Schulden sind das asozialste, das es gibt. Schulden sorgen dafür, dass Geld von den Armen, von den Werktätigen, von den Familien und Benachteiligten zu den Banken und Reichen umverteilt wird.
Früher kamen Schuldenmacher in den Schuldturm, heute nennen sie sich sozial. Bah.
Ich mache hier mal eine einfache Rechnung auf.
Von meinem Einkommen gehen 40 Prozent sowieso weg. Bevor ich davon einen Cent gesehen habe. Vom Rest gehen 19 Prozent als Mehrwertsteuer an den Staat.
Von 100 Euro die ich verdiene, landen also bei mir nur knapp 48 Euro. Davon muss ich Miete zahlen und Strom, etc – in meinem Fall an eine kommunale Baugenossenschaft und eine kommunale Stromfirma.
Am Ende bleiben mir so vielleicht von meinen 100 verdienten Euro nur 20 Euro übrig für Essen und Kleidung. Also nicht nur für mich, sondern auch für meine Frau und meine beiden Kinder.
Der Rest ist für den Staat.
Ich will mich nicht beklagen, damit wir uns richtig verstehen. Ich bekomme für meine 80 Euro grob vereinfacht Schulen, Straßen und die Polizei und auch die armen Menschen bekommen was ab, damit sie Leben können. Das finde ich sozial vertretbar und in Ordnung.
Wenn jetzt aber der Staat immer mehr Schulden macht, muss er von meinen 80 Euro nicht nur wie gewollt Schulen, Straßen und Polizisten bezahlen und den armen Menschen was geben, sondern er muss auch die Banken und reichen Leute bezahlen, die ihm das Geld geliehen haben. Der Staat muss nämlich Zinsen bezahlen.
Je mehr Schulden der Staat und die Gemeinden machen, umso mehr Geld geht von meinen 80 Euro für Zinsen und Tilgungen drauf. Das ist doch verständlich, oder?
Es wird also Geld von mir nicht umverteilt zu armen Menschen und eingesetzt für Schulen, Straßen und Polizisten, sondern mein Geld wird Banken und reichen Menschen gegeben, damit die Gewinne mit ihren Krediten machen oder ihre Staatsanleihen verzinst kriegen.
Wenn der Staat nun noch mehr Schulden macht, ist die Konsequenz doch ganz einfach und für jeden zu verstehen: entweder muss ich von meinen 100 Euro bald 90 Euro abgeben. Oder aber die armen Leute bekommen noch weniger Geld von mir und die Schulen und Straßen werden noch schlechter und es gibt immer weniger Polizisten.
Weil nämlich von dem Geld, das ich verdiene und das ich dem Staat gebe, nicht mehr die armen Leute, die Schulen, die Straßen und die Polizei bezahlt werden, sondern die Banken und reichen Leute, die dem Staat noch mehr Geld für die Schulden geliehen haben.
Lasst Euch das mal durch den Kopf gehen. Schulden sind fucking unsozial.
Wie hoch ist eigentlich der Gewinn, den die Deutsche Bank mit den Staatsschulden von NRW macht?
In ihrer ersten Regierungserklärung hat sich die neue NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft von der Politik des Bundes und fast aller Bundesländer distanziert. Nordrhein-Westfalen geht unter Rot-Grün eigene Wege. Während Schwarz-Gelb in Berlin ein dickes Sparpaket schnürt, weitet das bevölkerungsreichste Bundesland seine Nettoneuverschuldung um 35 Prozent aus. Das ist riskant, aber angebracht.
Im Grunde setzt Genossin Kraft mit rund zehnjähriger Verspätung um, was die sozialdemokratischen Modernisierer von Blair bis Schröder einst versprachen: einen vorsorgenden Sozialstaat, der Bürgern bildet und sie so unabhängig von Almosen des Staates werden lässt. Doch während die SPD-geführten Regierungen im letzten Jahrzehnt nur halbherzig in Schulen investierten und noch dazu dramatisch bei sozialen Hilfen kürzten, macht NRW jetzt ernst. Die Studiengebühren an Rhein und Ruhr werden abgeschafft, Gemeinschaftsschulen eingeführt, die Kita wird gratis. Das kostet. Und kann die Gemeinschaft am Ende doch billiger kommen. Allein ein Kind unter dem Schutz des Jugendamtes kostet die Kommunen Zehntausende im Jahr. Das gewagte Düsseldorfer Kalkül sieht vor, irgendwann weniger für Jugendhilfe und Gefängnisse ausgeben zu müssen. Wenn dann auch noch die Einnahmen durch Vermögenssteuer und höhere Spitzensteuersätze vergrößert werden ist der Staat wieder stark.
Ob Krafts Plan langfristig aufgeht ist unklar. Es gibt keine historische Parallele. Sicher ist aber, dass die Spar-Rezepte ihrer Vorgänger allesamt gescheitert sind. Steinbrück, Clement und Rüttgers haben gekürzt und am Ende mehr ausgeben müssen. Vielleicht wird NRW mit Krafts gewagtem Konzept wieder einmal zum Testlabor für den Bund.
Verraten und verkauft sind all die, die an den Atomausstieg geglaubt haben: Angela Merkel hat zugunsten der Atomlobby einen Deal durchgemogelt, der die jahrzehntelangen Bestrebungen, Atomenergie aus Deutschland zu verbannen, hintergangen hat und sich auch in zukünftigen Regierungen nicht mehr anullieren läßt. Doch es formiert sich Widerstand.
Lange haben wir ihn nicht mehr gesehen, den netten „Nein Danke“-Aufkleber. Aus der Anti-Atom-Bewegung und der Anti-Atomraketen-Bewegung wurden die „Grünen“, die heute schon zum verschnarchten Establishment gezählt werden, über das man nicht mehr berichten darf.
Es wurden dann auch irgendwann in Deutschland keine neuen Atomkraftwerke mehr gebaut. Aber die alten laufen nicht nur bei den Russen und Tschechen weiter, sondern auch bei uns. Sie sind sicherlich ein kleines bißchen sicherer. Aber reicht das?
Aber immerhin: Sie sollten bald abgeschaltet werden. Das hatte Rot-Grün durchgesetzt.
Schwarz-Gelb ist auch dieser Meinung – mit Ausnahme des „bald“. Außer, wenn man ein paar Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende – auf jeden Fall länger als eine Kanzlerschaft – als „bald“ betrachtet.
Daß eine ehemalige Kernphysikerin und eine wie das Radioaktivitäts-Symbol schwarz-atomgelbe Regierung („Atomstrom ist Yello“…) eine in diesem Punkt gefährliche Mischung sind, das ahnte man. Daß diese Regierung so frech sein könnte, den mühsam erkämpften Atomausstieg einfach wieder zu kippen, hielt doch nicht jeder für möglich.
