Zwischennutzungen und Kreativquartiere Ruhr

Wer hat an der Uhr gedreht? Warum laufen plötzlich alle in die gleiche Richtung? Kreativwirtschaft und Zwischennutzungen sind DER Trend aktueller Stadtentwicklungspolitik. Und dies von oben wie von unten. Unserer Gastautorin Svenja Noltemeyer ist eine der Sprecherinnen der Initiative für ein Unabhängiges Zentrum in Dortmund und sitzt für die Grünen im dortigen Rat.

Unter den Stichworten europäische, offene, soziale und kreative Stadtentwicklung findet man das Thema Zwischennutzungen in vielen Städten der Republik. Die Wächterhauser aus Leipzig, die Hamburger Gängeviertelinitiative und die Zwischenzeitzentrale in Bremen sind gute Beispiele wie Stadtplanung heute gemanaged werden kann. Nämlich in aktiver Einbeziehung der Arbeits- und Kreativkraft der Bürger und ausgelegt auf Besinnung und Belebung stadtbaukulturell interessanter und identitätsbehafteter Leerstandsimmobilien, die für den konventionellen Vermarktungsprozess nicht mehr attraktiv sind. Auch Freiflächen, die aus Gründen des demografisch bedingten Schrumpfungsprozesses durch Rückbau nicht mehr benötigter Industrie-, Gewerbe und Wohngebäuden entstehen, sind Potenzial für Zwischennutzungen.

Im Ruhrgebiet hat durch die Aktivitäten, Netzwerke und Themenfelder, die durch die Kulturhauptstadt Ruhr.2010 entstanden sind, die kreative Raumaneignung städtischer Möglichkeitsräume begonnen. Neben den Planungen der großen Kreativquartiere wie beispielsweise das Dortmunder U, die Zeche Zollverein in Essen und die Zeche Lohberg in Dinslaken durch ECCE, die Wirtschaftsförderungen, Kultur- und Stadtplanungsämter, gibt es Bürgerinitiativen, die diese Idee für sich interpretieren.

Das t.a.i.b. und die Marienkirche in Bochum beispielsweise sind Orte im bestehenden Kreativquartier Viktoria rund um das Bermudadreieck, die von Kreativen selbst genutzt und organisiert werden. Durch eine temporäre architektonische Intervention auf der Freifläche beim ehemaligen Güterbahnhof, dem t.a.i.b., hat sich bereits beim Aufbau eine Gruppe gebildet, die Raum für kulturelle Projekte sucht. Die konstante Bespielung des Areals sowie die regelmäßigen Gruppenplenar zu langfristigen Nutzungsmöglichkeiten der interessanten Fläche (viel Freiraum in innerstädtischer Lage), die auch von Akteuren der Stadtverwaltung und ECCE begleitet wurden, führten zu neuen Kommunikations- und Planungsstrukturen im Kreativquartier Viktoria. Dem Ziel der Stadt „Belebung ungenutzten Raums“ steht nun eine kreative Nutzergruppe als Ansprech- und Umsetzungspartner zur Verfügung, die Raum und Kultur/Kunst/Kreativität zusammenführt. Wenn die Stadtverwaltung nun intensiv nach kreativen Lösungen sucht, solche (Zwischen)nutzungen formal möglich zu machen (Brandschutz, Sicherheitsaspekte etc.), werden weitere Projekte zukünftig umgesetzt werden können und damit eine kreative, offene und soziale Stadtentwicklung sichtbar.

In Nachbarschaft zum t.a.i.b. steht die Marienkirche, für die auch im Rahmen der Kulturhauptstadtaktivitäten lange Zeit mögliche Nachnutzungen gesucht wurden. Sie ist heute offener Proberaum für Urbanatix. Dort konnte die showproduzierende Streetartszene begünstigt durch das Kulturhauptstadtsiegel Kontakt zum Probst aufnehmen, der den Sportambitionen und sozialen Bestrebungen der Gruppe aufgeschlossen war. Durch die zwei Projekte gewinnt das Kreativquartier Viktoria, auch ohne Konzerthaus, enorm an Fahrt.

