Der Artikel erschien bereits in der Welt am Sonntag
Wunder der Physik – die Nummer vom Foucaultschen Pendel ward gegeben
Endlich: Die Erdrotation ist bewiesen – und sie bewegt es doch
„Ich werd‘ das Pendel jetzt einschwingen“, spricht der junge Mann im Strickpullover und schnappt sich eine brennende Kerze. Mit deren wachsgespeister Flamme brennt er eine Schnur ab, die das Pendel zum Schwung freigibt. In der Folge pendeln auch die Augenpaare der Betrachter fasziniert und rhythmisch hin und her.
An diesem Freitag abend findet sich ein Dutzend Hobbysterngucker im Treppenhaus eines abgenutzten Schulgebäudes ein, um in öffentlicher Veranstaltung ein klassisches Experiment nachzuvollziehen: Die Nummer vom „Foucaultschen Pendel“ wird gegeben.
Ein historischer Versuch der Experimentalphysik, der zum Beweis der Erdrotation dient.
Für diese Live-Show nimmt ein Bevollmächtigter den wissenschaftlich Interessierten zwei Mark fünfzig ab. Um Heerscharen von Pennälern mit der spektakulären Lehre von der Erddrehung beglücken zu können, ersannen die Baumeister der naturwissenschaftlich orientierten Oberschule die Experimentalanordnung eigens als Inhouse-Lösung.
Streng nach Versuchsvorschrift ist an dem von der Decke darniederhängenden Haken ein Draht zu knüpfen. In Kellerhöhe, nach acht, neun Metern, endet der Schwungfaden an einem Metallzylinder, der das Pendel darstellt. Auf dem Kellerboden ist der Pendelweg durch eine Metallintarsie schon vorgezeichnet. Weicht nun der Pendelweg beizeiten von dieser Strecke ab, gilt das als Beweis für die Erddrehung.
„Denn das Foucaultsche Pendel verläßt niemals seine Schwingungsebene, die Erde dreht sich unter dem Pendel weg“, doziert Experimentator Thomas, derweil er in seiner Jutetasche nach weiteren Informationen kramt. Die richtig harten Fakten werden den Physikfans drei Stockwerke höher präsentiert.
„Ich werde nunmehr drei Ausführungen zur Erdrotation machen“, steigt der Dozent ein. Der Vortrag wird in einem völlig verwüsteten Klassenzimmer dargeboten: Gesplitterte Fensterscheiben, verbrannte Gardinen, verkohlte Fensterbänke.
An der vergammelten Korkpinnwand hat sich ein Schmierant zu „Anthrax“ bekannt.
Doch die Jungforschis leben in anderen Welten.
Völlig fasziniert starrt ein junger Mann mit Knopfaugen auf die Overheadprojektion, mit deren Hilfe der Vortragende Thomas den Mikrokosmos der einschlägigen Naturgesetze erläutert. „Folglich findet am Äquator überhaupt keine Pendelbewegung statt“, zieht er eine Konklusion. Gerührt hält ein Nachwuchs-Physikerpaar Händchen unter der Schulbank.
„Das Pendel kennt seine Ruhelage, und somit stellt sich hier die Frage nach dem absoluten Raum„, referiert sich der Mann vorn in Rage. Im Auditorium mümmelt ein Flaumbart konzentriert an seinem Federhalter.
„Wer weiß hier was über den absoluten Raum?“, will Thomas inquisitorisch wissen. Ein Lehrer in Zivil, mit gnadenlos verwittertem Jungengesicht, starrt verschüchtert auf seine Fingernägel. Der ergraute Fachmann mag sich jetzt so in der Defensive fühlen wie Papst Gregor XVI., der schon 1852 gezwungen war, die spektakuläre Lehre von der Erddrehung anzuerkennen.
Tatsächlich zeigt sich heutzutage der praktische Beweis schon nach einer halben Stunde Hin-und Her-Gehangel.
„Die Abweichung ist signifikant“, stellen die Freunde der Experimentalphysik nach einer Tour durchs Treppenhaus im Keller fest. Was zu beweisen war.
Anmerkung. Wie komm‘ ich denn da drauf? Nun, ich hab‘ grad‘ einen meiner Webserver aufgeräumt und die Geschichte da wiedergefunden. Die hab‘ ich vor mehreren Äonen aufgeschrieben. Sie ist zeitlos wie die Erddrehung. Außerdem find‘ ich Anthrax und Public Enemy, die oben in der Geschichte auftauchen, plötzlich wieder gut.