Doch besteht kein Grund, die Fline in den Kernreaktor zu werfen: Protest ist machbar, auch noch Jahrzehnte nach Atomprotest und Friedenskette. Plutonium hat eine Halbwertszeit von über 24.000 Jahren, Widerstand gegen eine strahlende Zukunft auch! Und die bayrische kleine Schwester der CDU durfte ja bereits feststellen, wozu „Umfallen“ führt und daß sich die Bürger das vielleicht doch nicht bieten lassen.
Martin Tönnes, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Ruhrparlament bewirbt sich um die Stelle des Planungsdezernenten in Regionalverband Ruhr. Der bisherige Dezernent, Thomas Rommelspacher, wird im kommenden Jahr nicht wieder kandidieren.
Und weiter dreht sich das Personalkarussel beim RVR: Nachdem mit Christoph Dänzer-Vanotti und Thomas Westphal der neue Regionaldirektor des RVR und der Chef der Wirtschaftsförderung Metropole Ruhr feststehen gibt es nun einen Bewerber um den Posten des Planungsdezernenten. Nachfolger von Thomas Rommelspacher (Grüne) soll Martin Tönnes werden. Tönnes ist Mitarbeiter der Landtagsfraktion, hat Raumplanung studiert und ist Fraktionsvorsitzender der Grünen im RVR sowie Ratsherr der Grünen in Dortmund. In einem ersten kurzen Gespräch mit den Ruhrbaronen bestätigte der 51jährige Tönnes seine Bewerbung.
In der DDR mutig zu sein, war wirklich mutig. Bärbel Bohley dürfte am meisten zum Fall der Mauer beigetragen haben. Im Westen kannten sie dennoch zu wenige.
Ich lernte Bärbel Bohley erst im Herbst 2008 kennen. Fotografiert werden sollte sie damals schon nicht mehr – man sah ihr den Krebs bereits zu sehr an. Doch gekämpft hat sie bis zuletzt, für ein selbstbestimmtes Leben ohne Angst, ein Leben ohne selbsternannte autoritäre Machtmenschen, ob im Osten oder Westen, die eine bessere Welt versprachen und doch nur ein besseres Leben für sich persönlich meinten.
Im Westen wird immer wieder Helmut Kohl als der Mann der deutschen Einheit bzw. Wiedervereinigung gefeiert. Im Osten wurde er dafür auch noch gewählt. Doch Kohl war nur zufällig Kanzler, als die Mauer fiel – sein Verdienst war es nicht. Der stünde eher noch Genscher zu. Eigentlich aber den Aktivisten im Osten, die sich trotz des Wissens, was ihnen dafür blüht, gegen die „volkseigene Unterdrückung“ auflehnten und nicht die D-Mark, sondern einfach nur Freiheit wollten. Dazu ging Bärbel Bohleysogar gegen den Willen der DDR-Oberen nach einem halben Jahr Exil in England wieder in die DDR zurück, da sie nur dort etwas bewirken konnte und die DDR als „ihr Land“ nicht im Stich lassen wollte..
Bärbel Bohley machte sich damit nicht nur Freunde – auch mir kündigte eine ewig Gestrige postwendend die Freundschaft, nachdem ich mich in solchen Kreisen herumgetrieben hatte. Die Mitläufer, die konnten sie nicht leiden – und sie die Mitläufer nicht. Und auch nicht, wie der Mauerfall dann tatsächlich ablief. Sie war kompromißlos, kannte keine Angst vor der Stasi, ging auch gegen das Ost-Satiremagazin Eulenspiegel und Gregor Gysi vor. Blieb aber immer freiwillig im Hintergrund: Ihr Ziel war stets die Sache, sie legte keinen Wert darauf, im Mittelpunkt zu stehen.
Wir sollten nie vergessen, was sie für uns alle bewirkt hat. Das wurde im Laufe der Jahre dann auch vom Establisment anerkannt: Sie erhielt 1994 das Bundesverdienstkreuz und 2000 den Nationalpreis für ihre Anteile an der friedlichen Revolution 1989, die die Wiedervereinigung ermöglichte. Alles, was sie erreichen wollte, konnte sie jedoch leider nicht mehr umsetzen. Sie wurde 65.
(Bild: Bundesarchiv, Thomas Uhlemann, Besetzung der Stasizentrale Normannenstraße, 5. September 1990)
Zur Stunde hält NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ihre Regierungserklärung im Düsseldorfer Landtag. Der Sozialdemokratin und ihrer rot-grünen Minderheitsregierung fehlt für jedes Gesetz mindestens eine Ja-Stimme oder Enthaltung aus der Opposition. Alexander Slonka, Geschäftsführer des Vereins „Mehr Demokratie“ begrüßt die Regierung ohne eigene Mehrheit. So werde der einzelne Abgeordnete und die Meinung der Bürger wichtiger.
Herr Slonka, In der jungen Düsseldorfer Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen muss Ministerpräsidentin Hannelore Kraft um jede Stimme ringen. Ist das eine furchtbar zähe Diskussion oder ein demokratischer Traum?
Alexander Slonka: Diese Regierungsform fördert die Debatte und das ist immer gut. Frau Kraft und ihre Regierungskollegen haben zu Beginn eine Koalition der Einladung ausgesprochen. Wenn das funktioniert und tatsächlich alle unabhängig von ihren Parteibüchern um die Sache streiten, wäre das zukunftsweisend. Das wird sich schon sehr bald an den großen Meilensteinen dieser Koalition zeigen. Zum Beispiel, ob ein Kompromiss mit den Linken für die Abschaffung der Studiengebühren gefunden wird oder ob die FDP tatsächlich auch die Schule mitreformieren will und längeres gemeinsames Lernen zulässt. Wenn immer auch der politische Gegner mitgedacht wird ist das ein Stärkung des Parlamentarismus.
Sie kämpfen dafür, Bürger an Entscheidungen teil haben zu lassen. Der ist aber bei einer Minderheitsregierung genauso wenig gefragt wie bei klaren Mehrheiten.
Trotzdem rücken die Abgeordneten wieder näher zu ihre Wählern. Denn der einzelne Abgeordnete wird viel wichtiger. Ministerpräsidentin Kraft fehlt ja aus der Opposition nur eine Person, die sich enthalten muss. Ein einzelner Abgeordneter. Und dann lohnt sich auch wieder der Gang zum Wahlkreisbüro des Landtagsabgeordneten. Es lohnt sich, ihn zu überzeugen, sein Büro zu belagern. Denn natürlich sind die Bürger mit ihrem Engagement ökonomisch: Haben Sie das Gefühl, etwas erreichen zu können, sind sie sofort dabei.
