Ein guter Grund, der DDR auch noch zwanzig Jahre nach ihrem Verschwinden nachzutrauern, ist der Tag der Deutschen Einheit. Der fiel, solange es sie noch nicht gab, auf den 17. Juni, führte zu ungehörten Reden und war ansonsten oft ein Brückentag und damit beste Gelegenheit, irgendwo am holländischen Strand rumzuliegen.
Nur die armen SDAJ-Angehörigen (DKP, damit geistig irgendwie DDR und ästhetisch eine Zumutung) und die geistig rein westlichen, aber ebenso gering geschätzten Anhänger der Jungen Union hatten Schlechteres zu tun. Die JU feierte ihren Deutschlandtag. Ihre Angehörigen fuhren von Castrop-Rauxel, Herne oder Duisburg aus in Bussen nach Berlin (West), zumindest versuchten sie es. Am Busbahnhof lungerte nämlich gerne irgendein DKP-Pionier herum, notierte das Kennzeichen und verpetzte es bei einer Stasi-Hotline. Daraufhin wurde der ein oder andere JU-Trupp kurz hinter Helmstedt an der Weiterreise gehindert wegen des absehbaren Missbrauchs der Transitwege. Woraufhin alle glücklich waren, die lungernden Pioniere, die Zurückgewiesenen, die Politiker, die dann doch ein Thema hatten für ihre Feiertagsreden und schließlich wir Hollandurlauber, weil wir in Egmont ein paar Idioten weniger am Hals hatten. Erkläre das heute mal einem 16-jährigen.
Heute ist Tag der Deutschen Einheit am 3.Oktober, da wollen nur die ganz Harten in Holland am Strand liegen, und das Feiertags-Shopping in Winterswijk ist so prickelnd auch nicht mehr, seitdem jede Ruhrgebietskleinstadt mit drei verkaufsoffenen Sonntagen im Jahr nervt.
Bleibt die Frage: Wer hat Schuld am Bankrott der DDR? Einfache Antwort: Honecker und Kollegen. Sie hätten es besser wissen müssen, hätten sie nur mal ihren Marx genauer gelesen, könnte man leichtfertig sagen. Der Fall (der DDR) liegt aber genau anders herum. Karl Marx und Kumpel Friedrich Engels sagten nämlich schon 140 Jahre vor dem Mauerfall genauestens voraus, wie es mit der Deutschen Demokratischen Republik einmal zu Ende gehen wird. Das berühmte „Manifest der Kommunistischen Partei“ von 1848 liest sich heute wie das Drehbuch für den Untergang. (Nein, nicht jenen mit Bruno Ganz.) Der Verdacht liegt nahe, dass das Politbüro die Schrift sehr wohl gelesen und sie dann einfach und linientreu Punkt für Punkt abgearbeitet hat. Blöd gelaufen.
Schauen wir einmal genauer in den Text, nehmen wir uns den ersten, berühmten Satz vor: Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. (31) Gespenster sind bekanntlich lebende Leichen, Untote, Vergangenheit, die nicht vergehen will. Der Kommunismus konnte also erst zombiehaft durch Europa geistern nach seinem Ende. Nebenbei erklärt sich, warum die Hummer verzehrende Sahra Wagenknecht so luxemburgesk durch die Gegenwart wandelt. Sie personifiziert gerne Rosas Gespenst.
Schon der erste Satz des Manifests ist also ein Volltreffer. Mit Blick auf die Wendezeit stellt sich die Frage: Warum musste die DDR untergehen? „Zwangsläufig“, antwortet der geschulte Marxist, denn Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen… Kampf, einen Kampf, der … mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete. (32f.) Nun gut, die Revolution im Osten war eher lau. Hierzulande werden ungeliebte Staatschefs halt nicht an die Wand gestellt, sondern allenfalls wegen Bananenunterschlagung vor Gericht. Aber Pazifismus ist nicht immer die schlechteste Lösung.
