei, drei oder vier Männern gehandelt hat, immer noch von Einzeltätern sprechen.

Nur: dabei übersähe man die hetzerische politische Stimmung, die in Arizona und den Vereinigten Staaten insgesamt herrscht. Der in Tucson zuständige Sheriff Clarence Dupnik beschreibt sie folgendermaßen: „Der Zorn, der Hass, die Bigotterie, die in diesem Land herrschen, werden allmählich ungeheuerlich.“ Gewiss, die Westboro Baptist Church markiert auch eine in den USA als extremistisch geltende Position; und doch: letztlich treibt Fred Phelps, der Prediger dieser Sekte , die reaktionäre, antisemitische und homophobe Hetze der Tea-Party-Bewegung einfach nur auf die Spitze. Ja, Phelps´ Gemeinde ist klein; aber es gibt viele, allzu viele dieser schönen kleinen christlich fundamentalistischen „Kirchen“ des Hasses. Ein Video-Kommentar von Fred Phelps findet sich inzwischen auf YouTube. Titel: “Thanks God for the Shooting of Congresswoman Gabrielle Giffords”. Man muss nicht perfekt Englisch können, man muss nicht jeden Satz ganz genau verstehen, um ein Feeling dafür zu bekommen, dass im großen Land der Frommen die Uhren (noch?) ein wenig anders ticken als in good old Europe.

Phelps erklärt die “komplizierte Persönlichkeit” (Sheriff Dupnik) kurzerhand zum Soldaten Gottes, dem man ohnehin eigentlich immer nur danken kann, in diesem Fall für das Attentat auf diese gottlose Sünderin namens Gabrielle Giffords. Ohnehin ein Abkömmling aus dem Volk der Christusmörder kämpft diese Babymordpropagandistin (Giffords befürwortet embryonale Stammzellenforschung) für den Kommunismus (anderer Terminus für Obamas Gesundheitsreform). Im Land of the Free ist es erlaubt zu sagen, dass Giffords schon allein wegen einer einzigen Sünde aus diesem umfangreichen Sündenregister den Tod verdient hat. Und man dankt Gott dafür. Nochmal: Phelps´ Baptisten-Sekte ist klein, und es gibt viele Amerikaner, die entsetzt sind über das Massaker, die sich spontan zum Beten für die Opfer versammeln, die nichts mit diesen fundamentalistischen Mordhetzern zu tun haben. Aber es gibt auch die Tea Party. Deren Differenz bspw. zur Westboro Baptist Church ist graduell, nicht prinzipiell. Sie ist taktisch motiviert, nicht ethisch. Es ist kein Antiamerikanismus zu sagen, dass viele US-Amerikaner von ihren Abstiegsängsten in diesen Irrsinn getrieben werden.

letzte Woche / diese Woche (KW2)

Letzte Woche hat mir überhaupt nicht gefallen, wie wieder einzelne Politiker mit mehr oder weniger gezielten Provokationen oder auch nur Parteitagen wichtige Themen wie das Zusammenleben der Menschen in Deutschland aus den Schlagzeilen gefegt haben. Plus natürlich die Tatsache, dass neben den Parteien offensichtlich das Wetter am besten verkauft – aber damit hatte ich letzte Woche schon gelangweilt. Gestern hatte ich dann eines dieser typischen Pamphlete geschrieben. Zum Glück gefällt mir das heute nicht mehr. Aber das Foto ist zumindest übrig geblieben. Oben steht „Sei Berlin: Sei BND“ und darunter sehen wir zwei überangepasste „Volldeutsche“ – dieses Wort war mir gestern eingefallen. Auch war mir aufgefallen, dass hierzulande – gestern schrieb ich „im postfaschistisch sozialdemokratisierten Deutschland“ – immer lieber Postkommunistinnen und Vertreter des freien Marktes als Exoten herzuhalten haben (und sonstige total alternative Volldeutsche), als dass sich auch nur ansatzweise mit anderen Lebensweisen beschäftigt wird, die nicht hausgemacht sind.
Ich befürchte, dass viel zu wenige deutsche Migrantinnen und Migranten etwas zu sagen haben bei der „vierten Macht im Staate“, und wenn dann halt nur diese Überangepassten. Auch war mir aufgefallen, dass alle möglichen Oppositionen hier bis hin zu den Antideutschen grundsätzlich zu deutsch sind. Diese Woche möchte ich mich folgerichtig damit beschäftigen, inwiefern es in Deutschland überhaupt undeutsch orientierte politische Gruppen gibt, die mehr tun dürfen, als für ihre „Minderheit“ zu sprechen. (Vielleicht wird ja ein Artikel daraus.) Was für die Frauen hierzulande vor Jahrzehnten erst möglich war, sollte doch so sachte auch für Migranten möglich sein: Quote, Macht, uneingeschränkte Betätigung auf allen gesellschaftlichen Ebenen nicht nur als Vorzeigeobjekte. Dass dabei dann keine Überanpassung an den gängigen Mainstream stattfindet, sollte also nicht nur Hannelore Kraft gefallen. Es steht aber zu befürchten, dass „die Ausländer“ dann dafür natürlich viel zu rassistisch, sexistisch und egomanisch sind. Alles das, was wir natürlich nie sind oder womit wir uns lieber intern beschäftigen, um bloß keinen Spiegel vorgehalten zu bekommen.

