Schmiergeld killt Arbeitsplätze

Ferrostaal kommt nicht zur Ruhe. Nun sollen rund zehn Prozent der Mitarbeiter gehen. Schuld daran ist auch die Schmiergeldaffäre.

Das sind zwischen 400 und 500 Menschen, die ihren Job verlieren. Grund ist der schwache Auftragseingang, wie Konzernchef Jan Secher am Montag auf einer Betriebsversammlung gesagt hat. Anders als etwa Thyssenkrupp oder die Lufthansa wird Ferrostaal erst mit Verzögerung von der Wirtschaftskrise getroffen.

Der Umsatz soll im kommenden Jahr um rund 20 Prozent fallen, im Jahr 2008 kamen die Essener auf 1,6 Milliarden Euro. Erst für das Jahr 2012 rechnet der Industriedienstleister wieder mit einem Wachstum.

Die Krise alleine ist für den Einbruch nicht verantwortlich. Belastend wirkt sich auch der Schmiergeldskandal aus. Ferrostaal soll über Jahre hinweg illegal Geld im Gegenzug für Aufträge gezahlt haben. Das Vertrauen in die Gesellschaft ist bei einigen Partnern dahin.

Die Korruption der Vergangenheit trägt damit zum Stellenabbau bei. Ferrostaal ist damit ein Beispiel, dass sich so was nicht auszahlt.

Die Zukunft ist ab morgen Vergangenheit: ORF Futurezone verboten

11 Jahre vorbildliches öffentlich-rechtliches Web sind ab heute abend Geschichte: Der ORF wird um Mitternacht seinem Technikmagazin Futurezone den Stecker ziehen.

ParagraphentasteIn Österreich waren die öffentlich-rechtlichen Webauftritte zwar nie so umstritten wie bei uns. Doch auch dort haben die Verleger „unlauteren Wettbewerb“ geltend gemacht, wenn gebührenfinanzierte Inhalte (öffentlich-rechtlich) mit werbefinanzierten Inhalten (privat) konkurrieren müssen.

Zum 1. Oktober 2010 tritt das neue ORF-Gesetz in Kraft, das am 17. Juni vom Nationalrat verabschiedet worden ist. Laut Artikel 50, Absatz 3 dieses Gesetzes ist es dem ORF unter anderem verboten, futurezone.ORF.at nach elf Jahren des Bestehens weiter zu betreiben.

so der unter dem Titel Down by Law veröffentlichte offizielle Abschied der Redaktion, die immerhin nicht sofort um ihre Jobs fürchten muß. Langfristig ist das aber sicherlich nicht garantiert.

Der gute Name Futurezone wurde vom ORF noch an einen Zeitungsverlag verkauft, auf den man dann auch weiterleiten wird:

Die Adresse futurezone.ORF.at wird ab dem 1. Oktober 2010 automatisch auf die Domain futurezone.at umgeleitet, die einer Tochterfirma der Wiener Tageszeitung „Kurier“ gehört und von einer neuen Redaktion mit Inhalten befüllt werden wird.

Vorausgegangen waren monatelange Proteste des Publikums, doch das änderte natürlich nichts am verabschiedeten Gesetz.

Immerhin: Im Gegensatz zu Deutschland muß das Archiv nicht gelöscht („depubliziert“) werden: alle Inhalte von 2006 bis 2011 sollen weiterhin unter den alten Links erreichbar sein. Hier hat man das WWW offensichtlich etwas besser verstanden als in Deutschland. Und es geht auch nur um das Technikmagazin des ORF, nicht um dessen Webseiten an sich. Nur war die Futurezone halt gerade das Vorzeigebeispiel für interessanten öffentlich-rechtlichen Online-Journalismus.

In Deutschland würde sich dieses Problem allerdings in dieser Form gar nicht stellen, denn da gibt das Fernsehen die lästigen Technik-Inhalte ja schon ganz freiwillig auf

Bergbau: Der letzte Protest?