Allerdings besteht doch auch die Gefahr, dass die Parteien nun einen Kuhhandel betreiben. Die Linke könnte beispielsweise sagen, wenn wir nicht länger durch den Verfassungsschutz beobachtet werden, stimmen wir der späteren Abschaffung der Studiengebühren zu.
Das ist eine Gefahr, natürlich. Aber nur, wenn im Hinterzimmer gekungelt wird. Ich habe aber die Hoffnung, dass die Diskussion hier offen verlaufen muss, alleine schon, weil potentielle jede Partei mit der Regierung zusammen arbeiten könnte. Eine andere Gefahr ist auch, dass die Opposition die Regierung am ausgestreckten Arm verhungern lässt und alle Vorhaben torpediert. Das wäre faktisch das Ende. Aber auch das sehe ich in Nordrhein-Westfalen nicht: Bei der allgemeinen politischen Großwetterlage ist keine Partei daran interessiert, neu wählen zu lassen.
Dafür scheinen die Parteien mehr auf die Stimme der Bürger zu hören: Die CDU hat angekündigt, ein Volksbegehren gegen die geplante Gemeinschaftsschule zu organisieren.
Ja, und das wäre ein ganz geschickter Streich der CDU. Rot-Grün hat angekündigt, Volksbegehren in Nordrhein-Westfalen zu erleichtern. Bislang müssen 8 Prozent der Bürger im Rathaus unterschreiben, das ist eine nahezu unüberwindbare Hürde. Sie müssten eine Millionen Bürger ins Rathaus bewegen! Zukünftig soll das Quorum niedriger sein und auch in den Straßen sollen Unterschriften gesammelt werden können. Wenn die CDU schlau ist, stimmt sie erst der Reform im Landtag zu – und nutzt dann das reformierte Instrument gegen die Gemeinschaftsschule der Koalition. Diese Minderheitsregierung lässt viel Raum für Phantasie.
In den nächsten Monaten werde ich nicht nur hier bloggen sondern auch für eine TV-Serie.
Am 14. November startet die TV-Serie Alpha 07 – Der Feind in dir. Sie läuft im dritten Programm des SWR, auf Arte und Einslive und spielt im Jahr 2017. In der Serie geht es um eine neue Dimension des Überwachungsstaates und um die Einführung von Hirnscannern – kleinen Geräten, mit denen sich Menschen steuern lassen. Seit Ende des vergangenen Jahres arbeite ich an der Serie mit. Im Auftrag von bt-cologne, eine TV-Produktionsfirma, die Sebastian Büttner und Oliver Hohengarten gehört, die für Zeitsprung arbeitet habe ich die zur Serie passenden Blogs und Webseiten konzipiert und geschrieben. Was ich erschreckend fand: Vieles, was in der Serie vorkommt, ist heute schon Realität, vieles was im vergangenen Jahr noch Fiktion war, steht heute auf der Agenda der Politik.
Ich blogge unter drei Namen: Johanna Berger, die Hauptfigur der Serie, ist eine Frau die von Berlin nach Stuttgart gezogen ist und ohne ihr Wissen Teils eines geheimen neurologischen Experiments wird. Als Frau zu schreiben war spannend. Und hat wohl ganz gut funktioniert. Dann noch als eine Gruppe von Netz-Aktivisten unter dem Namen Apollon, die gegen den Überwachungsstaat kämpft und als 16jähriger Schüler Manuel Berg. Was mit dem wird, verrate ich noch nicht.
Was ich mir wünsche ist, dass ihr das Ganze kritisch begleitet und mir Tipps gebt, wenn ich mich verrenne. Viele Texte sind schon fertig, aber seit Sonntag sind wir zum Teil online. Die Arbeit für die Serie war eine gute Möglichkeit sich mit neuen Themen zu beschäftigen. Die Blogs der Serie sind ein dramaturgisches Mittel und sollen eine Brücke vom TV ins Internet bauen. Das Konzept fand ich spannend und es hat Spaß gemacht, daran mitzuarbeiten. Wir wollen Transparenz – deswegen werde ich nicht verdeckt schreiben, sondern jedem soll klar sein, dass ich quasi verschiedene Rollen spiele – in diversen Blogs. Allerdings bei einer Serie, die sich ernsthaft mit dem Thema Überwachung beschäftigt und eine Mischung aus Science Fiction und Krimi ist.
Diese Story wurde bei den Ruhrbaronen von mir schon einmal in 10 Folgen veröffentlicht. Jetzt kann sie auf vielfachen Wunsch am Stück herunter geladen werden.
1. From No Go to Must Be
Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich zum ersten Mal nach Williamsburg kam. Es war im Sommer 1985 an einem dieser feucht-heißen „Nothing is hotter than July“ Tagen. Die damals ziemlich runter gekommenen Waggons der JMZ-Linie, auf der NYC-Subway-Map auch heute noch braun eingezeichnet, hielten kreischend an der ersten Station in Brooklyn. Sie waren davor, vollgepackt mit mehrheitlich farbigen Passagieren, durch das Stahlgestrüpp der Williamsburg-Bridge über den East River gekrochen um danach aufgeständert in einem knappen Bogen über dem Broadway zu landen. Ja, Brooklyn hat auch einen Broadway, und der führt tief ins Innere dieses Mehr-Millionen-Boroughs, der vor der Eingemeindung nach New York City die viertgrößte Stadt der USA war.
Die Williamsburg Bridge, die zu diesem Zeitpunkt vor Rost nur so strotze, ist eine der schönsten Brücken der Stadt. Komplett aus Stahlstäben gebaut die mit Abermillionen von Nieten zu einem 1,6 Km langen Ingenieurkunstwerk zusammengesetzt worden sind. Sie verbindet Williamsburg mit der Lower-Eastside in Manhattan, damals noch „Loi Saida“, genannt, weil sie zum größten Teil von Latinos bewohnt wurde. Genauso wie zu diesem Zeitpunkt auch ein großer Teil ihres städtebaulichen Gegenübers in Brooklyn.
Ihre fußläufige Überquerung galt in der Dunkelheit als lebensgefährlich. Tagsüber war sie die „Poor-People-Bridge“, denn sie wurde vor allem von Leuten begangen, die sich nicht mal die U-Bahn leisten konnten, aber trotzdem jeden Tag zur Arbeit nach Manhattan mussten. Wer genug Geld hatte nahm sich nachts ein Taxi über dir Brücke und musste sich daran gewöhnen, dass der Fahrer wie automatisch die Sicherheitsknöpfe der Türen betätigte, wenn er ihren Scheitelpunkt passierte.