Nebenan in Dortmund zeichnet sich rund um den U-Turm, speziell im Stadtumbaugebiet Rheinische Straße eine ähnliche Entwicklung kreativer Stadtplanung ab. Mittelpunkt und Anlaufstelle für Kreative und junge Gründer ist hier der Union Gewerbehof an der Huckarder Straße. Früher durch Besetzung vorm Abriss gerettet, gilt der Gewerbehof heute als gewachsenes Kreativquartier, das seit Jahrzehnten viele kreativwirtschaftlich tätige Kleinstunternehmer beherbergt und auch Austragungsort der Kreativen Klasse in Dortmund ist. Das Quartier Rheinische Straße hat großes Entwicklungspotenzial (viel Altbau, viele Freiflächen, viel Leerstand, bunte Bewohnerschaft) und in den letzten Jahren gute Kommunikationsstrukturen geschaffen, um als Anziehungs- und Vermittlungspunkt für Kreative zu funktionieren. Die Unternehmensberatung FunDo kümmert sich beispielsweise um Raum Suchende und entwickelt mit dem Blauen Haus e.V. ein Zwischennutzungsprojekt gegenüber dem ehemaligen Lokal Donnerschlag, langjähriger Treffpunkt der Dortmunder Nazis an der Rheinischen Straße. Hier wird, durch private Mittel des Eigentümers ermöglicht, im Rahmen von Beschäftigungs- und Fortbildungsmaßnahmen der ARGE durch Arbeitslose ein stark sanierungsbedürftiges Haus wiederbelebt und für kreative Nutzungen geöffnet.

Im Konsultationskreis Rheinische Straße kommen seit Beginn des Stadtumbaus regelmäßig Politiker und Bürger aus dem Bezirk Innenstadt-West zusammen und besprechen direkt mit der Verwaltung, wo es im Quartier noch hapert und geben Ideen weiter, wie das Wohnumfeld konkret verbessert werden kann. Aus diesem Kreis hat sich gleich zu Beginn aus engagierten Anwohnern der Rheinische Straße e.V. gegründet, der in enger Zusammenarbeit mit dem Quartiersmanagement eine regelmäßig erscheinende Quartierszeitung erstellt und in thematischen Arbeitsgemeinschaften (Kultur, Westpark etc.) konkrete Projekte initiiert.
Neben den vielen neuen Gründern, die es auch in Eigeninitiative in den attraktiven Stadtteil (günstig, zentral, gute Infrastruktur) gelockt hat und diesen nun beleben, wie zum Beispiel dem Künstlerkollektiv Salon Atelier, gibt es weitere Entwicklungspläne der Kreativen selbst. Das sogenannte Amt für neue Ordnung soll hier entstehen, ein Coworking Space, in dem Kreative ihren einsamen Heimschreibtisch günstig gegen einen Platz in einem bunt besetzen Grossraumbüro tauschen können. In der Umnutzung des ehemaligen Ordnungsamts (daher der Name..) können in der Kaffeepause oder im Hausflur Kontakte zu potenziellen Auftragspartnern aufgebaut und verschiedene Raumangebote (beispielsweise einen Besprechungsraum, in dem man mit Auftraggebern verhandeln kann) genutzt werden.