Die EU will, dass Deutschland vor 2018 aus der Steinkohlesubventionierung aussteigt? Drohen jetzt Massenendlassungen und höhere Staatsverschuldung?
In der Innenstadt Brüssels liegt der Boulevard Jamar ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs. Zur Avenue Stalingradiaan ist es nur ein Katzensprung, und auch der Boulevard de l ´Europe ist nicht weit entfernt. Heute werden sich hier vielleicht zum letzten Mal deutsche Bergleute gegen das Ende des Bergbaus auflehnen.  Die IG BCE wird sie von den letzten Zechen des Landes zum Sitz der EU-Kommission karren. Das Ziel des Protestes ist bescheiden: Es geht nicht mehr um den Fortbestand des Steinkohlenbergbaus. Das Ziel der Bergbaugewerkschaft ist es nur noch, dass der Kohleausstieg wie mit der Bundesregierung, der RAG und dem Land Nordrhein-Westfalen 2007 ausgemacht verlaufen wird. Spätestens 2018 ist demnach Schicht im Schacht, sollen die dann noch verblieben drei Zechen in Marl, Ibbenbühren und Bottrop endgültig schließen.
Bis 2018 hätte die RAG-Stiftung auch noch Zeit, Evonik zu verkaufen oder an die Börse zu bringen. 10 Milliarden Euro will die Stiftung so bis 2018 erwirtschaften. 2,4 Milliarden wurden schon durch den Verkauf von 25,1 Prozent der Evonik-Anteile an den Investor CVC Capital Partners erzielt. Mit diesem Kapitalstock will sich die RAG-Stiftung einer Aufgabe stellen, die Jahrtausende weitergehen wird: Die Bewältigung der Ewigkeitskosten des deutschen Bergbaus. Für alle Zeiten müssen beispielsweise Pumpen laufen, damit das Ruhrgebiet nicht zu großen Teilen in einem See versinkt. Städte wie Gelsenkirchen, Bottrop oder Herne liegen durch die Bergsenkung tief unterhalb des Grundwasserspiegels. Und auch nach Ende des Bergbaus werden immer noch Häuser durch Bodensenkungen und Tagesbrüche beschädigt werden. Ewigkeitskosten – das Wort hat nichts symbolisches, sondern beschreibt eine finanzielle Belastung für alle Zeit.
Das Problem: Die Europäische Kommission hat diesen Vertrag nicht genehmigt. Die darin enthaltenen Bergbausubventionen bis in das Jahr 2018 verstoßen gegen europäisches Recht. Berlin, Düsseldorf und Brüssel streiten nun seit Wochen über einen Ausstiegskompromiss. In einem Brief an Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, der der Welt am Sonntag vorliegt, hat der Vorsitzende der RAG-Stiftung, Wilhelm Bonse-Geuking, zwei Szenarien für einen früheren Ausstieg aus der Kohlesubventionierung präsentiert. Die von Bonse-Geuking als „Worst-Case- Szenario“ bezeichnete Entwicklung ist mittlerweile vom Tisch.  Danach wäre das Aus für den Kohlebergbau bereits 2011 gekommen. Die RAG-Stiftung wäre pleite gewesen.
Mittlerweile fordert die EU-Kommission das Ende der Bergbausubventionen in Deutschland für das Jahr 2014.  Ende  Juli haben sich die Brüsseler Kommissare in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf diesen frühen Ausstiegstermin festgelegt – zur Überraschung auch der Bundesregierung. Seit dem herrscht bei den Bergleuten Angst vor dem Job-Verlust und in der Politik große Verhandlungshektik.
Auch das würde die RAG-Stiftung vor Probleme stellen. Auf Anfrage der Welt am Sonntag sieht die Landesregierung auf das Ruhrgebiet Probleme zukommen: „Eine vorzeitige Stilllegung des Steinkohlenbergbaus hätte zwangsläufig mehrere tausend betriebsbedingte Kündigungen im Steinkohlenbergbau selbst und im Verflechtungsbereich zur Folge.“ Hinzu kommt, dass die öffentliche Hand bei der Finanzierung der Ewigkeitskosten einspringen müsste. 10 Milliarden müssen  mindestens zusammen kommen – was die Stiftung nicht erwirtschaftet, zahlt der Steuerzahler.
Probleme sieht die RAG-Stiftung bei einem früheren Ausstieg aus der Kohlesubventionierung vor allem bei der Bildung der Rücklagen zur Finanzierung der Ewigkeitskosten: „ Die RAG-Stiftung hätte vier Jahre weniger Zeit, ihren Kapitalstock aufzubauen und müsste gegenüber dem bisherigen Planungsstand entsprechend früher für die Finanzierung der Ewigkeitslasten aufkommen.“