Manche, in der Regel weiße, Fahrer weigerten sich zu diesem Zeitpunkt sogar überhaupt über die Brücke Richtung Brooklyn zu fahren. Sicherheitshalber nahm man sich einen der schwarzen Chauffeure, weil die, bis heute, in der Regel überall hin fahren. Seit einigen Jahren gondeln allerdings alle Taxifahrer gerne über die Brücke, weil auf der anderen Seite statt Gefahr eine Menge Touren auf sie warten. Williamsburg ist nämlich mittlerweile einer der hippsten Stadtteile vom ganzen Big Apple. Mit Sicherheit aber zur Zeit der bekannteste Neighbourhood in Brooklyn.
Was die internationale Kunstszene betrifft, gilt dieser Stadtteil seit der Jahrtausendwende sogar als Must Go Arrea. Als ich dort zum ersten Mal auftauchte wäre das dort niemandem auch nur im Traum eingefallen. Dabei hatte mich ein Künstler dorthin eigeladen, den ich ein paar Tage vorher auf eine Party in Manhattan kennen gelernt hatte, und der in den folgenden Jahren ein guter Freund wurde. Er hatte mich allerdings vorgewarnt. Ich sollte möglichst von der U-Bahn aus direkt den Bus benutzen, sprich möglichst wenig zu Fuß gehen.
Drive-By-Shootings waren zu dieser Zeit in bestimmten Stadtteilen New Yorks bei Drogendealern gerade in Mode geraten und Williamsburg gehörte dazu. In solchen Fällen hatte man sich nach dem ersten Schuss sofort flach auf den Boden zu werfen und, wenn Kinder dabei waren, diese fest an sich, ja noch besser unter sich zu drücken. Das geschah nicht täglich, aber einmal im Monat konnte man fest damit rechnen, und man wusste nie genau wo. Überfälle waren dagegen in solchen Stadtteilen an der Tagesordnung. Aber auch hier gab es Regeln. Geld abgeben und Fresse halten. Kein Versuch sich zu wehren. Keinen einzigen!
Besser war es auch, immer etwas Geld dabei zu haben. Die Superdroge Crack hatte zu diesem Zeitpunkt die Stadt gerade begonnen in den Griff zu nehmen und die Jungs- und Mädels die dringend neuen Stoff brauchten waren nicht zimperlich, wenn es bei den Überfallenen gar nichts zu holen gab. Sie waren selbst für Leute die sich an den Straßenraub gewöhnt hatten nicht mehr einzuschätzen.
Also nahm ich treu den Bus und als ich in der Nähe des uralten Fabrikgebäudes ausstieg, in dem S. wohnte hatte ich gehörigen Schiss. Müll auf der Straße. Jedes dritte Gebäude war zugenagelt oder nur zum Teil bewohnt. Aber die Leute auf den Straßen machten nicht den Eindruck, dass sie mich gleich überfallen wollten. Sie waren jedoch sichtlich erstaunt, dass sich ein gut gekleideter Weißer in ihre Gegend wagte.
Ich traute mich nicht nach dem Weg zu fragen und fand, weil ich das New Yorker Straßensystem mittlerweile durchschaut hatte, selbst zur Berry Street Ecke South Third. Ich nahm den kürzesten Weg, was Eingeweihte in solchen Stadtteilen eben nicht unbedingt tun, und zwar genau weil sie sich dort gut auskennen. Zu jeder No Go Arrea gehörten nämlich noch die No No Go Bereiche, die aber meistens nur ein einzelnen Block oder sogar nur eine Block-Straße oder -Ecke ausmachten. Davon gab es in Williamsburg einige und einer davon genau da wo ich her spazierte. Aber das Glück ist bekanntlich mit den Anfängern.
Später lernte ich solche Ecken nicht nur in diesem Stadtteil zur riechen bevor ich sie passierte. Über die Monate und Jahre lernte ich alle sozialen und baulichen Symptome zu lesen, die die verschiedenen Abstufungen von Gefahr in dieser Stadt sichtbar machten, bevor man so weit drin steckte, dass es wirklich riskant wurde.
Heute kann man sich nicht nur durch Williamsburg ohne jede Angst bewegen. Ich habe diesen Wandel von der No Go zur Must Go Arrea vor allem in diesem Viertel über nun fast 25 Jahre hautnah mit bekommen, denn ich habe seit 1985 fast jedes Jahr für mindestens 2 Monate dort gelebt und werde im Folgenden berichten, wie in dieser Zeit aus dem verrotteten und gefährlichen Viertel, nur eine U-Bahnstation von Manhattan entfernt, ein heute so genanntes Kreativquartier wurde. Eines über das mittlerweile auch das weltweite Feuilleton und die Reisemagazine berichten, die allerdings sehr wenig darüber wissen, wie so ein Prozess in Wirklichkeit verläuft und was er für die Leute vor Ort bedeutet.
2. Gute Aussichten
Den Hauptgrund für die kommende Aufwertung von Williamsburg bekam ich im wahrsten Sinne zu sehen, nachdem ich von S. an der mehrfach verriegelten großen Stahltür des 8-stöckigen Fabrikgebäuds abgeholt, mit einem uralten klapperigen Lastenaufzug in das oberste Geschoss geholpert und dort durch eine weitere mit 3 Schlössern und einem inneren Querbalken verschlossen Eisentür in ein riesiges, rundum verglastes, Loft geführt wurde. Der unverstellte Blick auf Manhattan und die Williamsburgbridge.
Genauer gesagt auf drei Brücken, denn hinter der stadtteilbezogenen Wasserüberführung reihte sich noch die Manhatten- und die Brooklynbridge- in südlicher Blickrichtung auf. Noch überwältigender war jedoch der Besuch des direkt über dem Loft liegenden riesigen flachen Dachs mit dem typischen aufgeständerten Wasserbehälter. S. hatte sich die oberste Fabriketage mit einer Künstlerkollegin geteilt, wobei sie den kleineren Teil, dafür aber die eigentliche Wassersichtfront mit östlichem direktem Blick auf Manhattan bekommen hatte. Dafür hatte S. sage und schreibe 600 m² mit den drei anderen Blickseiten von den 2, die südliche und die nördliche , wenn auch seitlich, ebenfalls die Skyline im Visier hatten. Nach Westen konnte man weit über Brooklyn selbst schauen.
Auf dem Dach aber gab es die Totale und das übertraf alles was ich auf den Rooftops in Manhattan mit Ausnahme vom, damals noch existierenden, World Trade Center und vom Empire State Building gesehen hatte. Die Skyline war von außen gesehen nämlich mindesten so beeindruckend wie von innen. Von hier aus war sie einmal in der ganzen Länge zu betrachten. Von Downtown bis Midtown. Selbst die Queensboroughbridge, die wie der Name schon sagt, den gleichnamigen Borough mit Manhattan verbindet und ebenso mächtig und filigran wie die Williamsburgbridge ist, war von hier aus im ständigen Blickfeld.