Neben diesen Aktivitäten von unten gibt es auch Pläne von oben in Dortmund. So soll demnächst ein Kreativwirtschaftszentrum den Park der Ideen unter dem U-Turm bereichern und als attraktiver Standort für die Kreativwirtschaft dienen. In wie fern dieser eigentlich sinnvoll und nötig ist, müssen Verwaltung und Politik entscheiden. Hauptsache bleibt, dass die Initiativen und Projekte von den Bewohnern selbst ebenso, wenn nicht sogar stärker, gewertschätzt und unterstützt werden wie die großen Pläne von oben. Da jedoch die Bedeutung von Zwischennutzungen und kreativen Entwicklungen erkannt wurde (siehe Kreativquartierstypologie von ECCE) und sich aktuell die Dortmunder Verwaltung und Politik ins Zeug legt, den aktuellen Forderungen der Kreativszene nach einem unabhängigen Zentrum (UZ Dortmund) nachzukommen, ist zu erwarten, dass sich dieses Denken fortsetzt. Vielleicht auch eine Antwort auf die schwierige Haushaltssituation. Aber wenn dies auf die verstärkte Umsetzung des Rechts auf Stadt der Bürger hinausführt und die aktive Bürgerschaft Ihre Stadtentwicklungsziele und Projekte tatsächlich durch breite Unterstützung umsetzen kann, umso besser.

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Im Verborgenen


Szene aus dem Film Samir betet. Samir betet fünf Mal am Tag. Nach dem Pokern breitet er den Gebetsteppich aus. Samir ist Iraker aus Essen, mitten im Ruhrgebiet. Auf seinem Schreibtisch steht ein Koran. Daneben liegen eine leere Bierflasche und ein voller Aschenbescher. Bei Samir stimmt etwas nicht.

Der U-Bahn-Übergang „Berliner Straße“ in Essen. Zugbremse, Handymusik, Babygeschrei. Es riecht nach Döner. Eine Oma geht an mir vorbei. Ihr Gesicht sehe ich nicht. Mein Blickt verharrt auf einem Mann mit kurzen dunklen Haaren mitten im Menschenstrom. Seine Haut ist dunkel. Das ist Samir: breite Jacke mit Kapuze, Jeans, Sportschuhe. Er zieht die Kopfhörer aus seinen Ohren heraus, reicht mir die Hand. Er wird mir von der verborgenen Seite seines Lebens erzählen. Er will nicht, dass sein richtiger Name genannt wird. Denn es geht nicht nur um ihn, sondern um die Ehre seiner Familie. Und das ist seinen Eltern am allerwichtigsten.

Samirs Geschichte begann an dem Tag, als ein unbekannter Mann zu ihm nach Hause kam. „Ich war damals zwölf“, sagt der heute 22-Jährige. Er schüttelt vorsichtig eine Prise Tabak auf ein schneeweißes Papierstück, dreht mit seinen Fingern eine Zigarette. Der Mann wurde seiner Schwester vorgestellt. Nach einigen Wochen heirateten sie. Die Schwester zog aus. „Wenn unsere Verwandten nach ihr fragten, sagten die Eltern immer, bei ihr ist alles in Ordnung“.

Samir ging in die Schule. Er hatte viele Freunde. Aber er besuchte sie nicht. Samir durfte nur unter dem Balkon spielen – damit ihn die Mutter im Blick behalten konnte. Klassenfahrten waren verboten. Die Eltern wollten, dass sich möglichst wenige Leute in die Erziehung ihrer Kinder einmischen. Samir beschwerte sich nicht. Als er Liebeskummer und Stress bei seinen Abi-Vorbereitungen hatte, schwieg er. Verliebt sein und Probleme haben – diese Themen waren in der Familie tabu. Er redete nicht mit seinen Eltern. Und seit einiger Zeit nicht mehr mit Gott.

