In seinem Buch „Der koschere Knigge“ gibt Autor Michael Jonathan Wuliger Tipps für den entkrampften deutsch-jüdischen Dialog. Im Interview spricht er über Klischees, den durschnittlichen Juden und wohlmeinende, aber auch sehr nervige Menschen – die Philosemiten.
Herr Wuliger, Ihr Buch „Der koschere Knigge“ verspricht, trittsicher durch die deutsch-jüdischen Fettnäpfchen zu führen. Ist das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden immer noch so verkrampft, dass ein solcher Leitfaden nötig ist?
Ja. Aus den bekannten historischen Gründen können offenbar die meisten Deutschen nicht unbefangen mit Juden umgehen. Lassen sie in einer Gruppe von Deutschen einen Juden los – schon verkrampft sich alles, einschließlich der Körperhaltung. „Er ist Jude, aber sehr nett“, habe ich vor einiger Zeit mal bei einer Party aufgeschnappt. Der Satz war keineswegs böse gemeint, aber er bringt die deutsch-jüdischen Verklemmtheiten voll auf den Punkt. Übrigens, dem „Knigge“ im Titel zum Trotz ist mein Buch kein ernstgemeinter Benimm-Leitfaden. Es müsste eigentlich heißen: trittsicher in die deutsch-jüdischen Fettnäpfchen. Das Schöne am verkorksten deutsch-jüdischen Dialog ist ja, dass er jede Menge komplett absurder Situationen produziert und so unfreiwillig zu einer unerschöpflichen Quelle komischer Geschichten wird – und genau die sind Thema meines „Knigge“.
Dabei geben sich doch viele Deutsche so große Mühe, es ihrem jüdischen Gesprächspartner Recht zu machen.
Sie meinen die Philosemiten. Sehr wohlmeinende, aber auch äußerst nervige Menschen. Sie haben ein so positives Bild von Juden, dass man ihren Erwartungen nur sehr, sehr schwer gerecht werden kann. In den Augen solcher Leute muss jeder Jude mindestens ein Martin Buber sein. Darunter tun sie es nicht. Man wagt sich kaum in der Nase zu bohren, wenn man mit ihnen redet, weil man fürchten muss, dass dadurch ihr mühsam aufgebautes Judenbild ins Wanken geraten könnte.
Als exemplarisches Beispiel für das Verhalten von Philosemiten berichten Sie von Ihrem alten Klassenlehrer…
… der mir in der 10. Klasse, nachdem ich zum vierten Mal hintereinander ein „Mangelhaft“ in Physik auf dem Zeugnis stehen hatte, sagte, ich solle mich gefälligst mehr anstrengen. An der Begabung könne es ja wohl nicht liegen – Einstein sei schließlich auch Jude gewesen.
Das klassische Klischee: Alle Juden sind reich, gebildet und außerordentlich intelligent.
Ich empfehle allen Philosemiten den Besuch einer jüdischen Gemeinde in Deutschland, und sie werden feststellen, dass es ungemein viele strohdoofe Juden gibt. Das Gros der Juden gehört soziologisch und von der Mentalität her zur Spezies des Kleinbürgers. Sie sind genauso borniert wie die Mehrheit der Bevölkerung. Adorno halten die meisten Juden wahrscheinlich für einen italienischen Rotwein. Falls gerade Juden das lesen: Ihre Gemeinde ist natürlich nicht gemeint. Dort ist es selbstverständlich völlig anders.
Was ist der Grund dafür, dass Juden nicht als normale Menschen wahrgenommen werden, sondern zu Projektionsflächen werden?