Dieses Panorama war und ist der Grund für das, was die folgenden 25 Jahre mit ganz Williamsburg geschehen sollte: Die sogenannte Gentrification. Das gab es nämlich auch dann zu sehen, wenn man hier nicht so hoch wohnte und zwar am Wasser. Ebenso unverstellt, noch direkter und für alle. Die Williamsburg-Waterfront war aber zu diesem Zeitpunkt nur an wenigen Stellen zugänglich, denn die Blocks entlang des Eastriver waren immer noch gewerblich-industriell genutzt, wenn auch bei weitem nicht mehr so intensiv wie noch in den 60ger und 70ger Jahren. Aber die Deindustrialisierung New Yorks war zu diesem Zeitpunkt in vollem Gange und die gewerblichen Leerstände nahmen ständig zu.
So waren S. und seine Künstlerfreunde auch an ihre Lofts gekommen. In den ersten 5 Etagen ihrer Fabrik wurde jedoch noch körperlich schwer gearbeitet. Einer der vielen sogenannten Sweatshops auf Niedrigstlohnbasis die zu diesem Zeitpunkt noch in New York mit ihrer Verlagerung in die Entwicklungsländern konkurrieren konnten. Die Latinos der Umgebung fanden hier noch bezahlte Arbeit, mussten dafür jedoch Arbeitsbedingungen akzeptieren, die auch den New Yorker Behörden die Haare hätten zu Berge stehen lassen, wenn sie den vorbei gekommen wären. In solche Gegenden kamen die städtischen Ordnungskräfte aus gutem Grunde jedoch nicht so oft und die Arbeitslosigkeit in solchen Vierteln war so hoch, dass die, die dort noch Arbeit fanden, froh waren, dass sie überhaupt eine hatten.
Wenn man jedoch von dem Panoramablick auf dem Dach oder aus den riesigen fabrikmäßigen Fenstern eingefangen war, vergaß man das alles sehr schnell. Erst recht wenn man wusste, wie billig er war. S. zahlte für das ganze Loft nicht mehr als 600$, also etwas mehr als 1$ pro Quadratmeter. Und das eine U-bahn-Station von Manhattan entfernt. Er war genau deswegen aus Manhattan weggegangen. Dort konnte ein junger und noch nicht erfolgreicher Künstler selbst in der letzten Bruchbude im Keller die Miete nicht mehr bezahlen. Heute können es selbst die Erfolgreichen kaum noch.
Jetzt wird das auch in Williamsburg immer schwieriger. S. wurden vor ein paar Monaten mehrere 100.000$ von seinem Landlord geboten, wenn er nur endlich ausziehen würde. Der Umzug selbst würde ihm natürlich sowieso bezahlt. Seine Miete ist auch schon lange höher als zu Anfang. Aber durch die für amerikanische Verhältnisse immer noch recht mieterfreundliche Gesetzgebung des Staates und er Stadt New York, ist sie, dank eines kunstgesonnenen Rechtsanwaltes, den S. in Ermangelung von Bargeld immer nur mit Bildern entgolten hat, für ihn immer noch bezahlbar. Im Verhältnis zu den jetzigen Neuvermietungen sogar spottbillig. Was seinen Landlord natürlich in den Wahnsinn treibt.
Arbeitsplätze gibt es in der Fabrik überhaupt keine mehr. Dafür ein neuer Aufzug, der gesetzlich die Voraussetzung für die offizielle Wohnvermietbarkeit schafft und damit für enorme Mietsprünge bei Neuvermietungen.
Hintergrund ist ein lange Kampf der New Yorker Immobilienkamarilla zur Veränderung der Bodennutzungsregelung in Williamsburg, die am Wasser vor allem industrielle Nutzung vorsieht bzw. vorsah. Sie haben ihn am Ende gewonnen, mussten dabei aber ein paar Kompromiss mit der Bevölkerung schließen, die gerne noch gewerbliche Arbeitsplätze im Stadtteil behalten hätte. Nicht zuletzt weil die ihrer insgesamt eher niedrigen Ausbildung entsprachen.
3. Im Visier der Spekulanten
Die metropolitane Immobilienindustrie, New York nennt sich nicht umsonst „The Worldcapital of Real Estate“ , hatte zu dieser Zeit schon länger eine Blick in die „Outer Boroughs“ geworfen. Die Entdeckung der Urban-Waterfront war seit dem spektakulären städtebaulichen Projekt Battery-Park-City in vollem Gange, aber noch sehr stark auf die Wasserlinie um Manhattan fokussiert.
Die weitsichtigeren unter New Yorks Immobilienspekulanten, die örtlichen Banken eingeschlossen, hatten Williamsburg jedoch schon im Visier. Ebenso den heute so genannte DUMBO-Bezirk unterhalb der Manhattan-Bridge, der zu diesem Zeitpunkt ebenfalls hafenzugehöriges Gewerbegebiet mit riesigen Lagerhäusern war. Down Under the Manhattanbridge Overpath, wie DUMBO mit vollem Namen heute heißt, wurde jedoch aus einer (Immobilien)Hand entwickelt, während Williamsburg von mehreren Developern und lokalen Hauseigentümern/Spekulanten stufen- und straßenweise in den Griff genommen wurde.
Williamsburg war nämlich außerhalb seiner Waterfront noch zum großen Teil bewohnt und DUMBO war reines Gewerbegebiet mit damals schon größeren Leerständen. Umgewandelt musste die arbeitsbezogene Waterfront jedoch in beiden Fällen werden ehe damit richtig Geld verdient werden konnte, und zwar in ein Wohngebiet mit eben dem spektakulärem Blick auf Manhattan, der ich mich bei meinem ersten Besuch von S. so fasziniert hatte.
Sowas dauert auch im schnellen New York sehr sehr lange. Und in Williamsburg wuchs in der Zeit etwas heran, was die Developer zwar nicht geplant, was ihn aber letztlich die beabsichtigte Aufwertung erheblich erleichtert hat. S. und seine Freunde waren nur die erste Vorhut von etwas, das in nur wenigen Jahren zur regelrechten Invasion werden sollte. Die Übernahme der reichlich vorhandenen gewerblichen und wohnungsmäßigen Leerstände durch die heute so genannten „Kreativen“.
Williamsburg galt in der Stadt nicht nur als arm und gefährlich. Es war es auch. Wenn auch weniger als das nicht weit davon gelegenen Bushwick oder das gänzlich schwarze sogenannte BedStuy, ausgeschrieben Bedford Stuyvesant, das durch die späteren Filme bzw. „Joints“ von Spike Lee, dem ersten in Amerika und später auch in Europa berühmten schwarzen Regisseur, bekannt wurde. Er war zu der Zeit, als ich Brooklyn zum ersten Mal aufsuchte, knapp über 20 Jahre alt und hatte seinen ersten Independent Film gedreht: „She´s gotta have it“. Eine wundervolle Komödie über eine Afroamerkanerin aus Brooklyn die gleichzeitig mit 4, natürlich afroamerikanischen, Männern flirtete. Natürlich in schwarz weiß gedreht. Und Spike Lee war nicht nur Regisseur sondern auch einer der 4 schwarzen (Proto)Typen, die er nicht nur als Schauspieler sondern auch als Director witzig und selbstironisch persiflierte bzw. persiflieren ließ.