Wie wahrscheinlich das ist, dazu will man sich bei der in Essen ansässigen Stiftung nicht äußern. Klar ist aber: wenn das Geld nicht reicht, wird der Steuerzahler für die Ewigkeitskosten aufkommen müssen. Hierzu wird es nach Meinung von Dr. Rainer Kambeck ohnehin kommen. Kambeck ist Leiter des Kompetenzbereichs „Öffentliche Finanzen“ beim RWI Essen. Das renommierte Wirtschaftsforschungsinstitut steht traditionell der Subventionierung des Bergbaus kritisch gegenüber. Kambeck sieht – im Gegensatz zum Land und zur RAG-Stiftung – auch keine Katastrophe in einem früheren Ausstieg aus den Kohlesubventionen. „2014 wird es im Saarland kein Bergwerk mehr geben, und in Nordrhein-Westfalen werden es nur noch drei sein.“ Gut 15.000 Bergbaubeschäftigte gäbe es dann noch. Heute sind es gut 20.000.
Und von denen, so das Credo aller nordrhein-westfälischen Landespolitiker seit Jahrzehnten, darf auf keinen Fall auch nur ein einziger entlassen werden. Was Mitarbeitern von Opel, ThyssenKrupp, Nokia oder einem mittelständischen Handwerksunternehmen zuzumuten ist, gilt nicht für Bergleute.
Rainer Kambeck ist sich sicher, dass die Politik ihr großzügiges Versprechen gegenüber den Bergleuten auch halten kann, wenn die subventionierte Steinkohlenförderung schon 2014 beendet werden muss. „Denn von den für die Jahre 2015 bis 2019 vorgesehenen Subventionen von über 5 Milliarden könnte dann ein erheblicher Teil für eine direkte Unterstützung der Bergleute eingesetzt werden. „Das kann die EU nicht untersagen.“
Die Bergleute könnten sogar weiter auf den Zechen beschäftigt werden. Zwar nicht im Kohleabbau,  aber bei dem Abriss der Anlagen oder der Renaturierung der Flächen.
Und auch um den Kapitalstock der Stiftung macht sich Kambeck wenig Sorgen. „Evonik kann auch bis 2014 verkauft werden. Das ist zwar anspruchsvoll, aber machbar. Zudem braucht man auch nicht gleich den kompletten Verkaufserlös schon im Jahr 2015. Der Zeitplan zum Aufbau des Kapitalstocks müsste also nicht komplett geändert werden.“
Von der Idee, Evonik als Konzern an die Börse zu bringen, war das RWI allerdings nie angetan. RWI Präsident Christoph M. Schmidt hatte dies 2006 und 2007 mehrfach deutlich gemacht. Schmidt plädierte dafür, die drei Konzernbestandteile einzeln zu veräußern.
Nicht nur Schmidt wunderte sich über die angeblichen Vorteile, die ein Konzern besitzen sollte, der aus einem Chemieunternehmen, einer Wohnungsbaugesellschaft und dem Kraftwerksbetreiber STEAG bestehen sollte.  Das Konzept wurde außerhalb der Politik stark kritisiert.
Für den Bereich Spezialchemie, die frühere Degussa, lag sogar ein Angebot vor: Vier bis sechs Milliarden Euro wollte Lanxess Vorstandschef Axel Heitmann 2007 für das Unternehmen zahlen und so einen großen, nordrhein-westfälischen Chemiekonzern schaffen. Er scheiterte an Rüttgers und dem damaligen Evonik-Chef und ehemaligen Wirtschaftsministers Werner Müller. Ansonsten Kontrahenten, waren sich beide in dieser Frage einig. Müller träumte davon, Vorstandsvorsitzender eines DAX-notierten Konzerns zu werden. Das wollte Rüttgers zwar mit aller Macht verhindern, aber um die Gewerkschaften hinter sich zu bringen,  war auch er gegen eine Zerschlagung des Konzerns. Ihre Zustimmung war nötig, um den Kohleausstieg im Konsens und ohne massive Proteste über die Bühne zu bringen. Mittlerweile taruert man auch in der Landesregierung über die vertane Chance: „Mit dem Lanxess-Angebot waeren wir besser gefahren. Heute würde die Politik wohl anders entscheiden und auf Nummer sicher gehen“, so ein Minister, der seinen Namen aber nicht in der Zeitung lesen möchte.
Glaubt man den kursierenden Gerüchten, ist ein Kompromiss das wahrscheinlichste Ergebnis: Ende der Kohlesubventionen im Jahr 2016. Ein Ergebnis, mit dem alle werden leben können. Und bei dem niemand das Gesicht verliert.

