Zwar gehört Neid zu den Todsünden, aber er spornt an. Auf Thilo Sarrazin bin ich neidisch, ich trachte dem Noch-Bundesbanker nach dem Job. Der Mann gilt als Experte.
Auf seinem ureigensten Terrain kann ich locker mithalten. Von Integration versteht der Mann etwa so viel wie ich von Währungs- und Finanzpolitik. Ich habe fünf Sparbücher, zahlreiche Schulden, einen gesunden Menschenverstand und schon drei Bundesfinanzministern die Hand geschüttelt, von einem sogar ein Autogramm bekommen. Gut, da war ich zwölf und der Mann ziemlich erstaunt. Zur Not kann ich meinen Bruder fragen, der hat Volkswirtschaft studiert. Damit dürfte es zwischen Thilo und mir mindestens Unentschieden stehen. Ich warte jetzt auf die ersten Talkshows, Anne Will wäre mir lieb. Oder muss ich erst das Buch schreiben und dann ins Fernsehen? Ich könnte die These bieten: Deutschland verarmt wegen der Banken, bald werden die uns alle unter Kontrolle haben, und die Politik hat zu lange weggeschaut. Ach so: Aber das darf man hier ja nicht sagen!
Über Integrationsdefizite bei Migranten kann ich leider nicht mitreden, da kann ich Sarrazin nur zustimmen: Die packen es einfach nicht. Ich weiß, wovon ich rede. Nehmen wir einmal an, du wurdest Ende der 50-er in Ankara geboren, nur als Beispiel, bist als Siebenjährige über die grüne Grenze nach Deutschland eingewandert, wurdest als erstes vom Vater sonntags zum Internationalen Frühschoppen vorm Fernseher geparkt, wenn du dann als Neunjährige schon alle Behördengänge für die Familie absolviert hast, mit zwölf statt zur Schule putzen und schuften gegangen bist, dann hast du wie die türkischen Gemüsehändler in Neukölln noch nicht wesentlich zur Volkswirtschaft beigetragen. Den Arbeitgeber Telefunken und Elisabeth Arden hast du aber trotzdem eine große Freude bereitet und vielleicht deren Beitrag zur Volkswirtschaft gefördert. Du warst Anfang der 70-er Jahre, was miserable Bezahlung und Arbeitsbedingungen betrifft, zwar dem deutschen Arbeitnehmer rund 30 Jahre voraus, integriert hast du dich aber nicht.
Hättest du als Teenager statt Tolstoi und Dostojewski Utta Danella gelesen, wärest du endlich mal eingetaucht in die deutsche Leitkultur. Wenn du nach Mitgliedschaft im urdeutschen KBW und schließlich in der SPD im Alleinstudium die Allgemeine Hochschulreife über die Sonderbegabtenprüfung erlangst und mit einem Stipendium der Gewerkschaft Jura, also deutsches Recht studierst, musst du dich nicht wundern über die Frage, wann du denn in deine Heimat zurückkehrst. Der Fragende meint damit übrigens nie die Stadt am Bodensee, die du für deine Heimat hältst. Überhaupt darfst du dir eine Menge Fragen anhören. Oder besser gesagt: Ein paar Fragen immer wieder. Was denn dein Name bedeutet, den auch nach 40 Jahren türkischer Migration niemand richtig aussprechen kann. Da geht es dir nicht besser als Cem Özdemir, von Journalisten gerne Tschem Ötzdemir genannt, von Tschornalisten sozusagen, die möglicher Weise Hubert Krzywiczek heißen.
Komme bloß nicht auf die Idee, irgendeinem Hubert zu entgegnen, „Hupart“ sei aber ein schöner Name, verbunden mit der Frage, was der denn wohl bedeute. Frage ihn nicht, wo er selbst herkomme, um ihn auf seine Antwort: „Dingolfing“ zu loben, dafür spräche er aber hervorragend Deutsch. Auch wenn du damit nur sein strunzdummes Gelaber konterst. Verkneife dir auch die Frage, wann er denn in seine Heimat zurückkehre. Ertrage geduldig sein Gewäsch vom Kopftuch, auch wenn du ihm mit geschminkten Lippen, hochhackigen Schuhen und Minikleid entgegen trittst und ein Kopftuch allenfalls mal als modisches Accessoire im Grace-Kelly-Look nutzt.