For A Minor Reflection
For A Minor Reflection, Donnerstag, 30. September, 20.00 Uhr, Gebäude 9, Köln
Der Ruhrpilot
NRW: Das Glaubwürdigkeitsproblem der Hannelore Kraft…Welt
NRW II: NRW lehnt geplante Hartz-IV-Änderung ab…Ruhr Nachrichten
NRW III: Justiz patzt bei Loveparade-Aufklärung…Der Westen
Dortmund: Envio und Neupert waren früh im Gift-Handel aktiv…Der Westen
Dortmund II: U-Gastronomen sollen FZW stemmen…Ruhr Nachrichten
Essen: Stadion-Neubau von RWE soll billiger werden…Der Westen
Bochum: Landesregierung bekräftigt Entscheidung zum Gesundheitscampus…Pottblog
Bochum II: Totaltheater…FR Online
Bochum III: Zweite VV für autonome Politik in NRW…Bo Alternativ
Internet: Wie undurchsichtig ist Wikileaks?…Der Westen
Harz IV: Da hat der Luhmann wieder mal Recht gehabt…Weissgarnix
Geschichte der DDR muss neu geschrieben werden – Marx/Engels-Schrift entdeckt
Ein guter Grund, der DDR auch noch zwanzig Jahre nach ihrem Verschwinden nachzutrauern, ist der Tag der Deutschen Einheit. Der fiel, solange es sie noch nicht gab, auf den 17. Juni, führte zu ungehörten Reden und war ansonsten oft ein Brückentag und damit beste Gelegenheit, irgendwo am holländischen Strand rumzuliegen.
Nur die armen SDAJ-Angehörigen (DKP, damit geistig irgendwie DDR und ästhetisch eine Zumutung) und die geistig rein westlichen, aber ebenso gering geschätzten Anhänger der Jungen Union hatten Schlechteres zu tun. Die JU feierte ihren Deutschlandtag. Ihre Angehörigen fuhren von Castrop-Rauxel, Herne oder Duisburg aus in Bussen nach Berlin (West), zumindest versuchten sie es. Am Busbahnhof lungerte nämlich gerne irgendein DKP-Pionier herum, notierte das Kennzeichen und verpetzte es bei einer Stasi-Hotline. Daraufhin wurde der ein oder andere JU-Trupp kurz hinter Helmstedt an der Weiterreise gehindert wegen des absehbaren Missbrauchs der Transitwege. Woraufhin alle glücklich waren, die lungernden Pioniere, die Zurückgewiesenen, die Politiker, die dann doch ein Thema hatten für ihre Feiertagsreden und schließlich wir Hollandurlauber, weil wir in Egmont ein paar Idioten weniger am Hals hatten. Erkläre das heute mal einem 16-jährigen.
Heute ist Tag der Deutschen Einheit am 3.Oktober, da wollen nur die ganz Harten in Holland am Strand liegen, und das Feiertags-Shopping in Winterswijk ist so prickelnd auch nicht mehr, seitdem jede Ruhrgebietskleinstadt mit drei verkaufsoffenen Sonntagen im Jahr nervt.
Bleibt die Frage: Wer hat Schuld am Bankrott der DDR? Einfache Antwort: Honecker und Kollegen. Sie hätten es besser wissen müssen, hätten sie nur mal ihren Marx genauer gelesen, könnte man leichtfertig sagen. Der Fall (der DDR) liegt aber genau anders herum. Karl Marx und Kumpel Friedrich Engels sagten nämlich schon 140 Jahre vor dem Mauerfall genauestens voraus, wie es mit der Deutschen Demokratischen Republik einmal zu Ende gehen wird. Das berühmte „Manifest der Kommunistischen Partei“ von 1848 liest sich heute wie das Drehbuch für den Untergang. (Nein, nicht jenen mit Bruno Ganz.) Der Verdacht liegt nahe, dass das Politbüro die Schrift sehr wohl gelesen und sie dann einfach und linientreu Punkt für Punkt abgearbeitet hat. Blöd gelaufen.
Schauen wir einmal genauer in den Text, nehmen wir uns den ersten, berühmten Satz vor: Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. (31) Gespenster sind bekanntlich lebende Leichen, Untote, Vergangenheit, die nicht vergehen will. Der Kommunismus konnte also erst zombiehaft durch Europa geistern nach seinem Ende. Nebenbei erklärt sich, warum die Hummer verzehrende Sahra Wagenknecht so luxemburgesk durch die Gegenwart wandelt. Sie personifiziert gerne Rosas Gespenst.