Der Artikel erschien bereits in der Welt am Sonntag

Wunder der Physik – die Nummer vom Foucaultschen Pendel ward gegeben

Endlich: Die Erdrotation ist bewiesen – und sie bewegt es doch

Foucaultsches Pendel. Foto: Heinrich-Hertz-Berufskolleg Düsseldorf
Foucaultsches Pendel. Foto: Heinrich-Hertz-Berufskolleg Düsseldorf

„Ich werd‘ das Pendel jetzt einschwingen“, spricht der junge Mann im Strickpullover und schnappt sich eine brennende Kerze. Mit deren wachsgespeister Flamme brennt er eine Schnur ab, die das Pendel zum Schwung freigibt. In der Folge pendeln auch die Augenpaare der Betrachter fasziniert und rhythmisch hin und her.

An diesem Freitag abend findet sich ein Dutzend Hobbysterngucker im Treppenhaus eines abgenutzten Schulgebäudes ein, um in öffentlicher Veranstaltung ein klassisches Experiment nachzuvollziehen: Die Nummer vom „Foucaultschen Pendel“ wird gegeben.

Ein historischer Versuch der Experimentalphysik, der zum Beweis der Erdrotation dient.

Für diese Live-Show nimmt ein Bevollmächtigter den wissenschaftlich Interessierten zwei Mark fünfzig ab. Um Heerscharen von Pennälern mit der spektakulären Lehre von der Erddrehung beglücken zu können, ersannen die Baumeister der naturwissenschaftlich orientierten Oberschule die Experimentalanordnung eigens als Inhouse-Lösung.

Streng nach Versuchsvorschrift ist an dem von der Decke darniederhängenden Haken ein Draht zu knüpfen. In Kellerhöhe, nach acht, neun Metern, endet der Schwungfaden an einem Metallzylinder, der das Pendel darstellt. Auf dem Kellerboden ist der Pendelweg durch eine Metallintarsie schon vorgezeichnet. Weicht nun der Pendelweg beizeiten von dieser Strecke ab, gilt das als Beweis für die Erddrehung.

„Denn das Foucaultsche Pendel verläßt niemals seine Schwingungsebene, die Erde dreht sich unter dem Pendel weg“, doziert Experimentator Thomas, derweil er in seiner Jutetasche nach weiteren Informationen kramt. Die richtig harten Fakten werden den Physikfans drei Stockwerke höher präsentiert.

„Ich werde nunmehr drei Ausführungen zur Erdrotation machen“, steigt der Dozent ein. Der Vortrag wird in einem völlig verwüsteten Klassenzimmer dargeboten: Gesplitterte Fensterscheiben, verbrannte Gardinen, verkohlte Fensterbänke.

An der vergammelten Korkpinnwand hat sich ein Schmierant zu „Anthrax“ bekannt.

Doch die Jungforschis leben in anderen Welten.

Völlig fasziniert starrt ein junger Mann mit Knopfaugen auf die Overheadprojektion, mit deren Hilfe der Vortragende Thomas den Mikrokosmos der einschlägigen Naturgesetze erläutert. „Folglich findet am Äquator überhaupt keine Pendelbewegung statt“, zieht er eine Konklusion. Gerührt hält ein Nachwuchs-Physikerpaar Händchen unter der Schulbank.

„Das Pendel kennt seine Ruhelage, und somit stellt sich hier die Frage nach dem absoluten Raum„, referiert sich der Mann vorn in Rage. Im Auditorium mümmelt ein Flaumbart konzentriert an seinem Federhalter.

„Wer weiß hier was über den absoluten Raum?“, will Thomas inquisitorisch wissen. Ein Lehrer in Zivil, mit gnadenlos verwittertem Jungengesicht, starrt verschüchtert auf seine Fingernägel. Der ergraute Fachmann mag sich jetzt so in der Defensive fühlen wie Papst Gregor XVI., der schon 1852 gezwungen war, die spektakuläre Lehre von der Erddrehung anzuerkennen.

Tatsächlich zeigt sich heutzutage der praktische Beweis schon nach einer halben Stunde Hin-und Her-Gehangel.

„Die Abweichung ist signifikant“, stellen die Freunde der Experimentalphysik nach einer Tour durchs Treppenhaus im Keller fest. Was zu beweisen war.

Anmerkung. Wie komm‘ ich denn da drauf? Nun, ich hab‘ grad‘ einen meiner Webserver aufgeräumt und die Geschichte da wiedergefunden. Die hab‘ ich vor mehreren Äonen aufgeschrieben. Sie ist zeitlos wie die Erddrehung. Außerdem find‘ ich Anthrax und Public Enemy, die oben in der Geschichte auftauchen, plötzlich wieder gut.

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Der Ruhrpilot

NRW: Das Glaubwürdigkeitsproblem der Hannelore Kraft…Welt

NRW II: NRW lehnt geplante Hartz-IV-Änderung ab…Ruhr Nachrichten

NRW III: Justiz patzt bei Loveparade-Aufklärung…Der Westen

Dortmund: Envio und Neupert waren früh im Gift-Handel aktiv…Der Westen

Dortmund II: U-Gastronomen sollen FZW stemmen…Ruhr Nachrichten

Essen: Stadion-Neubau von RWE soll billiger werden…Der Westen

Bochum: Landesregierung bekräftigt  Entscheidung zum Gesundheitscampus…Pottblog

Bochum II: Totaltheater…FR Online

Bochum III: Zweite VV für autonome Politik in NRW…Bo Alternativ

Internet: Wie undurchsichtig ist Wikileaks?…Der Westen

Harz IV: Da hat der Luhmann wieder mal Recht gehabt…Weissgarnix

Geschichte der DDR muss neu geschrieben werden – Marx/Engels-Schrift entdeckt

Ein guter Grund, der DDR auch noch zwanzig Jahre nach ihrem Verschwinden nachzutrauern, ist der Tag der Deutschen Einheit. Der fiel, solange es sie noch nicht gab, auf den 17. Juni, führte zu ungehörten Reden und war ansonsten oft ein Brückentag und damit beste Gelegenheit, irgendwo am holländischen Strand rumzuliegen.