Letzte Woche in Berlin hatte ich nicht nur einen kurzen Einblick in so ein deutsch-alternatives WG-Leben (gestern schrieb ich etwas von „Terror nach Innen“ und „totaler Küchenkrieg“ oder so), sondern mir fiel auch auf, dass mir die Artikel über die Stadt am besten gefielen, in denen eher „Externe“ schreiben. Solche wie eben Roger Boyes von der Times im Tagesspiegel oder die Leute von Exberliner. Überhaupt schreiben immer zu viele Ruhries über die Ruhr, etc. und seit dieser Woche schreiben bei 2010lab zusätzlich verstärkt Londoner über London und Milanesen über Milan. Dem Chef von Heimatdesign gab ich letztens wiederum den Rat, er möge doch spätestens in diesem Jahr einmal seine Hefte auch außerhalb des Ruhrgebietes auslegen – ähnlich den Ruhrbaronen. Immer noch frage ich mich: Was will ich da eigentlich? Wie geht all das zusammen?
Ich denke mal und schreibe: Wenn alle immer nur in ihrem kleinkarierten Platzhirschrevier und über es schreiben, ist das a) naheliegend und b) kostengünstig, bringt aber nur wenig neue Perspektiven und erst recht keinen Austausch. (Gruß an Herrn Schurian!) Blickt und geht man hingegen über den Tellerrand – am besten mehrsprachig – so muss man sich damit auseinander setzen, dass man eben nicht für eine homogene Zielgruppe schreibt. Und das muss von vielen noch gelernt werden, denn auch hier schreiben alle eher „frei nach Schnauze“ und beleidigen viel mehr Leute als sie denken. Also müssen letztlich die Designer raus aus Deutschland. (Nach Italien vielleicht?) Und wer nicht so sachte einmal andere als den eigenen Blickwinkel in seine Medien integriert, gehört gescholten oder besser von nicht-volldeutschen Medien beobachtet und ggf. bloßgestellt. Und so sieht es wohl aus: Ich meine es doch ernst. Liebe Migrantinnen und Migranten: Seien Sie Ruhr: Seien Sie BND! Seien Sie Wikileaks! Im Zweifel Ihr eigener. Vielleicht schon in dieser Woche? Oder bleiben Sie auch gern weiter unbeeindruckt und lassen uns am langen Arm verhungern in unserer tollen Datenwelt, in der wir uns ja so gerne mit uns selbst beschäftigen. Und jetzt vielleicht doch wieder etwas über Guido und Gesine? Und Sie so: *click*

Foto: Jens Kobler (feat. u.a. den Tagesspiegel vom 8.1.2011 und das Cover von „First take then Shake – F.S.K. meets Anthony ‚Shake‘ Shakir“)

