Wo war eigentlich Bernd Eichingers Sarg bei der Goldenen Kamera am Samstag? Den hätte man doch auch schön zur Schau stellen, feierlich auf der Bühne platzieren können. Bitteschön, der Zuschauer lässt sich auch vom überraschenden Tod gerne rühren, solange es nicht der eigene ist. Im Sarg hätte nicht mal wirklich der Tote liegen müssen, hätte schon keiner nachgeschaut, war schließlich nur Fernsehen. Wo Gefühle vor allem willkommen sind, nicht wenn sie wahr, sondern wenn sie telegen sind.
Wegen dringender Bühnenarbeiten komme ich mir derzeit häufig so vor wie jemand, der viel zu spät zu einer Party erscheint, auf der schon alle besoffen sind oder andere, weniger legale Drogen verspeist haben. Den so genannten Coup (professionell auch: „Scoop“) habe ich erst spät nachts in der ZDF-Mediathek gesehen. Ich wusste nicht, ob ich bei einer freakigen Show gelandet war und schnell Drogen nachschmeißen sollte, um mithalten zu können. Ich entschied mich dann doch zum enthaltsamen Entsetztsein. Um mal die Hälfte des anzunehmenden Hasses von mir abzulenken: Ich freue mich sehr für Monica Lierhaus, wenn es ihr gut geht, besser geht, wenn sie zuversichtlich in die Zukunft schaut und daran arbeitet, dass diese Zukunft täglich besser wird. Das ist toll, das ist ein großer Erfolg für sie. So wie es ein großer Erfolg wäre für jeden, der eine vergleichbare Geschichte erlebt hat.
Aber was bitteschön soll dieses roboterhafte Auftreten, dieses Ablesen eines wahrscheinlich mühsam eingeübten Textes mit metallsurrender Stimme vor etwa tausend meist relativ belanglosen Mitarbeitern der Fernsehindustrie und etwa viereinhalb Millionen Fernsehzuschauern? Es ist richtig, dass die Verantwortlichen einer Rehabilitationsmaßnahme ihre Patienten motivieren, dass sie ihnen Ziele setzen. Das gilt für eine Sportmoderatorin genauso wie für einen Frührentner aus Duisburg, den man mit der Aussicht auf einen Spaziergang mit dem Hund motiviert, oder für einen Zerspanungsmechaniker bei ThyssenKrupp, der darauf hinarbeitet, an seinen alten Arbeitsplatz zurück kehren zu können. Es ist aber ebenso wichtig, dem Patienten beizubringen, mit dem veränderten Leben nach einem Schlaganfall, Aneurysma, Unfall oder nach einer Amputation klarzukommen.
Wäre die Kulisse etwa 500 000 Euro billiger gewesen und hätte statt Günter Netzer eine TV-Bratze wie Britt statt ernstzunehmender schlecht imitierte Gefühlsregungen gezeigt, hätte man sich im normalen Fernsehmüll des RTL-Nachmittags gewähnt. Dort vermutet man auch eher den Hang zu öffentlichen Heiratsanträgen.
Aber es war eine neue Form der Scripted Reality, es war die Goldene Kamera, es war im ZDF. Wobei der Lierhaus-Scoop jede Diskussion erübrigt, warum ein paar lächerliche Bierstände bei Thomas Gottschalk Furore machen, diese Veranstaltung des Springerkonzerns aber nicht als Dauerwerbesendung gekennzeichnet wird. Die „Hörzu“, dieses tantenhafte Fernsehprogrammheft mit auf niedrigem Niveau dümpelnder Auflage, hatte seinen Höhepunkt wahrscheinlich, als das Radio seinen Schwerpunkt von der Mittelwelle auf UKW verlagerte. Es muss vierzig Jahre her sein, dass mein Vater als Preis für ein gelöstes „Hörzu“-Kreuzworträtsel einen Schmuckkasten mit Pralinen gewann und fortan in der Straße als gewiefter Intellektueller galt.
Natürlich ist die Goldene Kamera nicht der unglaublich armselige „Steiger Award“ eines Sascha Hellen. Während der umtriebige PR-Profi aus dem Pott wahrscheinlich nur schauen muss, wer von seiner Politiker- und Promirestehalde gerade völlig terminlos ist, wird man bei Springer schon hin und wieder den Agenten eines einzufliegenden Hollywoodstars eindringlich auf die mögliche Win-win-Situation hinweisen müssen. Oder man passt gerade gut in die Werbestrategie eines Filmverleihs. Doch die Goldene Kamera ehrt in der Regel lieber einen Tatort als Dominik Graf. Fernsehprofis wie Roman Brodmann, Georg Stefan Troller, Gordian Troeller, Axel Corti oder Eberhard Fechner werden den meisten Gästen der Springerzeremonie eher unbekannt sein.