Nur die armen SDAJ-Angehörigen (DKP, damit geistig irgendwie DDR und ästhetisch eine Zumutung) und die geistig rein westlichen, aber ebenso gering geschätzten Anhänger der Jungen Union hatten Schlechteres zu tun. Die JU feierte ihren Deutschlandtag. Ihre Angehörigen fuhren von Castrop-Rauxel, Herne oder Duisburg aus in Bussen nach Berlin (West), zumindest versuchten sie es. Am Busbahnhof lungerte nämlich gerne irgendein DKP-Pionier herum, notierte das Kennzeichen und verpetzte es bei einer Stasi-Hotline. Daraufhin wurde der ein oder andere JU-Trupp kurz hinter Helmstedt an der Weiterreise gehindert wegen des absehbaren Missbrauchs der Transitwege. Woraufhin alle glücklich waren, die lungernden Pioniere, die Zurückgewiesenen, die Politiker, die dann doch ein Thema hatten für ihre Feiertagsreden und schließlich wir Hollandurlauber, weil wir in Egmont ein paar Idioten weniger am Hals hatten. Erkläre das heute mal einem 16-jährigen.

Heute ist Tag der Deutschen Einheit am 3.Oktober, da wollen nur die ganz Harten in Holland am Strand liegen, und das Feiertags-Shopping in Winterswijk ist so prickelnd auch nicht mehr, seitdem jede Ruhrgebietskleinstadt mit drei verkaufsoffenen Sonntagen im Jahr nervt.

Bleibt die Frage: Wer hat Schuld am Bankrott der DDR? Einfache Antwort: Honecker und Kollegen. Sie hätten es besser wissen müssen, hätten sie nur mal ihren Marx genauer gelesen, könnte man leichtfertig sagen. Der Fall (der DDR) liegt aber genau anders herum. Karl Marx und Kumpel Friedrich Engels sagten nämlich schon 140 Jahre vor dem Mauerfall genauestens voraus, wie es mit der Deutschen Demokratischen Republik einmal zu Ende gehen wird. Das berühmte „Manifest der Kommunistischen Partei“ von 1848 liest sich heute wie das Drehbuch für den Untergang. (Nein, nicht jenen mit Bruno Ganz.) Der Verdacht liegt nahe, dass das Politbüro die Schrift sehr wohl gelesen und sie dann einfach und linientreu Punkt für Punkt abgearbeitet hat. Blöd gelaufen.

Schauen wir einmal genauer in den Text, nehmen wir uns den ersten, berühmten Satz vor: Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. (31) Gespenster sind bekanntlich lebende Leichen, Untote, Vergangenheit, die nicht vergehen will. Der Kommunismus konnte also erst zombiehaft durch Europa geistern nach seinem Ende. Nebenbei erklärt sich, warum die Hummer verzehrende Sahra Wagenknecht so luxemburgesk durch die Gegenwart wandelt. Sie personifiziert gerne Rosas Gespenst.

Schon der erste Satz des Manifests ist also ein Volltreffer. Mit Blick auf die Wendezeit stellt sich die Frage: Warum musste die DDR untergehen? „Zwangsläufig“, antwortet der geschulte Marxist, denn Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen… Kampf, einen Kampf, der … mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete. (32f.) Nun gut, die Revolution im Osten war eher lau. Hierzulande werden ungeliebte Staatschefs halt nicht an die Wand gestellt, sondern allenfalls wegen Bananenunterschlagung vor Gericht. Aber Pazifismus ist nicht immer die schlechteste Lösung.

Eine Alternative, einen dritten Weg, eine demokratische DDR war nie möglich. Auch das wussten Marx und Engels: Die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne dass der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird. (47)

Der Umsturz im deutschen Osten 1989/90 war so friedlich, dass viele Kader nicht nur überlebten, sondern munter weiter machten. Blockflöten, Forumsmitglieder, CDU-Neugründer, Wendehälse waren zu erwarten, das wusste das Autorenduo Marx/Engels. Denn in Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozess innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, grellen Charakter an, dass ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt. (45) Da waren Krenz, Modrow und Maueröffner Schabowski Klassenbeste.

Jahrelang war die DDR in ihrem Mief, der nicht nur von Braunkohlehausbrand und Kohleintopf stammte, nahezu erstickt. Das war kein Betriebsunfall, das war Planübererfüllung in Sachen Sozialismus.

Dieser deutsche Sozialismus, der seine unbeholfenen Schulübungen so ernst und so feierlich nahm und so marktschreierisch ausposaunte, verlor indes nach und nach seine pedantische Unschuld. (67)Man erinnert sich an dieses lächerliche Paraden-, Ordens- und Feiertagsgedröhne.