Schon der erste Satz des Manifests ist also ein Volltreffer. Mit Blick auf die Wendezeit stellt sich die Frage: Warum musste die DDR untergehen? „Zwangsläufig“, antwortet der geschulte Marxist, denn Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen… Kampf, einen Kampf, der … mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete. (32f.) Nun gut, die Revolution im Osten war eher lau. Hierzulande werden ungeliebte Staatschefs halt nicht an die Wand gestellt, sondern allenfalls wegen Bananenunterschlagung vor Gericht. Aber Pazifismus ist nicht immer die schlechteste Lösung.
Eine Alternative, einen dritten Weg, eine demokratische DDR war nie möglich. Auch das wussten Marx und Engels: Die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne dass der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird. (47)
Der Umsturz im deutschen Osten 1989/90 war so friedlich, dass viele Kader nicht nur überlebten, sondern munter weiter machten. Blockflöten, Forumsmitglieder, CDU-Neugründer, Wendehälse waren zu erwarten, das wusste das Autorenduo Marx/Engels. Denn in Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozess innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, grellen Charakter an, dass ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt. (45) Da waren Krenz, Modrow und Maueröffner Schabowski Klassenbeste.
Jahrelang war die DDR in ihrem Mief, der nicht nur von Braunkohlehausbrand und Kohleintopf stammte, nahezu erstickt. Das war kein Betriebsunfall, das war Planübererfüllung in Sachen Sozialismus.
Dieser deutsche Sozialismus, der seine unbeholfenen Schulübungen so ernst und so feierlich nahm und so marktschreierisch ausposaunte, verlor indes nach und nach seine pedantische Unschuld. (67) – Man erinnert sich an dieses lächerliche Paraden-, Ordens- und Feiertagsgedröhne.
Las man das kreuzlangweilige Neue Deutschland, lauschte den offiziellen Verlautbarungen, konnte man kaum übersehen, was den deutschen Sozialismus umtrieb. Er proklamierte die deutsche Nation als die normale Nation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen. Er gab jeder Niedertracht desselben einen verborgenen, höheren, sozialistischen Sinn, worin sie ihr Gegenteil bedeutete. (69)
Unschuldige Bäume mussten sterben für das Neue Deutschland und Berge von Literatur, die wir Wessis mit unserem Zwangsumtausch aus Berlin, Hauptstadt der DDR, abschleppten. Auch diese Publikationen folgten dem 1848-er Plan, denn mit sehr wenigen Ausnahmen gehört alles, was in Deutschland von angeblichen sozialistischen und kommunistischen Schriften zirkuliert, in den Bereich dieser schmutzigen, entnervenden Literatur. (69)
Erich Honecker checkte das alles und konnte auch in hohem Alter das Manifest der Kommunistischen Partei mühelos in SED-Sprech übersetzen. Die historische Schrift gab die Linie vor: Auf diese Art entstand der feudalistische Sozialismus, … stets komisch wirkend durch gänzliche Unfähigkeit, den Gang der Geschichte zu begreifen. (62) Honecker bewies, dass er der folgsamste, also unfähigste Schüler war. „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“, reimte er noch kurz vor Toresschluss und Maueröffnung, vielleicht noch auf einen Weltanschauungsorden hoffend, den er sich selbst an die Brust heften dürfte.
Berauscht von den ständigen Erfolgen des sozialistischen Wettbewerbs, waren die Jungs in der Wandlitzer Seniorenwohngruppe geflissentlich bemüht, die 140 Jahre alten Visionen von Marx und Engels Wirklichkeit werden zu lassen, bis zum bitteren Ende. Den proletarischen Bettlersack schwenkten sie als Fahne in der Hand, um das Volk hinter sich her zu versammeln. Sooft es ihnen aber folgte, erblickte es auf ihren Hintern die alten feudalen Wappen und verlief sich mit lautem und unehrerbietigem Gelächter. (62)
Schließlich wurde es im Manifest wie in der DDR paradox. Die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände (76), folglich auch jene Bewegung, die sich gegen sie selbst richtete. Das nenne ich mal konsequent. Die Wende im Herbst 1989, der Untergang der DDR im Oktober 1990, beides war also ganz im Sinne der Vordenker. Mit der Wende konnte das Politbüro stolz auch die Schlussformel des Manifestes als erledigt abhaken: Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch! (77) Und sei es nur auf dem Oktoberfest oder am Ballermann.
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf: Marx, Karl u. Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei, Peking 1975, Verlag für fremdsprachige Literatur.
Ruhrgebiet: Kein Interesse an Kreativen
Nordrhein-Westfalen wird schrumpfen – vor allem das Ruhrgebiet und das Sauerland sind vom demographischen Wandel betroffen. Abriss und neue Nutzungsmodelle stehen in der Diskussion.