Nicht nur das schwarze New York lachte sich einen Ast, aber alle weißen New Yorker wussten natürlich, dass keiner von ihnen diesen Film hätte genauso drehen dürfen. Und Spike Lee wusste das natürlich auch. Am meisten schmunzeln musste natürlich alle, dass einer der Liebhaber aus Manhattan kam. Er war affektiert, selbstverliebt und obendrein kein guter Liebhaber, und diese Anspielung verstand natürlich auch ganz New York. Der ewige Zwist zwischen den (eingebildeten) Manhattanies und den (ehrlich-offenen) Brooklynites, den ich erst später so richtig durchschaute.
Jahre danach lernte ich nämlich beim Tango im Central Park ein wunderbares und eingefleischtes Manhattangirl kennen. Es oder besser sie ist mir bis heute eine sehr gut Freundin , war aber erst vor einem Jahr bereit, mit mir nicht in Manhattan sondern in Brooklyn essen zu gehen, weil man das, außer bei Peter Lugers, dort genauso wenig könnte wie wohnen. Peter Lugers galt auch schon zur Zeit meines ersten Williamsburgvisite als das beste Steakhouse von ganz New York.
Man musste sich mindestens eine Woche vorher dort einen Tisch buchen. Die Limousinen standen in Reihe vor der Tür und die Security. Denn das wunderschöne alte Brownstongebäude, in dem der deutsche Einwanderer Peter Luger Ende des 18. Jahrhunderts sein Restaurant eröffnete, stand zwar nicht weit von Manhattan, genauer gesagt am Brooklynfuß der Williamsburg Bridge. Aber eben der Williamsburg- und nicht der gar nicht weit davon entfernt gelegenen Brooklyn Bridge.
Da stand und steht heute das weltberühmte River-Cafe direkt am Wasser und man konnte dort, und kann natürlich auch heute noch, an warmen Sommerabenden unbeschwert draußen herumlaufen, um die Skyline von Downtown Manhattan in der Abendsonne erglühen zu sehen. Wenn man aus Peter Lugers raus kam, wollte man dagegen ganz schnell in die mitgebrachte Limo mit Fahrer oder in das nächste Taxi. Da es aber in der Gegend aus verständlichen Gründen nicht viele gab, hatten die Manager von Peter Lugers selber welche angeheuert, die immer abfahrbereit zur Verfügung standen.
Heute würde einem das kaum einer mehr glauben, denn die Williamsburg Waterfront ist mittlerweile genauso so sicher wie die Wasserterasse des River Cafes. Und viel größer. Damals allerdings standen dort bedrohlich leere und herunter gekommen Lagerhäuser, die riesige und noch aktive Domino-Sugar-Raffinerie und einige der zentralen Müllverarbeitungs- und Weitertransportstationen der Stadt New York. Alles was die Manhattanies halt nicht mehr so haben wollten. Und genau so sahen das auch die noch verbliebenen Einwohner von Williamsburg.
Anders die Künstler und Studenten in Manhattan. Sie waren auf Grund ihres in der Regel knappen Budgets dort immer mehr unter Druck geraten. Soho war schon komplett gentrifiziert bzw. zum high-class-shopping-quartier mutiert. Die Lower Eastside und das East Village standen kurz davor, bzw. war die Sache rund um den Tomskin Square schon wohnungsmäßig in vollem Gange. Den ebenso herunter gekommenen und drogenverseuchten Unionsquare versuchten die Stadtväter durch eine Dependance der New York University zurück zu erobern und hatten damit in den kommenden Jahren auch zunehmend Erfolg.
In der Welthauptstadt der Immobilienspekulation hatte das jedoch eine unausweichliche Folge: kontinuierliche bis exponentielle Mietpreissteigerungen. In dieser Zeit schrieb eine Studentenzeitschrift, ich glaube sogar die der Columbia Universität, dass Williamsburg eigentlich gar nicht so unsicher sei wie behauptet würde und nur eine Station von Manhattan entfernt läge. Was eindeutig stimmte. Und vor allem insgesamt nur 4 U-bahnstationen vom Union Square, an dem die neue Filiale der NYU entstand. Mit einem mal war damit eine U-Bahnlinie ins Bewusstsein der Stadt gerückt, die bislang – mit Ausnahme der Brooklynites die sie regelmäßig benutzen mussten – kaum jemand kannte: Die L-Linie.
Sie läuft im wahrsten Sinne des Wortes quer durch Manhattan um dann unter dem Wasser nach Brooklyn vor zu stoßen. Über Williamsburg und Bushwick geht sie dann über die Broadway-Junction tief in ein Stadtgebiet, das man in Manhattan nur vom Hörensagen kannte. Das heute sogenannte L-Country. In dem kurzen Stück innerhalb Manhattans heißt sie auch die 14Th Street Line, weil sie von der 8Th Avenue komplett und genau unterhalb dieser Verkehrsader verläuft.
Dadurch hat sie verkehrstechnisch einen für ihre Nutzer überzeugenden Vorteil: Sie quert nicht nur alle wichtigen Subwaylinien Manhattans, sondern sie erlaubt dank ihrer Bahnhöfe auch den schnellen Umstieg in jede von ihnen. Selbst zur Columbia Universität in Harlem ging es dadurch, dank des Express-Local-Systems von Brooklyn aus vergleichsweise schnell. Aber nur wenn man in Williamsburg, also genau auf der anderen Seite des Eastriver, eine Studentenbude hatte. Möglichst nah am ersten L-Haltepunkt hinter dem Fluss. Der hieß damals wie heute Bedford Avenue und um ihn herum ist mittlerweile das äußerst quirlige, hippe und mittlerweile auch teure Zentrum des neuen Williamsburg entstanden. Als ich die Bedford Avenue zum ersten Mal in meinem Leben entlang lief, und sie ist verdammt lang, war sie das genau Gegenteil.
4. Von den Szenepionieren zu den „Szenebuildern“
An der Bedford gab es mit der Ausnahme von zwei kleinen öden Bierkaschemmen keine Kneipe weit und breit. Vom christlich-polnischen Greepoint bis zum jüdisch orthodoxen Viertel südlich der Williamsburg Bridge gab es außer Peter Lugers nur eine einzige ernst zu nehmende Bar: das Teddys.