Las man das kreuzlangweilige Neue Deutschland, lauschte den offiziellen Verlautbarungen, konnte man kaum übersehen, was den deutschen Sozialismus umtrieb. Er proklamierte die deutsche Nation als die normale Nation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen. Er gab jeder Niedertracht desselben einen verborgenen, höheren, sozialistischen Sinn, worin sie ihr Gegenteil bedeutete. (69)

Unschuldige Bäume mussten sterben für das Neue Deutschland und Berge von Literatur, die wir Wessis mit unserem Zwangsumtausch aus Berlin, Hauptstadt der DDR, abschleppten. Auch diese Publikationen folgten dem 1848-er Plan, denn mit sehr wenigen Ausnahmen gehört alles, was in Deutschland von angeblichen sozialistischen und kommunistischen Schriften zirkuliert, in den Bereich dieser schmutzigen, entnervenden Literatur. (69)

Erich Honecker checkte das alles und konnte auch in hohem Alter das Manifest der Kommunistischen Partei mühelos in SED-Sprech übersetzen. Die historische Schrift gab die Linie vor: Auf diese Art entstand der feudalistische Sozialismus, … stets komisch wirkend durch gänzliche Unfähigkeit, den Gang der Geschichte zu begreifen. (62) Honecker bewies, dass er der folgsamste, also unfähigste Schüler war. „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“, reimte er noch kurz vor Toresschluss und Maueröffnung, vielleicht noch auf einen Weltanschauungsorden hoffend, den er sich selbst an die Brust heften dürfte.

Berauscht von den ständigen Erfolgen des sozialistischen Wettbewerbs, waren die Jungs in der Wandlitzer Seniorenwohngruppe geflissentlich bemüht, die 140 Jahre alten Visionen von Marx und Engels Wirklichkeit werden zu lassen, bis zum bitteren Ende. Den proletarischen Bettlersack schwenkten sie als Fahne in der Hand, um das Volk hinter sich her zu versammeln. Sooft es ihnen aber folgte, erblickte es auf ihren Hintern die alten feudalen Wappen und verlief sich mit lautem und unehrerbietigem Gelächter. (62)

Schließlich wurde es im Manifest wie in der DDR paradox. Die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände (76), folglich auch jene Bewegung, die sich gegen sie selbst richtete. Das nenne ich mal konsequent. Die Wende im Herbst 1989, der Untergang der DDR im Oktober 1990, beides war also ganz im Sinne der Vordenker. Mit der Wende konnte das Politbüro stolz auch die Schlussformel des Manifestes als erledigt abhaken: Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch! (77) Und sei es nur auf dem Oktoberfest oder am Ballermann.

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf: Marx, Karl u. Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei, Peking 1975, Verlag für fremdsprachige Literatur.

Ruhrgebiet: Kein Interesse an Kreativen

Nordrhein-Westfalen wird schrumpfen – vor allem das Ruhrgebiet und das Sauerland sind vom demographischen Wandel betroffen. Abriss und neue Nutzungsmodelle stehen in der Diskussion.

Bruckhausen hat keine Chance mehr: Über ein Drittel der Wohnungen steht leer. Die Substanz der Gebäude ist schlecht, die Nähe zu den verbliebenen Duisburger Stahlwerken sorgt für immense Umweltbelastungen. Ein Hauch von Schwefel liegt immer in der Luft. In Bruckhausen sollen 200 Häuser abgerissen werden. Es gibt viele Bruckhausens im Ruhrgebiet, und der Abriss ganzer Quartiere wird zu einer Zukunftsaufgabe der Region. Auch die vom Frankfurter Architekturbüro Albert Speer & Partner (AS&P) veröffentlichte Projektskizze Ruhrplan 21 sieht dazu an vielen Stellen keine Alternative. Aber ist Abriss wirklich das letzte verbleibende Mittel? Dr. Michael Denkel von AS&P sieht noch eine weitere Möglichkeit: Die Neu- und Zwischennutzung von leer stehenden Gebäuden. Die seien vor allem für die Kreativwirtschaft attraktiv: „Dass das  Ruhrgebiet noch über viele Flächen verfügt, die nicht durchoptimiert sind, ist eine Chance. Gerade Künstler und Gründer aus dem Bereich der Kreativwirtschaft nutzen solche Gebäude gerne. Sie sind ein wichtiger Raum für neue Ideen und Projekte. Hier können sich Menschen ausprobieren.“

Zwar warnt Denkel davor, dass das Ruhrgebiet zu große Hoffnungen mit der Kreativwirtschaft verbindet, aber als Branche sei sie durchaus präsent – auch wenn von ihr nicht der entscheidende Impuls zur wirtschaftlichen Erneuerung ausgehen wird.

Wichtig sei, dass auch die Bereitstellungen von Gebäuden für Kreative konzentriert und nach Plan verläuft. Dann könnten, sagt Denkel, von solchen Zwischennutzungen Impulse für die Stadtentwicklung ausgehen.

