Hat vielleicht noch irgendjemand irgendeine Meinung zur Integration? Es wäre doch jammerschade, wenn die Kette Sarrazin-Wulff-Seehofer abreißen würde. Was denken eigentlich ADAC, der Sauerländische Gebirgsverein und die Ornithologische Bundesvereinigung zu dem Thema? Kommt da nichts mehr, müssen wir uns, wo es gerade so schön zur Sache geht, einer neuen diskutier- und diskriminierbare Minderheit zuwenden? Interessant wäre doch mal wieder eine hochrangige Debatte um luxuriös subventionierte Bergbauern, faule Beamte oder die leider völlig unterdiskutierten Sorben, jene völlig vernachlässigte Minderheit in der Gegend von Bautzen.
Aber wir bleiben bei den Migranten. Putzig als Neueinsteiger kam am Wochenende Horst Seehofer rüber. Deutschland brauche keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen, warf er ein. Putzig deshalb, weil Seehofer Ministerpräsident ausgerechnet jenes Bundeslandes ist, das Jahrzehnte nicht nur vom Geld und der Kohle aus fremden Kulturkreisen gelebt hat, aus Nordrhein-Westfalen in dem Fall, sondern auch vom zugeflossenen Humankapital von Rhein und Ruhr. Unvergessen die BMW-Kampagne: „Jupp, komm nach Bayern“, mit der man Ruhris in den Süden lockte, damit die den Bauern mal zeigen, wie Industrie geht. Aber das war eine Zeit, in der Seehofer sich vielleicht schon in Stammtischparolen übte – mit dem Unterschied, dass er da noch kein Amt hatte.
Den Trubel um Christian Wulffs Feiertagsrede verstehe ich so ganz nicht. Da war ein anderer Bundespräsident, Johannes Rau, vor zehn Jahren mit seiner Berliner Rede schon zwanzig Jahre weiter. Nur leider wurde sein Debattenbeitrag im Gegensatz zur ruckeligen Hotelansprache seines Vorgängers Herzog kaum beachtet. „Die Freiheit des Glaubens und der Religion gilt für alle Menschen in unserem Land, nicht nur für Christen“, sagte Rau. Am Abend stand die Rede im Internet, übrigens gleich auch in türkischer Sprache. Im Jahr darauf besuchte er als erster Bundespräsident eine deutsche Moschee, die Fatih-Moschee in Marl. Geht doch.
Christian Wulffs Rede war im Feiertagstrubel an Banalität kaum zu überbieten. Der Islam gehöre auch zu Deutschland – ebenso gut hätte er sagen können, dass in der Pommesbude an der Ecke neben Currywurst mittlerweile auch der Döner dazu gehört. Die Aufregung indes war so groß, als hätte der Präsident behauptet, Deutschland sei Teil des Islam oder hätte irgendwie den Moslems die Schuld an Stuttgart21 in die Schuhe geschoben.
Völlig untergegangen ist auf dem Weg von Wulff zu Seehofer ein Beitrag meines katholischen Lieblingsbischofs Franz-Josef Overbeck, Chef des Essener Kleinstbistums. Da bin ich Lokalpatriot. Der Mann stammt wie ich aus Marl. Als mir vor gut 25 Jahren Franz-Josef Overbecks Vater, ein Bauer, Schnapsbrenner und Grundbesitzer, eröffnete, dass ein Sohn Priester werde, reagierte ich spontan und ergriffen mit der Frage, ob er da denn nicht traurig sei, wegen der ausbleibenden Enkelkinder. Freundlich formuliert weiß ich seither um die Kraft westfälischer Volksfrömmigkeit.
Deshalb lese ich vom Ruhrbischof immer gerne. Es war schon ein starker Medieneinstieg, wie er bei Anne Will cool dozierte, was katholische Lehrmeinung zur Homosexualität ist. In der Islam-Debatte ist er leider untergegangen. Wenn man der WAZ Glauben schenken will, und das sollte man in religiösen Fragen, sagte der Ruhrbischof, immerhin anerkennend: „Deutschland ist sehr klassisch kulturell vom Christentum geprägt – seit der Reformation von der evangelischen und der katholischen Konfession. Das Judentum ist eine wesentliche Quelle des Christentums“, der Islam hingegen sei erst 600 Jahre später gekommen. Mal abgesehen davon, dass danach das Evangelische auch etwa 800 Jahre Verspätung hatte, denke ich bei dieser Formulierung sofort an Gorbatschows Wort vom Zuspätkommen und der daraus erwachsenden Lebensstrafe.
Dann wird Overbeck auf merkwürdige Weise tolerant: „Insofern gehören Menschen anderer Konfessionen und die Menschen, die keine religiöse Überzeugung haben, selbstverständlich mit zu uns.“ Das nehme ich persönlich. Was erlauben Overbeck? Mir als Gottfreien generös und tolerant zu attestieren, dass ich mit zu „uns“ gehöre? Wer ist „uns“? Welches „Wir“ erlaubt sich so von oben herab, Menschen, die nicht katholisch sind, mit an den Katzentisch zu bitten, wenn bei einer wundersamen Brotvermehrung mal wieder ein paar Krumen übrig bleiben? Und dann gehören für den Bischof diese Menschen nicht einmal „zu uns“, sondern lediglich „mit zu uns“. So wie die Migranten lange nicht als Bürger, sondern als ausländische Mitbürger galten. Ich mag so ein Unszen und Wirzen nicht. Ich habe um die Gnade des Mitdazugehörens weder gebetet noch gebeten. Ich gehöre nicht zu euch. Im Gegenteil, ich bin aus dem Verein ausdrücklich ausgetreten, obwohl ich mich nicht erinnere, jemals eingetreten zu sein. Unsere Gesellschaft ist „stärker säkularisiert, als viele wahrnehmen“, um noch einmal Johannes Rau zu zitieren.
Es ist vielleicht schwer sich daran zu gewöhnen. Aber wenn der Gott, an den man als Katholik so glaubt, wirklich allmächtig ist, dann hatte er, als er Moslems, Schwule, Religionslose, Schalker, engagierte Verteidigungsminister-Gattinnen und andere missliebige oder nervige Randgruppen schuf, nicht einfach nur einen schlechten Tag. Schwer vorzustellen, dass deren Existenz für die „Unszer“ so eine Art globale Hiobsgeschichte sein sollte. Wenn Gott recht bei Trost ist, wovon ich als Katholik ausginge, dann hat er all diese Anderen bewusst in die Welt gesetzt, weil ihm vielleicht eine Monokultur von unverheirateten katholischen Priestern und ihren Freunden wahnsinnig auf den heiligen Geist gegangen wäre.
Johannes Rau: Berliner Rede