Werbung


Das eigene Fremde – Anspruch und Wirklichkeit der Kulturhauptstadt Ruhr 2010

In ein Meer von Fahnen und plakativen Optimus getaucht, ein ganzes Jahr und noch viel mehr, bestimmte das dauerleuchtende Event bis Advent die Kulturhauptstadt auf Ruhr. Für die mediale Aufmerksamkeit hatten Marketing- und PR-Agenturen die Haut der Träume zugeschnitten und der Ruhrmetropole ein buntes, pauschalisertes bisweilen niveauvolles Unterhaltungsprogramm verpaßt: Mitmachspiele ohne Grenzen, sonntags geöffnete Realzeitmuseen, Kunstachterbahnen,…, kurz, die standartisierte Einkleidung kultureller Identität, maßgeschneiderte Kulturhauptstadt -Trachten und Betrachtungen. Von unserem Gastautor Herbert Schero

Zwanghaft bemüht, dem eigenen Bewahrungswillen und Gestaltungsinstinkt gerecht zu werden, es zudem noch möglichst allen recht zu machen: Wetten, dass? – schickten die Kulturhauptstadtmacher den tradierten Themenvorrat des Ruhrgebietes, Denk- Ideal- Kult- und Heimatfiguren, internationale Stars und provinzielle Utopien ins Rennen. Zeitgleich wurde die gemeinhin hochgelobte soziale Integrationskraft des Wettbewerbes unterwandert: Propheten im eigenen Land, kritscher Eigensinn, Kunst- und Problemfiguren erhielten Startverbot. Und die Würde des Fragens, Kulturpolitik also, hatte fragwürdigen Zielen und Verblendungs- zusammenhängen dienlich zu sein. Die Rede ist von der Politik der Ekstase und ihren katastrophalen Fehlentscheidungen, von Seilschaften, ihrem Geltungsdrang, Karrieredenken und Wirtschaftsbeschaffungsmaßnahmen auf allen Ebenen. Kleiner Mann – grosse Ruhr 2010 GmbH: Was ist geblieben vom Anspruch: “…kulturelle Leuchttürme, Höhepunkte mit internationaler Strahlkraft zu schaffen, die die Kulturhauptstadt Europas 2010 weithin sichtbar machen.”? Wo und wie wurde der Möglichkeits- und Wirklichkeitssinn der vier Themenschwerpunkten: “…neue Formen der Urbanität, kreatives Milieu, integrierte Migrantenkultur und schließlich ein kreativ-ökonomisches Modell für Europa zu schaffen.” eingelöst?

Blick zurück, ohne Zorn. Die Leistungsschau der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 (GmbH) stellte von Beginn an medienwirksame Großevents in den Fokus der Öffentlichkeit, ihre Guinness-Politik der Rekorde die Aufwertung des Wirtschafts- u. Freizeitortes:  “RUHR 2010 hat die Vision, aus der regionalen Gemeinschaft von 53 Städten eine Metropole neuen Stils zu bilden.”

“Wir malochen für das Ruhrgebiet” hatte BILD das Engagement des Ruhr 2010 Direktoriums gelobt, das sofort kurz nach der Hauptpressekonferenz loslegte und sich ungeniert mit fremden Federn, mit der ehrenamtlichen Arbeit unzähliger Kultur- und Heimatvereine, mit den alltäglichen Kulturveranstaltungen des Ruhrgebietes schmückte. Wo die Hütte brannte, das hob die WAZ täglich hervor. Ihr Satellit, NRW-TV, strahlte die zu Local Hero-Wochen umbenannten Kulturhauptstadt-Wochenmarktangebote zu besten Sendezeiten in die digital empfangenden Haushalte: Illuminationen von Du zu Du, Lyrik von Nachtwächtern und Müllmännern, soziale Skulpturen und ihreTränen des Eros. Die Montagsandacht der Steuerzahler und die Solidaritätsparty der Banker&Sponsoren in den maroden Kommunen der Ruhr-Verbundenheit wurden live von Televisonsampeln übertragen. Das ZDF-Kulturprogramm strahlte Aspekte der Traumzeit- und Schnittkultur aus: 66 (+ -) türkische Modells in Brautkleidern ohne Kopftuch; made in Marxloh, Geisterfahrer&Geistreiche gingen auf Sendung. Das philosophisch-phallokratische Quartett vor dem Kiosk Dortmunder U diskutierte über das Paarungsverhalten der Kohlenpöttler, Revierhasen und Schützenkönige.