Solche Impulse will Tino Buchholz setzen. Der Stadtentwickler hatte mit über 100 Künstlern im August die leer stehende Kronenbrauerei in Dortmund besetzt. Die Räumung erfolgte noch am selben Tag, aber seitdem ist man mit der Stadt im Gespräch. Man sucht scheinbar nach passenden Räumen für die Künstler. Es finden Gesprächsrunden zwischen der Initiative für ein Unabhängiges Zentrum und Kulturdezernent Jörg Stüdemann statt.

„Wir sind“, sagt Buchholz, „eine Chance für Dortmund. Wir wollen etwas bewegen, gründen und werden mit unserer Arbeit helfen, einen Teil der Stadt attraktiver zu machen.“ Ein altes Quartier attraktiver machen heißt in der Planersprache Gentrifizierung: Erst kommen die Künstler in die billigen Wohnungen und Werkstätten, dann die Szene-Kneipen  und Galerien und irgendwann steigen die Mieten, wird saniert und die Ursprungsbevölkerung muss das Viertel verlassen, weil es sich die Preise nicht mehr leisten kann. In Berlin war das so. Am Prenzlauer Berg, dem Musterbeispiel für Gentrifizierung in Deutschland sind 80 Prozent der Bewohner in den vergangenen 20 Jahren zugezogen. Der bestimmende Dialekt in dem herausgeputzten Bezirk in Berlin Mitte ist längst das Schwäbische.

Buchholz würde mit seiner Initiative gerne in die Dortmunder Nordstadt ziehen. In dem Problemstadtteil hat sich schon heute in Ansätzen eine Künstlerszene etabliert, der es vielfach an geeigneten Räumen fehlt. Viele, auch öffentliche Gebäude, stehen leer, obwohl es zahlreiche Interessenten für preiswerte Räume gibt. Die Initiative will solche Räume nutzen, die Betriebskosten tragen und eigenverantwortlich renovieren. Nach zehn Jahren, so der Plan, würde man gerne kaufen – zum Ursprungspreis. Buchholz: „Wir wissen, dass wir mit unserer Arbeit die Attraktivität eines Quartiers steigern und wollen am Ende nicht mit leeren Händen dastehen. Verdrängungsprozesse wie am Prenzlauer Berg befürchtet der Stadtentwickler nicht: „Das wird hier nie die Region die Kreative aus aller Welt anzieht. Außerdem wollen wir eng mit den jetzigen Bewohnern zusammen arbeiten.“

Trotz begonnener Verhandlungen besteht allerdings wenig Hoffung für Buchholz und seine Freunde. In einer den Ruhrbaronen vorliegenden Antwort auf eine Anfrage der CDU-Fraktion zur Zwischennutzung von öffentlichen Gebäuden durch Kulturinitiativen stellt Stüdemann fest:

„(…) aus liegenschaftlicher Sicht (kann) eine Nutzungsüberlassung von leer stehenden Infrastrukturimmobilien und bebauten Besitzungen des Allgemeinen Grundvermögens an Kulturinitiativen nicht empfohlen werden.“

Für Buchholz ist die Konsequenz klar: Finden sich keine Räume, werden er und viele andere Dortmund verlassen. Er hat schon eine Alternative: „Leipzig.“ Dort sind Zwischennutzungen üblich. Die sächsische Stadt hat längst eine große Anziehungskraft für junge Kreative, auf die man in Dortmund keinen Wert zu legen scheint.

Auch in Essen scheiterten Besetzer aus der Künstlerszene. Schon nach wenigen Tagen verließen sie freiwillig ein leer stehendes Gewerkschaftshaus am Rand der Innenstadt. Und auch in Köln steht es schlecht um die ebenfalls von vielen Künstlern seit April besetzte ehemalige Deutz-Kantine im Stadtteil Kalk. Das zur Sparkasse Köln-Bonn gehörende Immobilienunternehmen S RheinEstate GmbH will bald räumen lassen. Geschäftsführer Jürgen Lange: „Das Gebäude ist aus Sicherheitsgründen nicht als Veranstaltungszentrum zu nutzen. Die Stadt ist nicht bereit für die Umbaukosten aufzukommen, also bleibt uns kein anderer Ausweg als die Räumung – wenn die Besetzer nicht vorher die alte Kantine freiwillig verlassen.“

Geht es nach Michael Denkel von AS&P sollten sich allerdings auch Boomstädte wie Köln oder Düsseldorf Gedanken darüber machen, wie sie Freiräume für unkonventionelle Initiativen in ihren Städten sichern. „In Frankfurt haben wir solche Räume schon nicht mehr. Dort wird jetzt überlegt, junge Kreative in Offenbach anzusiedeln, damit sie in der Region bleiben.“ Frankfurt versucht sich damit zukünftige Potentiale  zu sichern – auch in Zusammenarbeit mit der ungeliebten Nachbarstadt mainaufwärts.