Bruckhausen hat keine Chance mehr: Über ein Drittel der Wohnungen steht leer. Die Substanz der Gebäude ist schlecht, die Nähe zu den verbliebenen Duisburger Stahlwerken sorgt für immense Umweltbelastungen. Ein Hauch von Schwefel liegt immer in der Luft. In Bruckhausen sollen 200 Häuser abgerissen werden. Es gibt viele Bruckhausens im Ruhrgebiet, und der Abriss ganzer Quartiere wird zu einer Zukunftsaufgabe der Region. Auch die vom Frankfurter Architekturbüro Albert Speer & Partner (AS&P) veröffentlichte Projektskizze Ruhrplan 21 sieht dazu an vielen Stellen keine Alternative. Aber ist Abriss wirklich das letzte verbleibende Mittel? Dr. Michael Denkel von AS&P sieht noch eine weitere Möglichkeit: Die Neu- und Zwischennutzung von leer stehenden Gebäuden. Die seien vor allem für die Kreativwirtschaft attraktiv: „Dass das Ruhrgebiet noch über viele Flächen verfügt, die nicht durchoptimiert sind, ist eine Chance. Gerade Künstler und Gründer aus dem Bereich der Kreativwirtschaft nutzen solche Gebäude gerne. Sie sind ein wichtiger Raum für neue Ideen und Projekte. Hier können sich Menschen ausprobieren.“
Zwar warnt Denkel davor, dass das Ruhrgebiet zu große Hoffnungen mit der Kreativwirtschaft verbindet, aber als Branche sei sie durchaus präsent – auch wenn von ihr nicht der entscheidende Impuls zur wirtschaftlichen Erneuerung ausgehen wird.
Wichtig sei, dass auch die Bereitstellungen von Gebäuden für Kreative konzentriert und nach Plan verläuft. Dann könnten, sagt Denkel, von solchen Zwischennutzungen Impulse für die Stadtentwicklung ausgehen.
Solche Impulse will Tino Buchholz setzen. Der Stadtentwickler hatte mit über 100 Künstlern im August die leer stehende Kronenbrauerei in Dortmund besetzt. Die Räumung erfolgte noch am selben Tag, aber seitdem ist man mit der Stadt im Gespräch. Man sucht scheinbar nach passenden Räumen für die Künstler. Es finden Gesprächsrunden zwischen der Initiative für ein Unabhängiges Zentrum und Kulturdezernent Jörg Stüdemann statt.
„Wir sind“, sagt Buchholz, „eine Chance für Dortmund. Wir wollen etwas bewegen, gründen und werden mit unserer Arbeit helfen, einen Teil der Stadt attraktiver zu machen.“ Ein altes Quartier attraktiver machen heißt in der Planersprache Gentrifizierung: Erst kommen die Künstler in die billigen Wohnungen und Werkstätten, dann die Szene-Kneipen und Galerien und irgendwann steigen die Mieten, wird saniert und die Ursprungsbevölkerung muss das Viertel verlassen, weil es sich die Preise nicht mehr leisten kann. In Berlin war das so. Am Prenzlauer Berg, dem Musterbeispiel für Gentrifizierung in Deutschland sind 80 Prozent der Bewohner in den vergangenen 20 Jahren zugezogen. Der bestimmende Dialekt in dem herausgeputzten Bezirk in Berlin Mitte ist längst das Schwäbische.
Buchholz würde mit seiner Initiative gerne in die Dortmunder Nordstadt ziehen. In dem Problemstadtteil hat sich schon heute in Ansätzen eine Künstlerszene etabliert, der es vielfach an geeigneten Räumen fehlt. Viele, auch öffentliche Gebäude, stehen leer, obwohl es zahlreiche Interessenten für preiswerte Räume gibt. Die Initiative will solche Räume nutzen, die Betriebskosten tragen und eigenverantwortlich renovieren. Nach zehn Jahren, so der Plan, würde man gerne kaufen – zum Ursprungspreis. Buchholz: „Wir wissen, dass wir mit unserer Arbeit die Attraktivität eines Quartiers steigern und wollen am Ende nicht mit leeren Händen dastehen. Verdrängungsprozesse wie am Prenzlauer Berg befürchtet der Stadtentwickler nicht: „Das wird hier nie die Region die Kreative aus aller Welt anzieht. Außerdem wollen wir eng mit den jetzigen Bewohnern zusammen arbeiten.“
Trotz begonnener Verhandlungen besteht allerdings wenig Hoffung für Buchholz und seine Freunde. In einer den Ruhrbaronen vorliegenden Antwort auf eine Anfrage der CDU-Fraktion zur Zwischennutzung von öffentlichen Gebäuden durch Kulturinitiativen stellt Stüdemann fest:
„(…) aus liegenschaftlicher Sicht (kann) eine Nutzungsüberlassung von leer stehenden Infrastrukturimmobilien und bebauten Besitzungen des Allgemeinen Grundvermögens an Kulturinitiativen nicht empfohlen werden.“
Für Buchholz ist die Konsequenz klar: Finden sich keine Räume, werden er und viele andere Dortmund verlassen. Er hat schon eine Alternative: „Leipzig.“ Dort sind Zwischennutzungen üblich. Die sächsische Stadt hat längst eine große Anziehungskraft für junge Kreative, auf die man in Dortmund keinen Wert zu legen scheint.