Jeden Monat neu aufgelegt, strotzten dickleibige Veranstaltungsprogramme der Ruhr 2010-GmbH vor Anglizismen, suggerierten Wirgefühle und versprachen eine nie dagewesene Alchemie der Gefühle: Metaxa & metexis am Abend mit Goldrand, feurige Stahlabstiche und die Twilight – Kunstlichtshow im Hafen der Kulturhauptstadt. Feierabende, an denen die Goldene Sieben in Spielhallen aufleuchtete, der Mariacron-Stern über dem Tresen. Und so ging tatsächlich jeden Tag für die Liebhaber der Television in der Börse der quadratische Horizont auf. Es fiel das angekündigte, das entscheidende Tor und die Freunde der Kulturhauptstadt &Fußballweltmeisterschaft, vereinten sich. Kulturen&Nationen. In der Arena der Geschichte wurde The day of songs zelebriert! Alles gab es per se und für lau noch oben drauf: Manzonis eisgekühlter Mittelstürmer, Klarer mit Speck aus dem Hieronymus Bosch-Kühlschrank Garten der Lüste. Und Poetische Nächte auf der Halde, da kam nämlich der Steiger und erzählte Grubenmärchen gegen den Kohldampf. Vom Gläsernen Hut mit Mercedesstern obendrauf, von der Brücke der Solidarität und so.

Night&day lief die Kulturmaschine Ruhr 2010 GmbH auf Hochtouren. Respekt. Himmelstürmende Lichtprojektionen auf alten Rathausmauern und Feuermusiker am Werk, illuminierten den Flug des Feuervogels. Ja, es hat ihn gegeben, den Himmel aus glühendem Stahl, sie, die Götterdämmerung, in der Gebläsehalle. Ja, der von Herrn Krupp-Beitz gesponserte Neubau des Museum Folkwang steht seit langem, wie `ne Eins, in Essen. Der im Volksmund genannte “Schukasten”, der Dachaufbau für das Museum Küppersmühle in Duisburg, Kosten mit Nachbesserung 20 – 40 Millionen, ist in der Mache I. Ebenso das Zwei-drei-Straßen- Projekt von Jochen Gerz. Idee&Realisierung muten wie das Haus ohne Hüter an, wie so viele der medial aufgeblasenen Ruhr 2010-Kunstprojekte. Ob die von Gerz für 2011 angekündigte Print-Dokumentation des Wohn- u. Interaktionsprojektes, ihr Wirklichkeitsversprechen einlösen wird? Schon in den Siebzigern, “einst vor Jahren, zur Zeit der Allerseelenstürme” hatte Aktionskünstler HA Schult anläßlich seiner TOUR-de-RUHR eine gleichgeartete Livingroom-Kunstmitmach-Idee artbissiger und weniger artig im Kohlenpott realisert. Ja, damals kochte Max von de Grün Literatur im Pott und Ruhrkomiker lösten immer noch Smokealarm aus.

Kulturhauptstadtschlagzeilen und  Aufsehen erregte der Auftritt der Duisburger Symphoniker, die in leerstehenden Wohnungen sogenannter “Stadtteile mit sozial-kulturellem Erneuerungsbedarf” ohne Kohle so überzeugend musizierten, dass die Zuhörer glaubten, die Auflösung der hochsubventionierten Symphoniker stünde bevor; zumindest die Streichung der Streicher.

Der drastische Kulturabbau im Namen der Kultur, das Streichkonzert der Einsparungen mit Zensureffekt, war schon 2009 über die Bühne gegangen. Den schätzungsweise 50.000 im Ruhrgebiet lebenden Kreativen der Freien Kulturszene verweigerte die Ruhr 2010 GmbH die Teilhabe an der Kulturhauptstadt, das Mitsprache- und Selbstvertretungsrecht.  Schon im Jahr 2007 waren zweitausend Kreative blauäugig der Aufforderung der Ruhr 2010 GmbH gefolgt und hatten Projektideen zur Kulturhauptstadt eingereicht, nicht ahnend, dass alle Fördermittel längst verplant waren und pro forma nur zwei Dutzend kleinere Projekte einen Kulturcent erhalten würden. Im Herbst 2009 folgte dann der finale Schachzug der NRW-Regierung.                -2-