Dafür gibt es eine schlichte statistische Erklärung: In der Bundesrepublik leben rund 80 Millionen Menschen. Von denen sind rund 200.000 Juden. Das macht gerade mal 2,5 Promille der Gesamtbevölkerung, ein Wert, der sonst nur bei Straßenverkehrsdelikten relevant ist. Der durchschnittliche Deutsche ist deshalb in seinem Leben noch nie einem Juden begegnet. Was er von Juden weiß, hat er aus den Medien oder dem Schulunterricht. Und dort tauchen Juden vor allem in zwei Kontexten vor: der Schoa und dem Nahostkonflikt. Eventuell kommt noch Religiöses dazu. Der durchschnittliche Jude in Deutschland hat aber in der Regel weder eine Nummer auf dem Arm tätowiert, noch trägt er eine Uzi. Fromm ist er meist auch nicht. Wenn er einen Bart hat, dann einen in der modischen 3-Tage-Variante.
Was also empfehlen Sie Ihren nichtjüdischen Lesern, wie sie reagieren sollen, wenn sie zum Beispiel auf einer Party einen Juden treffen?
Gehen Sie mal davon aus, dass dieser Jude höchstwahrscheinlich Ihnen ähnlicher ist, als Sie vermuten. Die Bundesliga interessiert ihn mehr als die Lage in Gaza, über die Fahreigenschaften seines Wagen denkt er häufiger nach als über die Vergangenheitsbewältigung. ABBA hört er lieber als Klezmermusik. Und öfter als den Talmud liest er den Kicker. Also nerven Sie den armen Mann – oder die Frau – nicht mit Ihrer Betroffenheit beim Besuch des Holocaustmahnmals oder Ihren Ideen zum Nahostkonflikt. Fragen Sie ihn bitte auch nicht nach komplexen Details der religiösen Speisegesetze. Er kennt sie wahrscheinlich nicht. Sie würden ja auch, wenn Sie Katholik sind, beim Bier keine Debatte über die theologischen Aspekte der Transsubstantion führen wollen. Ach und noch was: Sie müssen einen Juden auf der Fete nicht zwingend mit „Schalom“ begrüßen. Ein freundliches „Guten Tag“ reicht völlig aus.
Wie reagieren Sie selbst, wenn jemand es dennoch nicht lassen kann, Ihnen als Beleg für seine Verbundenheit zum Judentum beispielsweise ausführlich von seiner Zeit im Kibbuz zu berichten?
Ich bin heute in einem Alter, in dem ich nicht mehr versuche, den deutsch-jüdischen Dialog auf eigene Kosten voranzubringen. Es gibt Interessanteres. Wenn jemand mich damit nervt, wechsle ich mehr oder weniger höflich das Thema. Das führt natürlich auch wieder zu Verstimmungen. Da hat jemand mühsam sein gesammeltes Halbwissen über Juden hervorgekramt, um mir vermeintlich einen Gefallen zu tun – und ich bin gelangweilt. Schon ist der deutsch-jüdische Dialog wieder empfindlich gestört.
Wann glauben Sie wird der deutsch-jüdische Dialog frei von diesen Verkrampfungen sein?
Das deutsch-jüdische Verhältnis wird an dem Tag ein normales sein, wenn jemand einem jüdischen Arschloch begegnet und hinterher sagt: „So ein Arschloch“ und nicht: „Ein typisch jüdisches Arschloch.“ Ich fürchte, bis dahin dauert es aber noch eine Weile.
Das Gespräch, das auch auf „Cicero Online“ erschien, führte Philipp Engel.
Informationen zur Person: Michael Jonathan Wuliger wurde 1951 in London geboren, wuchs in Wiesbaden auf und lebt heute in Berlin als Feuilletonredakteur der »Jüdischen Allgemeinen«. Er geht so gut wie nie in die Synagoge, isst gern Serrano-Schinken und hört lieber Georges Brassens als Giora Feidman. Sein jüdisches Idol ist Krusty der Clown aus der TV-Serie „Simpsons“.
Informationen zum Buch: Michael Wuliger: Der koschere Knigge. Trittsicher durch die deutsch-jüdischen Fettnäpfchen, S. Fischer, Frankfurt am Main 2009, 105 S., 8 €