Auch in Essen scheiterten Besetzer aus der Künstlerszene. Schon nach wenigen Tagen verließen sie freiwillig ein leer stehendes Gewerkschaftshaus am Rand der Innenstadt. Und auch in Köln steht es schlecht um die ebenfalls von vielen Künstlern seit April besetzte ehemalige Deutz-Kantine im Stadtteil Kalk. Das zur Sparkasse Köln-Bonn gehörende Immobilienunternehmen S RheinEstate GmbH will bald räumen lassen. Geschäftsführer Jürgen Lange: „Das Gebäude ist aus Sicherheitsgründen nicht als Veranstaltungszentrum zu nutzen. Die Stadt ist nicht bereit für die Umbaukosten aufzukommen, also bleibt uns kein anderer Ausweg als die Räumung – wenn die Besetzer nicht vorher die alte Kantine freiwillig verlassen.“
Geht es nach Michael Denkel von AS&P sollten sich allerdings auch Boomstädte wie Köln oder Düsseldorf Gedanken darüber machen, wie sie Freiräume für unkonventionelle Initiativen in ihren Städten sichern. „In Frankfurt haben wir solche Räume schon nicht mehr. Dort wird jetzt überlegt, junge Kreative in Offenbach anzusiedeln, damit sie in der Region bleiben.“ Frankfurt versucht sich damit zukünftige Potentiale zu sichern – auch in Zusammenarbeit mit der ungeliebten Nachbarstadt mainaufwärts.
Im Ruhrgebiet ist man noch nicht so weit. Auch wenn der für Kreativwirtschaft zuständige Kulturhauptstadtdirektor Dieter Gorny die Essener und Dortmunder Kunstbesetzer für ihren Tatendrang lobte und ihnen öffentlich Unterstützung zusicherte, tut sich im Ruhrgebiet erst einmal wenig, junge Kreative zu halten. Man darf gespannt sein, wann aus dem Ruhrgebiet der Ruf nach staatlichen Geldern laut wird, sie ins Revier zurückzuholen.
„Hartzer sollen ein Bier trinken können“
Karl-Josef Lauman ist der Arbeiterführer der CDU – und findet 5 Euro mehr für Bedürftige völlig okay. Der Münsterländer will ihnen das Bier nicht verbieten – wovon sie es bezahlen sollen, weiß der gelernte Schlosser allerdings nicht zu sagen. Auch höhere Löhne fände er gut – gesetzlich festlegen möchte er sie aber auch nicht.
Herr Laumann, was haben Sie sich zuletzt von fünf Euro gekauft?
Karl-Josef Laumann: Eine Busfahrkarte in Berlin. Ich weiß: Fünf Euro allein sind nicht viel. Aber fünf Euro sind fünf Euro. Und die fünf Euro mehr für jeden Hartz IV-Empfänger kosten den Staat immerhin mehr als 300 Millionen im Jahr, das ist insgesamt eine schöne Stange Geld. Und man darf nicht vergessen, dass die Hartz IV-Sätze das eine sind, der Staat aber auch für die Kosten der Unterkunft aufkommt.
Sie kommen aus dem Münsterland, in dem gerne feucht-fröhlich gefeiert wird. Ist es richtig, den Bedürftigen Bier und Zigaretten zu streichen?
Natürlich sollen die HartzIV-Empfänger auch weiter ein Bier trinken können, das ist doch selbstverständlich. Jeder Empfänger kann doch weiterhin frei darüber entscheiden, was er mit dem Geld macht und das ist auch gut so. Aber man kann halt jeden Euro nur einmal ausgeben. Lassen Sie mich ganz klar sagen: Niemand möchte den HartzIV-Empfängern ihr Bier verbieten. Aber ein Arbeiter bekommt auch vom Staat keinen Zuschlag für Alkohol.