Vor drei Jahren wollte Samir nichts mehr mit seiner verstellten Realität zu tun haben: „Ich habe angefangen Drogen zu nehmen. Es fing an mit Kiffen, dann ging es mit Koks und Ecstasy weiter. Ich wollte einfach wieder mal glücklich sein.“ Doch das half nicht. Es war nur „Glück auf Zeit“. Danach ging es ihm noch schlechter. Einmal packte Samir seinen Koffer und haute von Zuhause ab. Einen Monat lang pendelte er zwischen den Wohnorten seiner Freunde. Immerhin erlangte er dadurch seine Freiheit: die Erlaubnis alleine zu wohnen. Kneipen, Pokern, Bier, Tabak. Diese Bestandteile seines unabhängigen Lebens muss er vor seinen Eltern verheimlichen. Der Kontakt mit berauschenden Mitteln jeglicher Art ist in der muslimischen Familie verboten. Vor einem Jahr erlaubten Samirs Eltern seiner Schwester sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. „Ich werde ihnen nie verzeihen, dass sie es nicht früher gemacht haben“, sagt Samir.

Er schaut die Zigarette an, die in seiner Hand verglimmt. Sie wird immer kürzer, ihr Feuer berührt seine dunklen Finger. Einige Monate nach der Heirat erzählte die Schwester Samir, dass der Mann sie schlägt und demütigt. Einmal rief sie ihn an und erzählte heulend, dass er sie mit dem Messer bedrohte. Als der Mann bemerkte, dass sein kleiner Sohn sich hinter ihrem Rücken versteckte und zitterte, senkte er das Messer in der Hand mit den Worten: „Du wirst schon sehen, was ich heute Abend mit dir mache.“ Samirs Hand zittert, die Asche fällt auf den Boden: „An jenem Abend vergewaltigte er sie.“

Als Samir seinen Eltern von diesem Vorfall erzählte, erwiderte die Mutter nur: „Wie kann sie denn von ihm vergewaltigt werden? Sie sind doch verheiratet.“ Samir sagt mit leiser Stimme: „Das war der Punkt, an dem ich mit meinen Eltern gebrochen habe. Sie wollten nach Außen immer als eine Vorzeigefamilie gelten. Die Gesellschaft war ihnen wichtiger als eigene Tochter.“ Wenn Samir vom Inhalt des Spielfilms „Die Fremde“ hört, sagt er, die Story sei wie über seine Familie geschrieben. Zum Glück hat seine Geschichte im Unterschied zum Film kein tragisches Ende.

Samir besucht ab und zu seine Eltern. Seiner Schwester geht es gut. Samir nimmt keine Drogen mehr. Er glaubt wieder an Gott. „Es sind so viele gute Sachen in der letzten Zeit passiert. Ich kann nicht anders, als an Gott zu denken“, sagt Samir. Er schaut auf die Uhr. Er muss sich beeilen. Gleich besuchen ihn Freunde zum Pokern. Samir steckt seinen Tabak in die Hosentasche, setzt seine Kopfhörer auf und verschwindet im Menschenstrom der Essener U-Bahn.

Bild: Szene aus dem Film „Die Fremde“.

Dortmund: Polizei untersagt Protest gegen Nazis

Im vergangenen Jahr scheiterte die Dortmunder Polizei mit dem Versuch, die Anti-Kriegs-Demo der Nazis zu verbieten. In diesem Jahr untersagt sie den Protest gegen die Rechtsradikalen.

Am kommenden Samstag werden die Nazis in Dortmund demonstrieren. Bereist zum sechsten Mal zelebrieren sie dort einen nationalen Antikriegstag. In diesem Jahr hat ihnen die Polizei dabei im Vorfeld keine Schwierigkeiten gemacht: Sowohl  die Demo am Samstag in der Nordstadt als auch ein Konzert am Hauptbahnhof am Vorabend der Demonstration können ohne Probleme über die Bühne gehen. Mehr Probleme haben in Dortmund in diesem Jahr diejenigen, die gegen die Nazi-Veranstaltungen protestieren wollen: Die Dortmunder Polizei hat dem S4-Bündnis in einem Kooperationsgespräch am Freitag verboten, in der Innenstadt zu demonstrieren.