Ministerpräsident Rüttgers  bewilligte den Ruhrkommunen – einen Euro pro Einwohner – zweckgebundene Kulturhauptstadtmittel, die nur für Projekte der Ruhr 2010-GmbH verwendet werden durften. Grub so der Kultturszene Ruhr auch noch auf kommunaler Förderebene das Wasser ab.  Besonders junge, kritische und ungewöhnliche Kulturansätze mit partizipativem Anspruch, hohen Risiken und großen Chancen stehen – im Gegensatz zur institutionellen, etablierten Kultur – im Ruhrgebiet oft ohne jede Chance auf öffentliche oder private Unterstützung da. Warum das so ist, versuchte im Kulturhauptstadtjahr die Ruhr Universität mit einer soziologischen Erkundung der solidaritätsmüden Kunst- und Kulturszene Ruhr herauszufinden. Das Thema wirft viele Fragen auf: Wie kann die sogenannte “Freie” Kulturszene überhaupt in einer Gesellschaft existieren, deren kulturspezifische Erziehung nach Auschwitz den Terrror der Selbstverwirklichung predigt? In der nicht das feuilletonistische Zeitalter des Glasperlenspieles den Geist der Utopie durchtönt, vielmehr der Homo Sociologicus und seine erlernte Hilflosigkeit dem entfremdeten Sehnsuchtsbild des Homo Ludens begegnet, der sich in der Moderne zu tode spielt! Gibt es dort die vorbildliche Freiheit der Andersdenkenden? Die neuen wilden Jünger von Egon Fridell, Manés Sperber, André Malraux, Hilmer Hoffmann, Peter Weiss: die Traditionen des ästhetischen Widerstandes, den Aufruhr in den Museen der Imagination? Wo also finden wir die pantagruelischen Freigeister, die Traumzeiten- und Grenzgänger, die ihre Wunden zeigen, nicht die Lügen der Malerei und in ihren kreativen “Labyrs” (Labyr:Laboratorium&Labyrinth. Begriffsschöpfung des Bochumer Künstler Andre Thomkins; Erschaffer der Knopfeier & Palindrome: DOGMA IAM GOD) Utopiate backen, dabei den Baudelaire singen: “Es ist weniger anstrengend zu arbeiten, als sich zu amüsieren.”?

Engagierte Kulturschaffende, die  das Wahrlügen (L.Aragon) lesen und sich den Strategien “ästhetischer Doppelmoral” (S.Sontag), ) verweigern, werden ausgegrenzt. So erhielt die 1. Ruhr Biennale zeitgenössischer Kunst, deren Themenschwerpunkt Aqua Futurbana – Zukunft des Wassers und der Lebensräume – nach vierjähriger Vorbereitungszeit Werke&Konzepte von 57 Künstlern aus 12 Nationen, Kunst im Aussenraum, Filme,Videos, Atract etc. und Künstler des Ruhrgebietes ausstellte, keine öffentlichen Fördermittel. Nach 2 1/2 Jahren Bedenkzeit kam von der Ruhr 2010 Gmbh eine Kooperationsabsage. Derweil der Rat der Stadt Duisburg die jährlichen Fördermittel (120.000,- EUR) für die Projkete der Freien Kulturszene strich. Die  zunächst von der Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum erteilte Aufstellungsgenehmigung für die  Ruhr Biennale – Skulpturen “Wasserhahn” und TV-Sessel im Kantpark, wiederrief Direktor Raimund Stecker zwei Tage vor dem geplanten Aufbau. Begründung: Er bevorzuge statt temporärer Kunstwerke mehr  Spaziergänger im Park.