Das Fernsehen darf verletzte Menschen zeigen. Das muss es manchmal sogar, wenn es um verprügelte Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern geht oder um Katastrophenopfer in der Karibik. Das Medium hat sich mittlerweile darauf versteift, selbst bei der letzten Selbstentblößung Unbekannter in schauderhaften Billigformaten darauf hinzuweisen, der Bloßgestellte habe sich freiwillig zur öffentlichen Demütigung verpflichtet. Über Sendungen wie das „Dschungelcamp“ können sich allenfalls noch die Schützer australischer Schleimmaden aufregen. Den Rest spült eine Welle berechtigter Schadenfreude weg.
Am Samstag aber kam Monica Lierhaus auf die Bühne, auf eigenen Wunsch, wie im Nachgang betont wurde. Die Erzeugung von Schadenfreude konnte nicht das Motiv der Veranstalter sein. Lierhaus erhielt einen Ehrenpreis in einer ungenannten Kategorie, die man allenfalls ahnen kann. Nächstenliebe kann aus rein systematischen Gründen nicht das Motiv eines Medienkonzerns sein, egal wie lieb die Chefin die Geehrte hat. Wahrscheinlich hat Monica Lierhaus den Fantasiepreis aus einem Grund, und das völlig zu Recht erhalten: Für den direkten Appell an das limbische System der Zuschauenden. Ihre Aufgabe war das Auslösen von Emotionen. Die Tränen der anderen Showbeschäftigten bewiesen, dass man bei Springer mit der Ehrung richtig gelegen hatte. Tränen schlagen Erkenntnis. Auch wenn man das vorher wusste, Hörzu und ZDF haben es noch einmal eindrucksvoll vorgeführt.
Investigative Journalisten werden hoffentlich bald recherchieren, warum die Moderatorin der ARD-Sportschau ihren ersten öffentlichen Auftritt ausgerechnet im ZDF feierte, auf einer Veranstaltung des Springerkonzerns, der sich zumindest in der Frühphase der Erkrankung nicht so gern wie andere an die Bitte um Zurückhaltung hielt. Soweit mir bekannt, halten in Kündigungsprozessen Anwälte die Mandanten an, ihre Arbeitskraft dem alten Arbeitgeber anzubieten. Das sichert den Geschassten einige Rechte. Die ARD, alter Arbeitgeber von Monica Lierhaus, reagierte ziemlich perplex auf den Wunsch der Rückkehrerin, bald wieder vor der Kamera zu stehen. Im Ersten muss man den Auftritt bei der Konkurrenz als Affront begriffen haben. Ihr Comeback hätte Monica Lierhaus auch im Haussender beim Kollegen Beckmann zelebrieren können. Dessen Spezialität sind doch einfühlsame, widerwort- und barrierefreie Interviews mit Schicksalsgebeugten. Bevor die große Medienwelle überschwappte, wollte man beim Ersten erst heute Nachmittag, mit drei Tagen Verspätung, Stellung nehmen. Wer dann etwa den ARD-Programmdirektor Volker Herres am Montag im Radio hörte, ahnt, dass ernsthafte Freude schon mal anders klingen kann.
Um nichts falsch zu verstehen: Joachim Löw nach einem Länderspiel zu fragen, ob die Italiener in der zweiten Hälfte auf dem rechten Flügel nicht Schwächen offenbarten, ist eine Arbeit, die man können muss. Monica Lierhaus hat gezeigt, dass sie das kann, dass sie die richtigen Fragen stellen kann. Aber das ist alles nur Fernsehen. Jeder Altenpfleger, der sich bei seinen Heimbewohnern erkundigt, ob sie zum Klo möchten oder ob die Suppe zu heiß ist, stellt täglich hundertfach wichtige Fragen. Aber das ist nur das Leben und nicht das Fernsehen. Monica Lierhaus scheint den Unterschied derzeit nicht zu erkennen. Das war das eigentlich Traurige an ihrem Auftritt. Und das löste wahrscheinlich die direkte Reaktion des Saalpublikums mit aus. Die latente Angst, selbst schlagartig ausgestoßen zu sein aus der selbsterwählten Truman Show.
Das Goldene Springer-ZDF arbeitet wahrscheinlich schon an der nächsten Preisverleihung. Man könnte doch mal bei Gaby Köster nachfragen. Der hat ein Springer-Blatt doch auch nachgestellt, bis es von einem Gericht gestoppt wurde. – Schade, das wird nichts. Bei Wikipedia, dem gehobenen Recherchetool der Durchschnittspresse, sehe ich gerade, sie wird wohl schon im März zur Leipziger Buchmesse wieder auftreten. Wikipedia zitiert einen Angehörigen: „Sie ist natürlich nicht mehr die Gaby, die sie vorher war, aber es geht ihr gut“. Springer-Scoops gehen anders.