Die Pressesprecherin des S4-Bündnisses, Sonja Brünzel, sagt dazu: “Die Polizei verweigert Antifaschisten den Protest an Gedenkorten rechter Gewalt, während sie zeitgleich Neonazikonzerte in der Dortmunder Innenstadt ermöglichen will. Für uns stellt sich die Frage, ob unter solchen Bedingungen Demonstrationen überhaupt die geeignete Protestform darstellen.“

Am Samstag, dem Tag der Nazi-Demo soll das S4-Bündnis am Landgericht protestieren – weit weg vom Nazimarsch in der Nordstadt.

Sarrazin: Biologie und Migrationsgeschichte auf Deppenniveau

In seinem Welt am Sonntag Interview zeigt Thilo Sarrazin dass er von zwei Dingen keine Ahnung hat: Migrationsgeschichte und Biologie.

Morgen werde ich mir das Buch von Thilo Sarrazin kaufen und später wahrscheinlich darüber schreiben. Das Marketing von Sarrazins Verlag wird  dann auch bei mir funktioniert haben. Aber bei der heutigen Lektüre von Sarrazins Interview in der Welt am Sonntag sind mir zwei Punkte aufgefallen, die so absoluter Unsinn  sind, dass ein wenig Allgemeinbildung sowie der  Biologie-Leistungskurs bei Herrn Kirchner ausreichen, um sie zu widerlegen.

„In meinem Buch rede ich zudem nicht von Türken oder Arabern, sondern von muslimischen Migranten. Diese integrieren sich überall in Europa deutlich schlechter als andere Gruppen von Migranten. Die Ursachen dafür sind nicht ethnisch, sondern liegen offenbar in der Kultur des Islam. Vergleichen Sie die Integrationserfolge von Pakistani und Indern in Großbritannien.“

Die Tatsache ist unbestritten, dass muslimische Migranten sich mit der Integration und dem beruflichen Erfolg schwerer tun als nichtmuslimische Migranten. Aber  den Grund dafür kann man nicht auf die  muslimische Kultur reduzieren. Ein Blick in die USA zeigt, dass es nicht am Islam allein liegen kann: Dort sind Muslime gut integriert und wirtschaftlich erfolgreich. Ein Grund, warum Muslime  in Europa einen beträchtlichen Anteil an der Unterschicht halten, liegt an der anhaltenden wirtschaftlichen Schwäche der Herkunftsländer. Es ist nicht so, dass alle Griechen, Italiener oder Spanier, die in den vergangenen Jahrzehnten ihr Glück in der Auswanderung suchten, in Nord- und Mitteleuropa erfolgreich waren. Viele scheiterten, kamen mit den  Sprachen oder den Mentalitäten nicht zurecht, genügten mit ihren Qualifikationen nicht den Anforderungen. Sie kehrten oftmals in ihrer Heimatländer zurück: Die hatten sich, auch Dank des EU-Beitritts, wirtschaftlich erholt und boten auch nicht gut Qualifizierten eine gewisse berufliche Perspektive. Zudem waren sie politisch stabil geworden: Spanien, Portugal  und Griechenland wurden in den 70er Jahren demokratisch.

Die Türkei war hingegen lange Zeit ein politisch instabiles Land. In Teilen herrschten und herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Trotz ihres Wirtschaftswachstums ist die Türkei noch immer ein relativ armes Land. Vor allem für die, die hier gescheitert sind, gibt es keine Perspektive in der Türkei. Von der Muslim-These von Sarrazin bleibt also nicht viel übrig.