Aber diese heute noch existierende Kneipe liegt nicht an der Bedford Avenue sondern an der in gleicher Richtung laufenden Berry Street. An der Bedford gab es einen polnischen Metzger und einen italienischen Bäcker nahe der North 7th. Nicht weit davon eine noch heute von einheimischen Latinos betrieben Pizzeria und insgesamt zwei sogenannte Stehchinesen bei denen man auf ein paar abgewetzten Stühlen vor uralten resopalbeschichteten Tischen auch sitzen konnte.
Das eigentliche „Einkaufszentrum“ von Williamsburg lag damals entlang des Broadway unterhalb der darüber aufgeständerten und schon erwähnte JMZ –Linie. Genau auf der Grenze zwischen dem jüdischen und lateinamerikanischen Williamsburg. Ein kulturelle Demarkationslinie die drastischer nicht ausfallen konnte, denn es gibt nichts Kontradiktorischeres als der Unterschied zwischen dem Outfit einer lebenslustigen Latina und einer strenggläubigen Jüdin.
Die immer schwarz und mit Käppi und/oder Hut gekleideten jüdischen Männer mit ihre langen gekräuselten Schläfenlocken, den Bärten und den breitkrempigen Hüten vielen ebenfalls schon auf 100 Meter Entfernung zwischen den meistens wesentlich kleineren in der Regel mit Basecap behüteten männlichen Latinos auf. Die damals wie ein Fort bewachte und gesicherte örtliche Poststelle lag und liegt heute noch, wenn auch nicht weit vom Broadway entfernt, auf Latinogebiet.
Ansonsten gab es fast an jeder Straßenecke die üblichen kleinen vollgepackten, überteuerten und durch jede Menge Stahl gesicherten „Marcetas/Markets“ für die Nahversorgung. Sie wurden in der Regel von Latinos betrieben, die zwischen dem polnischen und dem jüdisch-orthodoxen Williamsburg entlang der Bedford Ave die Mehrheit der Bewohner stellten. Dazwischen haben sich in den letzten 2 Jahrzehnten kontinuierlich die mehrheitlich weißen Neubewohner geschoben und dabei vor allem die Polen und die Latinos verdrängt, bzw. deren angestammten Wohngebiete dezimiert.
Zu Anfang die Künstler und Studenten, später immer mehr gutverdienende Yuppies und junge wohlhabende Familien. Bevor jedoch die Letzteren in Williamsburg das Straßenbild bestimmten, musste erst der berühmt berüchtigte Sicherheitsfaktor erhöht werden. Auch als aus den ersten Pionieren eine kleine Community geworden war, waren Straßenüberfälle und andere gewalttätige Auseinandersetzungen in L-City nämlich nichts Ungewöhnliches. Sie hatten sogar manchmal eine geradezu absurde Note, wenn man nicht selbst betroffen war.
Ich hatte mittlerweile zusammen mit der Universität Aachen und der Columbia-Universität ein großes Studentenprojekt vorbereitet, dessen Kern ein 3monatiger Entwurfsworkshop im Loft von S. war. Mit insgesamt 120 Studenten. Die waren jedoch nicht alle gleichzeitig da, sondern reisten jeweils in 10-20ger Gruppen an, um dann 2 Wochen intensiv vor Ort zu arbeiten und zu recherchieren. Eine der anstrengendsten Zeiten meines ganzen Lebens, denn ich war der einzige fachliche und soziale Betreuer dieser jungintellektuellen Rasselbande.
Insgesamt hatten wir in dieser Zeit drei Überfälle, 2 Diebstähle und die völlige Zerstörung eines Leihwagens zu verzeichnen. Die Überfälle fanden in den drei damals klassischen Formaten statt: Messer, Baseballschläger und Pistolen. Alle glücklicherweise ohne jeden Personenschaden, denn alle StudentInnen waren von mir und S. direkt nach ihrer Ankunft ausführlich in „Streetsmartness“ unterrichtet worden. Und natürlich ohne das einer der Täter je von der Polizei gestellt wurde.
Eines Abends schlugen wir uns mal wieder zu Teddys durch. Wir waren guter Laune bis von Hinten jemand „Attention“ brüllte. Wir sprangen sofort auseinander und zwischen uns durch raste ein junger Schwarzer mit irgendetwas, um das er fest seine rechte Hand klammerte. 10 Meter vor uns drehte er im vollen Lauf noch mal kurz den Kopf und rief „Sorry“. Ehe wir aus dem Staunen heraus kamen rannte schwer atmend ein älterer Latino mitten zwischen uns durch. In einer Hand ein längeres Messer und offensichtlich der Verfolger des flinkeren Afroamerikaners. Und auch er drehte nach einigen Metern noch mal kurz seinen fast kahlen Schädel zu uns und brachte, wenn auch nicht so glasklar wie sein Vorläufer, ein deutlich hörbares „Sorry“ heraus.
Das war genau das, was Prince viel später in seinem wundervollen Song „Style“ präziser besungen hat. „ I got no job, but I got style“. Man könnte die beiden Protagonisten dieser Geschichte aber auch im wahrsten Sinne des Wortes als Vorläufer der Street Art bezeichnen, von der die spätere Künstler-Community Williamsburg behauptet, dass sie sie erfunden habe. Mit Sicherheit kann ich jedoch sagen, dass sie im Straßenraum Williamsburgs mindestens 10 Jahre eher ästhetische präsent war, als in Berlin. Zu der Zeit allerdings gab es noch keinen der in den üblichen Gazetten über Williamsburg schreiben wollte. Das etablierte Feuilleton hat es halt auch gerne etwas sicherer, ehe es auf Entdeckungsreise geht.
Für eben diese Sicherheit sorgte dann die Künstler- und Studenten-Community von Williamsburg selbst. Zusammen mit den angestammten Bewohnern, die die Zuzüglinge erst einmal sehr skeptisch beobachteten. Über die Jahre stellte sie jedoch fest, dass die Neuen auch Vorteile brachten. Der wichtigste war ihre Anwesenheit selbst. Und zwar auf den Straßen und das auch am Abend. Denn Künstler und Studenten gehen halt gerne aus. Und wenn es nichts in der Nähe zum Ausgehen gibt und die Restos in Manhattan viel zu teuer sind, dann machen die sich schon mal selbst ihre Kneipen auf. Dann sind auch im Dunkeln mehr Menschen auf der Straße und das macht die Straßen sicherer und die Überfälle weniger.