Diese haben ja auch mehr Geld zur Verfügung. Wenn Hartzer nun ein Bier trinken wollten müssten sie aber nach ihren Berechnungen auf etwas anderes existenzielles wie zum Beispiel eine Internetverbindung verzichten.
Nein, die Menschen werden das mit ihren eigenen Berechnungen schon hinkriegen. Aber wir haben jetzt doch etwas viel wichtigeres geschafft: Zum ersten Mal sind dort auch Kosten für das Internet und Vereinsleben berücksichtigt. Allen Schulkindern wird das warme Mittagessen bezahlt, das sind noch einmal 400 Euro mehr im Jahr. Als Sozialminister in Nordrhein-Westfalen wäre ich froh über diese Summe gewesen. Anders als die Vorgängerregierung haben wir jetzt die Teilhabe am Leben mit berücksichtigt.
Das sind doch statistische Wunschwerte. Halten Sie es denn grundsätzlich für möglich zu berechnen, wie viel Geld ein Mensch für ein würdiges Leben benötigt?
Ich glaube den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes. Dieses Gesetz wird auch allen gerichtlichen Auseinandersetzungen standhalten. Die haben fein säuberlich alles herangezogen, was eine Durchschnittsfamilie aus dem unteren Lohnsegment benötigt. Ich gönne den Leuten gerne ein besseres Einkommen, aber die arbeitenden Menschen müssen mehr verdienen. Es darf doch nicht sein, dass die Verkäuferin, die sich von morgens bis abends die Beine in den Bauch steht, oder der Arbeiter im Getränkemarkt, der schwere Kisten schleppt, weniger verdient als ein HartzIV-Empfänger.
Wäre es da nicht folgerichtig, die Niedriglöhne gesetzlich zu erhöhen umso den Lohnabstand zu wahren?
Ich bin überzeugt, dass jetzt mit dem Wirtschaftsaufschwung auch die Löhne steigen müssen. Wir haben in Deutschland einen Niedriglohnsektor. Ich möchte, dass die Lohnerhöhung auch dort ankommt, und zwar durch ordentliche Tarifverträge. Im Übrigen werden auch HartzIV-Empfänger von insgesamt höheren Löhnen profitieren, weil künftig 30 Prozent ihres Satzes von der allgemeinen Lohnentwicklung abhängen.
Alin Coen Band
Alin Coen Band, Mittwoch, 29. September, 21.00 Uhr, Blue Shell, Köln
Der Ruhrpilot
Ruhr2010: Die Kulturhauptstadt geht – wir bleiben!…Bo Alternativ
NRW: …muss jedes Jahr eine Milliarde sparen…Xtranews
NRW II: Jäger fordert neue Sparopfer der Städte…Der Westen
NRW III: Politik kritisiert Top-Gehälter bei WestLB…RP Online
Umland: Köln ist nach 1972 wieder eine echte Millionenstadt…Welt
Ruhrgebiet: Thomas Westphal neuer Chef der Revier-Wirtschaftsförderung…Pottblog
Ruhrgebiet II: Sozialticket kommt erst Mitte 2011…Der Westen
Bochum: Streit mit Stadt-Kämmerer…Ruhr Nachrichten
Dortmund: Im Dortmunder Phoenix-See steigt der Pegel…Der Westen
Hagen: Konferenz für Personal- und Betriebsräte…Zoom
Studie: Kinderpornographie im Netz kein großes Geschäft…heise
Wirtschaft: Hartz IV als moralische Besserungsanstalt…Weissgarnix
Wirtschaft: Sohn vom Sohn vom Sohn vom Sohn…Frontmotor
Veranstaltung: “Das überwachte Netz” in Freiburg…Law Blog
Gott wohnt in der Nordstadt – Ein Portrait von beiden
3,80 Euro für Pommesmayo, Currywurst, Cola. Wir sind im Herzen der Nordstadt. 55.000 Menschen wohnen in diesem Dortmunder Stadtteil, in dem sich prachtvolle Altbauten wie Perlen aneinanderreihen. Hier leben all die Abgehängten und Gestrandeten dieser Gesellschaft, die, denen Drogen und Alkohol durch den Tag helfen, die ohne Jobs und Geld, die Hälfte mit Migrationshintergrund. Und Gott, Boris Gott.