Im Ruhrgebiet ist man noch nicht so weit. Auch wenn der für Kreativwirtschaft zuständige Kulturhauptstadtdirektor Dieter Gorny die Essener und Dortmunder Kunstbesetzer für ihren Tatendrang lobte und ihnen öffentlich Unterstützung zusicherte, tut sich im Ruhrgebiet erst einmal wenig, junge Kreative zu halten. Man darf gespannt sein, wann aus dem Ruhrgebiet der Ruf nach staatlichen Geldern laut wird, sie ins Revier zurückzuholen.

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„Hartzer sollen ein Bier trinken können“

"Fünf Euro allein sind nicht viel" - CDUler Laumann

Karl-Josef Lauman ist der Arbeiterführer der CDU – und findet 5 Euro mehr für Bedürftige völlig okay. Der Münsterländer will ihnen das Bier nicht verbieten – wovon sie es bezahlen sollen, weiß der gelernte Schlosser allerdings nicht zu sagen. Auch höhere Löhne fände er gut – gesetzlich festlegen möchte er sie aber auch nicht.

Herr Laumann, was haben Sie sich zuletzt von fünf Euro gekauft?

Karl-Josef Laumann: Eine Busfahrkarte in Berlin. Ich weiß: Fünf Euro allein sind nicht viel. Aber fünf Euro sind fünf Euro. Und die fünf Euro mehr für jeden Hartz IV-Empfänger kosten den Staat immerhin mehr als 300 Millionen im Jahr, das ist insgesamt eine schöne Stange Geld. Und man darf nicht vergessen, dass die Hartz IV-Sätze das eine sind, der Staat aber auch für die Kosten der Unterkunft aufkommt.

Sie kommen aus dem Münsterland, in dem gerne feucht-fröhlich gefeiert wird. Ist es richtig, den Bedürftigen Bier und Zigaretten zu streichen?

Natürlich sollen die HartzIV-Empfänger auch weiter ein Bier trinken können, das ist doch selbstverständlich. Jeder Empfänger kann doch weiterhin frei darüber entscheiden, was er mit dem Geld macht und das ist auch gut so. Aber man kann halt jeden Euro nur einmal ausgeben. Lassen Sie mich ganz klar sagen: Niemand möchte den HartzIV-Empfängern ihr Bier verbieten. Aber ein Arbeiter bekommt auch vom Staat keinen Zuschlag für Alkohol.

Diese haben ja auch mehr Geld zur Verfügung. Wenn Hartzer nun ein Bier trinken wollten müssten sie aber nach ihren Berechnungen auf etwas anderes existenzielles wie zum Beispiel eine Internetverbindung verzichten.

Nein, die Menschen werden das mit ihren eigenen Berechnungen schon hinkriegen. Aber wir haben jetzt doch etwas viel wichtigeres geschafft: Zum ersten Mal sind dort auch Kosten für das Internet und Vereinsleben berücksichtigt. Allen Schulkindern wird das warme Mittagessen bezahlt, das sind noch einmal 400 Euro mehr im Jahr. Als Sozialminister in Nordrhein-Westfalen wäre ich froh über diese Summe gewesen. Anders als die Vorgängerregierung haben wir jetzt die Teilhabe am Leben mit berücksichtigt.

Das sind doch statistische Wunschwerte. Halten Sie es denn grundsätzlich für möglich zu berechnen, wie viel Geld ein Mensch für ein würdiges Leben benötigt?

Ich glaube den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes. Dieses Gesetz wird auch allen gerichtlichen Auseinandersetzungen standhalten. Die haben fein säuberlich alles herangezogen, was eine Durchschnittsfamilie aus dem unteren Lohnsegment benötigt. Ich gönne den Leuten gerne ein besseres Einkommen, aber die arbeitenden Menschen müssen mehr verdienen. Es darf doch nicht sein, dass die Verkäuferin, die sich von morgens bis abends die Beine in den Bauch steht, oder der Arbeiter im Getränkemarkt, der schwere Kisten schleppt, weniger verdient als ein HartzIV-Empfänger.

Wäre es da nicht folgerichtig, die Niedriglöhne gesetzlich zu erhöhen umso den Lohnabstand zu wahren?

Ich bin überzeugt, dass jetzt mit dem Wirtschaftsaufschwung auch die Löhne steigen müssen. Wir haben in Deutschland einen Niedriglohnsektor. Ich möchte, dass die Lohnerhöhung auch dort ankommt, und zwar durch ordentliche Tarifverträge. Im Übrigen werden auch HartzIV-Empfänger von insgesamt höheren Löhnen profitieren, weil künftig 30 Prozent ihres Satzes von der allgemeinen Lohnentwicklung abhängen.