Wenn er dann, ganz Experte, dich über den finsteren Islam aufklärt, bedaure ihn nicht für seine Mitgliedschaft in der katholischen Kirche, in der eine Frau wenig und Homosexualität als Sünde gilt. Dann wäre deine Integration für immer gescheitert. Sei einfach wie verlangt Islam-Expertin qua Geburt. So wie auch jeder Ruhri allein durch seine Herkunft ausschließlich Fachmann ist für Fettkohle und Polen. Fang bloß nicht von Simone de Beauvoir an, selbst wenn du die im Gegensatz zum Koran gelesen hast. Wenn das Gespräch auf die Integration kommt, erwähne nie die 16 Jahre dauernde Kohl-Ära, in der die Türkei schon zwölf Jahre vor der Bundesrepublik eine Regierungschefin hatte.
In der Zeit hättest du lernen können, wie Integration geht. Als die Häuser brannten in Solingen und Mölln und ihre Bewohner elendig krepierten, als Helmut Kohl sich den Versprecher leistete: „Deutschland ist und bleibt ausländerfrei… äh… -freundlich“ und zur Trauerfeier nicht selbst erschien, sondern den Zuständigen schickte, den Außenminister. Da hättest du kapieren können, dass ihr eure Rolle finden solltet als opfer- oder ausreisewillige Gruppe und später bei einem Landtagswahlkampf als hetzkampagnenfähiges Zerrbild. Sich damit abzufinden, das hätte Integrationswillen bekundet.
Du aber hast dich weiter gewundert, darüber, dass deine Tochter Ebru von der Stadtbücherei ihrer Geburtsstadt nach Jahren immer noch als „Herr Ebru“ angeschrieben wird. Hättest du sie einfach Claudia genannt, das wäre mal ein Schritt gewesen, den man von euch Migranten so gerne fordert. Du hast Fehler gemacht in ihrer Erziehung. Du hast dich geweigert, sie in der Grundschule in den Deutsch-Förderkurs zu schicken. Da zählt aber dein Dostojewski nicht und nicht dein Zeit-Abo, und dein deutscher Lebensgefährte mit Germanistikstudium schon gar nicht. Den kann es bei dir gar nicht geben, man hat sich gerade mühevoll damit abgefunden, dass du nicht zwangsverheiratet bist. Da zählt allein der Erfolg. Und Erfolg ist nicht, wenn Kinder mit Migrationshintergrund Deutsch können. Erfolg ist, wenn sie ihr Defizit in möglichst großen Förderkursen eingestehen. Denn das allein macht sich gut in der Statistik, und Statistik ist sehr deutsch.
Du hast später den Fehler begangen, nicht auf den Schulleiter zu hören, als es um den Übergang zur weiterführenden Schule ging. Er hatte doch ausführlich begründet, warum Ebru auf dem Gymnasium nichts verloren hätte: Seine Nachbarn seien auch Türken, da sei die Tochter auf der Realschule, und das sei auch gut so. Selbst schuld, wenn Ebru auf einem Gymnasium landet, in dem die Oberstufe schultyptypisch als national befreite Zone durchginge. Wenn du in einem Marie-Curie-Gymnasium den Mathe-, Physik- und Klassenlehrer zum Konzept der Mädchenförderung in den Naturwissenschaften befragst und die schöne Antwort erhältst: „Wenn Mädchen sich melden, nehm ich sie auch dran“, und trotzdem glaubst, dass irgendein Lehrer sich Gedanken macht zum Umgang mit Migranten, hast du das deutsche Schulsystem nicht verstanden. Das klingt dann schon ein wenig nach Integrationsverweigerung. Schließlich hatten die Pädagogen recht. Was ist aus deiner Tochter geworden? Master-Studentin in der Chemie, gut. Aber wo bitteschön? In Spanien. Integration geht anders.
Bei dir selbst sieht es nicht besser aus. Du hast das erste und das zweite Staatsexamen, die Zulassung als Rechtsanwältin. Die deutsche Staatsbürgerschaft hast du auch erhalten, in einer Zeremonie, die eher nach der Verlängerung eines Anwohnerparkausweises aussah als danach, dass der Beamte, Beigeordneter immerhin, dich oder die deutsche Staatsangehörigkeit besonders wertschätzte.
Jetzt hast du an deiner Kanzlei ein Schild angebracht. „Rechtsanwältin“ steht darauf, nicht etwa „Scharia-Schamanin“. Und wer sind deine Mandanten? Zu 80 Prozent Türken, nein: türkischstämmige Frauen. Im Diskriminieren stehen türkische Männer den Deutschen nicht nach. Ich sag doch: Du packst das einfach nicht mit der Integration.