Parteiübergreifend machen die Kulturverwalter immer drastischer deutlich: selbstreferenzielle Kultur, die von der Differenz zur Politik lebt, ist unerwünscht. “Die Banalität betritt die Bühne”(Jeff Kons). Statt sinnstiftender Denkmodelle dominieren Nullikonen – Ruhr-Edelstahlwürfel & Marmorkugeln – öffentliche Plätze; der Nullgrad der Textlichkeit durchtönt digitale News-Schaufenster. Vorbei an warenästhetischen Botschaften durchfahren Menschen auf Rolltreppen die begehbaren Filme urbaner Architektur. Auf heißen Stühlen und geliftet Kunstinstallation für Autobahnfahrer. Die durften an einem restgrünen Rasenstreifen der Ruhrautobahn an eine Hundertschaft leerer, nur mit deutschen Städtenamen bedruckter Liegestühle, vorbeirasen, anläßlich der Kunst am Bau – Auschreibung Paradoxien des Öffentlichen. So also sieht sie aus, die institutionalisierte Kulturbewußtheit auf der Flucht vor sich selbst also, macht sie deutlich, wer die kulturphlegmatischen Permanentszenen des rasenden Stillstandes, die angesagten Mythen des Alltags und die sinnentleerten Symbole ihrer Geltungs- und Wirkungsformen zu verantworten hat.

Das Kulturhauptstadtjahr ist ausgeklungen. Was ist aus den Kulturverbindlichkeiten der Twins- und Melez-Veranstaltungen geworden; was klingt noch nach vom Impetus der tausend Chöre, vom Sprach- und Heimfindungsvermögen kultureller und integrativer Identität?  Was wird aus den unter Berücksichtigung des Kunstmarktranking eingekauften, millionenschweren Kunstinseln?, jenen Atollen auf dem Essen-Baldeneyer See, die nur von denen bestaunt werden konnten, die ein Boot, Helikopter, Fernglas oder Feuilleton zur Hand hatten. Das A40 Stilleben aneinandergereihter Flohmärkte und Miniaturbühnen hat es ins weltweite Guinessbuch der Rekorde geschafft. Eins ist sicher: die Liebhaber des Glückauf – Pils-Gesanges werden sich an die gelben Schachtzeichen-Ballons zur Pflege des Traditionbewußtseins, an Zechen,Thyssenbarone, Dahlbuschbomben und Unglücke erinnern. Das Trauma der Loveparade -Tragödie und der sie begleitende Mangel an ziviler und politischer Courage, die schmerzhafte Kultur nie gekannter Verantwortungslosigkeit und sozialer Amnesie wird auf unbestimmte Zeit im kollektiven Gedächtnis nachwirken.

P.S.  “Dem Bürger fällt vom spitzen Kopf der Hut. In den Lüften hallt es, wie Geschrei, Dachdecker fallen von den Dächern und fallen entzwei.” ( J.van Hoddis)

Ein Drittel des auf  70-150 Millionen Euro geschätzten Ruhr 2010-Budget haben Berater& Werbeplattformen verschlungen. In einem kritischen Artikel der WAZ (Okt. 2010) ist nachzulesen, dass allein die  Dieter Gorny Internetplattform artlab Fördermittel in Millionenhöhe erhalten hat (überdies auch für das Jahr 2011). Ironie der Geschichte. Der Medienbunker Hamborn produziert für ARTLAB Beiträge, u.a. eine filmische Dokumentation zur 1. Ruhr Biennale, die bis dato nicht ins Netz gespeist, vermutlich  zensiert wurde. Ein weiteres Drittel der Kulturhauptstadtmittel schüttet die GmbH an ihr Personal, darunter Herrn Gorny, gerne eben zusätzlich für die Projekte ihrer Juroren & Direktoren aus. Im Falle des Architekten Prof. Karl-Heinz Petzinka, zuständig für den Bereich Bildende Kunst, bleibt unklar, ob der von ihm mit Kulturhauptstadtmitteln geförderte mehrstöckige Ausbau des denkmalgeschützten Zechengebäudes in Gelsenkirchen, das noch einen Marcus Lüpertz-Herkules auf´s Dach bekommt, als “Wirtschaftsbeschaffungsmaßnahme”, Zweckentfremdung von Fördergeldern oder “normaler Vorgang im Bereich kultureller Befugnishoheit” einzuordnen sein wird. Das im Bau befindliche Vorhaben wird, so pfeifen es die Spatzen von den Dächern, von des Architekten eigener Baufirma realisiert und vermutlich mit Mitteln aus dem kleinsten, dem Etat für Kultur- Kunstprojekte u. Sonderausgaben, finanziert.

H.Schero, Kurator der 1. Ruhr Biennale, Vorsitzender des AortA Kunst- u. Kultur eV