Der Musiker wohnt zurzeit am Hafen, einen Steinwurf vom PCB-Verseucher Envio entfernt. Die Nordstadt beginnt direkt hinter dem Hauptbahnhof, seit zehn Jahren ist Gott hier, gekommen aus Kehl am Rhein, dem Sauer- und dem Münsterland. 1977 haben seine Eltern sich scheiden lassen, da war er gerade fünf. Seine Mutter war damals eine der ersten Alleinerziehenden, sie lebten von Sozialhilfe, „Armut war für mich ziemlich präsent“, sagt er. Die Schattenseiten des Lebens sind bis heute sein Thema. Und so kam er wohl auch in die Nordstadt, der er viele seiner Lieder gewidmet hat. In „Bukowski-Land“ zum Beispiel reimt sich Bordsteinrand auf Nordstadtstrand. „Hier sind alle irgendwie fremd, und in dieser Fremdheit ist man wieder gleich“, beschreibt Gott das Lebensgefühl.
Sucht und Wahnsinn
Zunächst hat Boris Gott Diplompädagogik studiert, dann als Sozialarbeiter in einem Obdachlosenbrennpunkt in Ahlen gearbeitet. Später war er rechtlicher Betreuer in Mülheim. „Auch da hatte ich es mit Extremen zu tun, mit Leuten, die am Rand leben. Als Betreuer ist man von Sucht und Wahnsinn, von Demenz und von Armut umgeben“, erzählt er aus dieser Zeit. Gott und ich sitzen zunächst vorm Café Fink, direkt am Nordmarkt, einer der dunkelsten Seiten der Stadt. Das fällt jedoch nicht auf, weil die Sonne an diesem Spätsommertag auf die Menschen mit den Bierflaschen in der Hand scheint und noch die finstersten Ecken erhellt. Viele erhabene Häuserzeilen mit Gründerzeitflair schmücken die Straßen, viele saniert, viele nicht. Die Nordstadt ist das größte zusammenhängende Altbaugebiet der Region.
Seit einem Jahr gibt es das Café Fink, von der Straße aus erkennt man es nur an der roten Fassade. Kein Schild weist den Weg – dazu wäre ein Bauantrag nötig gewesen. Vor einigen Jahren gab es viele Kampfhunde auf dem Nordmarkt, heute kriegt man hier für kleines Geld Maultaschen auf schwarzen Gemüsegnocchis in Senfsauce. Dem Sänger gefällt die Stimmung in seinem Stadtteil: „Was woanders hinter verschlossenen Türen stattfindet, ist hier ganz offensichtlich. Im Grunde ist es ein harmonisches Miteinander, ich bin noch nie angemacht oder überfallen worden. Wenn die Leute hier Stress haben, dann untereinander in ihren Gruppen.“ Die Migrationsdebatte hält er vor allem für ein Medienproblem: „Man sieht immer nur entweder den türkischen Bollo-Gangsta-Rapper oder den toll integrierten Superaufsteiger.“
Überzeugter Spießer
Vor zwei Jahren hat Gott seinen Job an den Nagel gehängt und arbeitet seitdem hauptberuflich als Musiker. Einfach war die Entscheidung nicht. „Mit Musik Geld verdienen zu wollen, ist schon sehr idealistisch, und ich bin überzeugter Spießer“, erklärt er. Mittlerweile hat er sogar sein eigenes Label gegründet, Nordmarkt Records. Im November erscheint die neue Platte. Musikalisch ist er Autodidakt, spielt und singt, seit er vierzehn ist. Herausgekommen sind dabei so Zeilen wie die im Stück „Irgendwo in DO“: „Ein Penner krakeelt, grad ist Gott explodiert. Wenn das stimmt, wird das kein guter Tag.“ Apropos Gott. Es ist ein Künstlername, und Boris ist nicht der uneheliche Sohn von Karel Gott, der heißt nämlich wirklich so, fast zumindest. Trotzdem sagt er: „Karel Gott hat mich durchaus beeinflusst, Biene Maja fand ich damals großartig.“
Ein gewisser Schlagereinfluss lässt sich nicht verhehlen. Meine allererste Assoziation war ein Mix aus Stephan Sulke und Rio Reiser. Der Vergleich freut den Musiker, er summt „Uschi, mach kein Quatsch“. Selbst nennt er seine Musik Folkpop mit Ü 30-Blues, wahlweise Ruhrpottpop. Die eingängigen Melodien bringen auch seriöse Ü 60-Damen zum begeisterten Mitklatschen, gleichzeitig kichern sie bei mancher Textzeile verlegen. Beim bodo-Jubiläum letztens selbst gesehen.