Kommen wir zu seiner nächsten Aussage:

„Bis vor wenigen Jahrzehnten spielte Einwanderung für den Genpool der europäischen Bevölkerung nur eine geringe Rolle und vollzog sich überdies sehr langsam. Drei Viertel der Ahnen der heutigen Iren und Briten waren bereits vor 7500 Jahren auf den Britischen Inseln. Es ist nämlich falsch, dass es Einwanderungsbewegungen des Ausmaßes, wie wir sie heute haben, schon immer in Europa gegeben hätte. Seit der Völkerwanderung gab es solche Verschiebungen nicht mehr.“

Erst einmal schimmert bei Sarrazin etwas durch, das wissenschaftlich nicht zu halten ist: Das ein stabiler und homogener Genpool etwas positives ist. Dem ist nicht so. Ein gesunder Genpool ist variantenreich und gemischt. Je mehr Mischung um so besser. Umso homogener ein Genpool ist, umso mehr steigt die Gefahr von Erbkrankheiten. Der Fachbegriff ist Inzuchtdepression.

Wenn Nicht-Biologen anfangen von Genen zu reden ist die Gefahr groß, dass biologische Erkenntnisse auf soziale Phänomen übertragen werden. Gemeinsames oder angeblich gemeinsames Erbgut wird zu einem konstituierenden Element erklärt.

Das ist, was den Menschen betrifft, Unfug:

In der Biologie wird die Art Homo sapiens heute weder in Rassen noch in Unterarten unterteilt. Molekularbiologische und genetische Forschungen haben seit den 1970er Jahren gezeigt, dass eine systematische Unterteilung der Menschen in Unterarten ihrer enormen Vielfalt und den fließenden Übergängen zwischen geographischen Populationen nicht gerecht wird. Zudem wurde herausgefunden, dass der Großteil genetischer Unterschiede beim Menschen innerhalb einer geographischen Population zu finden ist.

Der zitierte Wikipedia Artikel verweist auf einen Text des Harvard Zoologen R.C. Lewontin:

The every-day socially defined geographical races do identify groups of populations that are somewhat more closely similar to each other genetically. Most important from the standpoint of the biological meaning of these racial categories, however, most human genetic variation does not show such „race“ clustering. For the vast majority of human genetic variations, classical racial categories as defined by a combination of geography, skin color, nose and hair shape, an occasional blood type or selected microsatellites make no useful prediction of genetic differences. This failure of the clustering of local populations into biologically meaningful „races“ based on a few clear genetic differences is not confined to the human species. Zoologists long ago gave up the category of „race“ for dividing up groups of animal populations within a species, because so many of these races turned out to be based on only one or two genes so that two animals born in the same litter could belong to different „races.“

Juden, Bottroper, Iren, Katholiken, Autofahrer , Basken oder Speiseeisliebhaber lassen sich also nicht über gemeinsame oder unterschiedliche Gene definieren. Ein beliebiger Afrikaner kann mit einem weißen Europäer genetisch enger verwandt sein, als sein ebenfalls weißer Nachbar. Sarrazin, ausgestattet mit dem überholten Wissen eines Mittelstufenschülers der 60er Jahre, hat das nicht gelernt. Das er sich allerdings nicht die Mühe macht zumindest ein wenig zu recherchieren, ist angesichts der Brisanz des Themas nicht zu entschuldigen. Da hilft auch der Verweis auf sein Buch nicht, in dem alles genauer stehen soll- Die wenigsten, die sich seine Thesen zu eigen machen, werden es jemals lesen. Er hinterlässt trotzdem fahrlässig seine Spuren im gesamtgesellschaftlichen Diskurs. Ich glaube bei seiner Herangehensweise und der Art, wie er sich in Interviews äussert, nicht daran, dass es ihm um  Themen wie Integration und die Auswirkungen des demographischen Wandels geht. Die werden seit längerem ernsthaft und kontrovers diskutiert. Es geht Sarrazin zum einen darum in den Medien präsent zu sein. Und da hilft eine steile These  – wie Wolfgang Clement immer wieder belegt.    Zum anderen geht es im schlicht um Marketing für sein Buch. Koste es was es wolle.