Eine Alternative, einen dritten Weg, eine demokratische DDR war nie möglich. Auch das wussten Marx und Engels: Die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne dass der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird. (47)
Der Umsturz im deutschen Osten 1989/90 war so friedlich, dass viele Kader nicht nur überlebten, sondern munter weiter machten. Blockflöten, Forumsmitglieder, CDU-Neugründer, Wendehälse waren zu erwarten, das wusste das Autorenduo Marx/Engels. Denn in Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozess innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, grellen Charakter an, dass ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt. (45) Da waren Krenz, Modrow und Maueröffner Schabowski Klassenbeste.
Jahrelang war die DDR in ihrem Mief, der nicht nur von Braunkohlehausbrand und Kohleintopf stammte, nahezu erstickt. Das war kein Betriebsunfall, das war Planübererfüllung in Sachen Sozialismus.
Dieser deutsche Sozialismus, der seine unbeholfenen Schulübungen so ernst und so feierlich nahm und so marktschreierisch ausposaunte, verlor indes nach und nach seine pedantische Unschuld. (67) – Man erinnert sich an dieses lächerliche Paraden-, Ordens- und Feiertagsgedröhne.
Las man das kreuzlangweilige Neue Deutschland, lauschte den offiziellen Verlautbarungen, konnte man kaum übersehen, was den deutschen Sozialismus umtrieb. Er proklamierte die deutsche Nation als die normale Nation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen. Er gab jeder Niedertracht desselben einen verborgenen, höheren, sozialistischen Sinn, worin sie ihr Gegenteil bedeutete. (69)
Unschuldige Bäume mussten sterben für das Neue Deutschland und Berge von Literatur, die wir Wessis mit unserem Zwangsumtausch aus Berlin, Hauptstadt der DDR, abschleppten. Auch diese Publikationen folgten dem 1848-er Plan, denn mit sehr wenigen Ausnahmen gehört alles, was in Deutschland von angeblichen sozialistischen und kommunistischen Schriften zirkuliert, in den Bereich dieser schmutzigen, entnervenden Literatur. (69)
Erich Honecker checkte das alles und konnte auch in hohem Alter das Manifest der Kommunistischen Partei mühelos in SED-Sprech übersetzen. Die historische Schrift gab die Linie vor: Auf diese Art entstand der feudalistische Sozialismus, … stets komisch wirkend durch gänzliche Unfähigkeit, den Gang der Geschichte zu begreifen. (62) Honecker bewies, dass er der folgsamste, also unfähigste Schüler war. „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“, reimte er noch kurz vor Toresschluss und Maueröffnung, vielleicht noch auf einen Weltanschauungsorden hoffend, den er sich selbst an die Brust heften dürfte.
Berauscht von den ständigen Erfolgen des sozialistischen Wettbewerbs, waren die Jungs in der Wandlitzer Seniorenwohngruppe geflissentlich bemüht, die 140 Jahre alten Visionen von Marx und Engels Wirklichkeit werden zu lassen, bis zum bitteren Ende. Den proletarischen Bettlersack schwenkten sie als Fahne in der Hand, um das Volk hinter sich her zu versammeln. Sooft es ihnen aber folgte, erblickte es auf ihren Hintern die alten feudalen Wappen und verlief sich mit lautem und unehrerbietigem Gelächter. (62)
Schließlich wurde es im Manifest wie in der DDR paradox. Die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände (76), folglich auch jene Bewegung, die sich gegen sie selbst richtete. Das nenne ich mal konsequent. Die Wende im Herbst 1989, der Untergang der DDR im Oktober 1990, beides war also ganz im Sinne der Vordenker. Mit der Wende konnte das Politbüro stolz auch die Schlussformel des Manifestes als erledigt abhaken: Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch! (77) Und sei es nur auf dem Oktoberfest oder am Ballermann.
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf: Marx, Karl u. Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei, Peking 1975, Verlag für fremdsprachige Literatur.