Arbeiter- und Straßenstrich
Wir fahren ein Stück mit dem Auto. Direkt an den Nordmarkt grenzt die Schleswiger Straße, bekannt für den bulgarischen Arbeiterstrich. Dunkelhaarige Männer jeden Alters stehen hier vor den Häusern und warten auf Arbeit. Tagelöhner, die zur türkischsprachigen Minderheit in Bulgarien gehören. Für ein paar Euro am Tag entrümpeln sie Wohnungen, schleppen Steine, übernehmen Hilfsarbeiten. Oft haben sie keine eigene Wohnung, sondern teilen sich die Betten, schlafen in Schichten wie zur Zeit der Industrialisierung. Manche übernachten in den Autos, die vor den Häusern parken.
Weiter geht es, überall Gewusel, viele Menschen, viel Verkehr, vorbei am Baumarkt. Hinter Hornbach beginnt der Straßenstrich. Stark geschminkte, langbeinige Frauen in sehr engen Leggins auf sehr hohen Schuhen sind auf dem Weg zur Arbeit. Der Straßenstrich an der Bornstraße grenzt im Westen an das riesige Gelände der Westfalenhütte, deren Fläche etwa dreimal so groß ist wie das der Dortmunder Innenstadt. 25.000 stolze Hoeschianer haben in der Hochphase hier gearbeitet, heute sind es noch 1.300. Ein Viertel der Menschen im Stadtteil hat keine Arbeit.
Pommes Rot-Weiß
Dann kommen wir zur Pommesbude am Borsigplatz. Sie bietet nicht nur unschlagbare Preise, sondern auch echte Dortmunder Tradition. Genau hier war früher der „Wildschütz“, die Kneipe, in der 1909 der BVB gegründet wurde. Heute heißt der Laden „Pommes Rot-Weiß“ und drinnen hängen viele Erinnerungen an Schwarz-Gelb. Herbert Grönemeyer ist mit seiner Bochum-Hymne und der häufig widerlegten Behauptung, der VfL mache mit seinem Doppelpass jeden Gegner nass, reich und berühmt geworden. Gott winkt ab, er interessiert sich nicht für Fußball und möchte dem örtlichen Ballsportverein kein Lied widmen.
Weiter zum Hafen. Trotz des Spätsommertages weht der Wind nordseegleich. 1899 löschte hier der erste Dampfer seine Fracht, gebaut worden war der Hafen für die Montanindustrie. Eisenerz wurde importiert, Kohle exportiert. Heute hat die Logistik das Ruder übernommen, ungezählte Container stapeln sich im Hafen, Waren werden aus aller Welt und in alle Welt verteilt. Viel Importkohle wird umgeschlagen. Boris Gott mag den Hafen, geht gern hier spazieren.
An den Hafen schließt sich der Fredenbaumpark an. Er gehört zu den großen Parkanlagen der Stadt und grenzt direkt an den Dortmund-Ems-Kanal. Da ist er also, der Nordstadtstrand. „Im Sommer kann man hier super schwimmen gehen, das wissen viele Leute gar nicht“, erzählt der Sänger. Gott ist damals zufällig in der Nordstadt gelandet, aber „es war Liebe auf den ersten Blick. Schicksal.“ Was er noch an seinem Stadtteil mag: „Die Leute hier sind unfreiwillig hip geworden, weil die Achtziger zurückgekommen sind und sie immer noch die Klamotten aus den Achtzigern tragen.“
Licht und Schatten, Schwarz und Weiß, das sind seine Themen, ganz persönlich und auch in seiner Musik. Er mag die Extreme, sieht den Stadtteil als Metapher für das Leben an sich. Auf der Bühne trägt er ein schwarzes Hemd und eine weiße Weste, weiße Schuhe. Sein „Ruhrpott-Dreikampf“ führte den Musiker von der Kneipe in die Pommesbude zum Arbeitsamt. Er spielte an jeweils zwanzig Orten, zuletzt am 1. Mai bei der „Hartz IV Tour Ruhr 2010“ vor zwanzig Arbeitsämtern.
Im November erscheint die neue CD mit dem Titel „Es ist nicht leicht ein Mensch zu sein“. Da gehts um den „Bahnhofs-Blues“, der ähnliche Hitqualitäten hat wie seinerzeit „RTL & Rohypnol“, um „Sonnenschein“ und „Niemandsland“. Manchmal verlässt Gott das Ruhrgebiet und ist „Nackt in Brunsbüttel“.
Wir fahren zurück, vom Kanalufer wieder mittenrein, ins dunkle Herz des Ruhrgebiets. Wie heißt es bei Gott? „Heute ist ein schöner Tag, hier im Norden meiner Stadt. Junkies leuchten, Mütter schreien, es ist schön hier zu sein.“
(Alle Fotos: Barbara Underberg)