»Jeder hat sein Bündel zu tragen« Dani Levy im Interview

Seit Donnerstag läuft im Kino Dani Levys neuer Film »Das Leben ist zu lang«. Das Staraufgebot liest sich wie das Who is Who des deutschen Kinos: Veronica Ferres, Udo Kier, Meret Becker, Heino Ferch, Elke Sommer, Gottfried John und Yvonne Catterfeld, um nur die Prominentesten zu nennen. Wenngleich Levy sich mit seiner Tragikomödie ganz und gar verhoben hat (meine Rezension des Films für die „Jüdische Allgemeine“ kann man hier nachlesen), ist ein Interview mit dem in Berlin lebenden Schweizer Regisseur immer wieder ein Highlight.

Herr Levy, warum ist das Leben, wie es in Ihrem neuen Film heißt zu lang?

Das Leben ist zu lang, weil man zu viel Zeit vergeudet und seine Möglichkeiten nicht nutzt. Man könnte jedoch auch sagen: Das Leben ist nicht zu lang, aber die Tage sind zu kurz. In beiden Fällen ist das Leben Tag für Tag komplex und anspruchsvoll.

So wie für Alfi Seliger, die Hauptfigur Ihres Films. Der ist ein Nebbich, wie er im Buche steht. Was reizt Sie an diesen sympathischen, aber ganz und gar lebensuntüchtigen Charakteren, wie sie in Ihren Werken immer wieder zu sehen sind?

Nun, die wirklich legendären und starken Komödienfiguren sind immer Verlierer. Wir identifizieren uns mit ihrem vergeblichen Tun, weil auch wir tagtäglich kämpfen müssen. Jeder hat sein eigenes Bündel zu tragen, jeder von uns hat das, was ich Verliererschatten nenne. Genau dieser Blick auf die Schattenseite interessiert mich, auf bestimmte Art und Weise tragen doch viele von uns einen Nebbich in sich.

Inwiefern steckt auch in Dani Levy ein Nebbich?

Es gibt in meinem Leben immer wieder Phasen existenzieller Verunsicherungen. Ich lebe in einem Spannungsverhältnis zwischen dem, was ich mir wünsche, und dem, was ich tatsächlich erreiche. Ich fühle mich gelegentlich ungemein bedeutungslos, manchmal habe ich das Gefühl, ich bin am falschen Ort zur falschen Zeit. Oder im falschen Film. Ich ziehe aber aus diesen Zweifeln und inneren Kämpfen mein künstlerisches oder kreatives Potenzial.

Ist diese Sicht auf das Leben nicht geradezu kennzeichnend für viele jüdische Künstler?

Es ist kein exklusiv jüdischer Blick, aber der jüdische Film oder die jüdische Literatur ist durchdrungen von der Verliererperspektive. Zudem haben Juden einen natürlichen Zweifel an der Realität. Wir misstrauen dem, was wir vorgegaukelt bekommen. Bin ich wirklich da, wo ich denke, dass ich bin, oder bin ich bloß eine kleine Ameise auf einem riesigen Blatt, über das hinaus noch eine ganz andere Realität existiert?

Die gleichen Fragen stellt sich auch Alfi, als er ahnt, dass er eine Figur in einem Film, also nicht mehr als die Marionette seines Regisseurs ist.

Alfi erkennt, dass sein Schicksal vorbestimmt ist und legt sich mit seinem Schöpfer an. Er nimmt sein Leben in die eigenen Hände. Ich befürchte, das ist das Einzige, was uns übrig bleibt, wenn es uns nicht gut geht. Die Vorstellung, dass wir unsere eigenen Fäden in der Hand haben, finde ich tröstend. Trotzdem glaube ich an eine höhere Ordnung. Wir wissen nicht alles. Mein Ziel war es, einen Film zu drehen, der das Publikum kitzelt und aus seiner passiven Konsumhaltung rausholt.

Film als Axt für das gefrorene Meer in uns?

Sehr poetisch. Schön, wenn Film etwas in uns auslöst.

Das Interview erschien zuerst in der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine

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