Erst recht wenn man dabei mit der Polizei zusammenarbeitet, bzw. diese sofort informiert, wenn was passiert, oder aber sie immer wieder drängt, endlich was zu unternehmen. Oder aber, wenn man sich einen bedrohlich aussehenden Hund kauft, der einen Nachts begleitet, wie es vor allem viele der weiblichen, heute so genannten Kreativen, in Williamsburg zu dieser Zeit getan haben. Wenn man dann das preiswert gemietete und selbst renovierte Fabrikloft auch, noch preiswerter, an die etwas Mutigeren unter den Touristen untervermietet, kommen noch mehr Leute ins Viertel, füllen die selbst eröffneten Kneipen und die Straßen die zu ihnen führen weiter auf.
Die Polizei fühlt sich ab da in einem solchen Stadtteil auch (wieder) wohler, weil sie sich von der Bewohnerschaft beim Kampf gegen das Verbrechen unterstützt fühlt. Sie kommt häufiger, was wiederum die Straßensicherheit erhöht und das lockt wiederum neue Leute in den Stadtteil, die sich bislang nicht getraut haben, und das wiederum vermehrt das Straßenleben und die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum. So geht allmählich die Zeit der Pioniere in die Zeit der sogenannten Scenebuilder über.
5. Nachbarschaftsgärten und Hausbesetzer
Schießereien, im Williamsburg sowie schon weniger als zum Beispiel in Bed Stuy, in der South Bronx oder in Central Brooklyn, wurden nach dem Zuzug der mutigen jungen und meistens engagierten Leute im Williamsburg zur absoluten Seltenheit. Es gab weiterhin die No-No-Go Arreas, aber die Stadtteilbereiche außerhalb dieser besonderen Risikozonen wurden immer sicherer. Die Hot-Zones wurden sozusagen eingehegt und ansonsten systematisch weiter gemieden. Die leeren Häuser wurden entweder ganz abgerissen oder renoviert und neu bewohnt. Da, wo nur leere Brachen überblieben wurden Nachbarschaftsgärten angelegt und/oder Selfmade-Autoreparaturen und Ersatzteillager errichtet.
Die Stadtverwaltung mischte sich ebenfalls positiv in diesen Verbesserungstrend ein, in dem sie Grundstücke die ihnen gehörten, dafür auch offiziell frei gab. Die örtlichen Kirchen unterstützen sogenannte Hausbesetzer mit Baumaterial und Expertenwissen. Die Kreativen-Community passte in dieses Selbsthilfe-Konzept bestens hinein, denn sie verdrängte zu diesem Zeitpunkt niemanden und war sogar Vorbild für die nun sich immer stärker entwickelnde Eigeninitiative der Bewohner.
Den eigentlichen künstlerischen Aktivitäten stand die lokale Mehrheitsgesellschaft jedoch eher skeptisch bis gleichgültig gegenüber. Auch den Szenekneipen und Galerien die mit der Phase der Szenebilder in den Stadtteil kamen. Aber auch die besetzen Leerstände und belebten damit das Viertel weiter. Im Gegensatz zu den Galerien und Künstlerstudios/Lofts waren die neuen Restaurants auch für die Polen und Latinos interessant. Zumindest für die, die sie bezahlen konnte, was nicht so schwierig war, weil die Preise sich dort auch für sie als erschwinglich herausstellten.
Obendrein nahm die Arbeitslosigkeit in Williamsburg langsam aber sicher ab, weil die ganze Stadt, ja die gesamte USA wieder Jobs für die Unterschicht anzubieten hatte. Es kamen die golden Jahre der Gentrification, denn alle im Stadtteil hatten was davon. Die Zugezogenen und die, die es in der Krise dort aus- und durchgehalten hatten. Der Stadtteil wurde immer sicherer, immer interessanter und vor allem ordentlicher. Der Müll auf den Straßen verschwand vollständig, es gab keine hohlen Fenster und Türlöcher mehr, und da wo es sie noch gab, da waren auf einmal ordentliche Zäune drum herum oder sogar Baugerüste die auf baldige Renovierung hinwiesen.
Die älteren Bewohner saßen wieder, wie früher, bei angenehmem Wetter auf der Treppe vor dem Haus. Auch nach dem es dunkel geworden war. Die jungen Leute saßen vor ihren immer noch etwas schmuddelig aussehenden ehemaligen Lagerhäusern und Fabriken, oder auf deren Dächern und schwätzen bis tief in die Nacht. Die Straßen der Latinos waren in den warmen Sommernächten wieder voller Salsa Musik zu der gerne auch auf der Straße getanzt wurde. Es gab sogar wieder eine kleine Stadtteilsalsoteca in der man fantastische Bands hören konnte. Beim Zuhören und dazu tanzen blieben die Latinos aber unter sich. Wie in ihren öffentlich und/oder kirchlich geförderten Kultur- und Sozialklubs.
Aber auch die jungen mehrheitlich weißen Zuwanderer brachten zunehmend ihre eigene Musik mit. Die ersten House-und Punk-Clubs entstanden aus privaten Roof- und Loftparties. Später kam Jazz und Rock dazu. Es war zunehmend, so sagten mir die Eingeweihten, wie in den Siebzigern in der Lower East Side in Manhattan. Damals war es da auch noch billig und sehr bunt. Als wäre das Eastvillage über das Wasser nach Brooklyn gesprungen. Es war auch das gleiche Aufbruchsgefühl. Nur dass die Leute jetzt viel jünger waren. Das konnte man zunehmend auch auf den Straßen von Williamsburg sehen.
Jugend und Aufbruch gingen in Williamsburg Hand in Hand. Die, die dazu kamen, waren immer noch jünger, als die, die schon ein paar Jahre an diesem Ort auf dem Buckel hatten. Und damit kam auch der neue Style. Das was später als LoFiBo-Mode in die Welt ging, wurde in Williamsburg, so sagen zumindest die Lokalpatrioten, geboren, und die Bedford Avenue wurde von der immer belebter werdenen „Hauptstraße“ zugleich auch zur dazu gehörigen Flaniermeile.
Der Ursprung der Low-Finance-Bohemien Coture war ein riesiges Lagerhaus an der Kent Street in dem man kiloweise Second-Hand-Klamotten kaufen konnte. Zu einem Spottpreis, was vor allem meine weiblichen Studenten, nach dem sie diesen Schuppen entdeckt hatten, dazu brachte, regelmäßig mit dem doppelten Gepäck nach Hause zu fahren, bzw. zu fliegen. Da war dieser Laden noch ein absoluter Geheimtipp. Die neuartige, ungewohnt bis abgefahrene Zusammenstellung alter Kleidungsstücke wurde zu einem eigenen ganz individuellen Street-Style, garniert mit Kuriositäten aus der Welt der Kurz- und Schmuckwaren der preiswerten Machart, Jahre später zu einer Art öffentlichem Wettbewerb auf W-Burgs Sidewalks.
Die Gründung eigener klitzekleiner Modelabels war danach fast unvermeidlich und die billigen Räumlichkeiten gab es ja immer noch. Zu den Kneipen, Restaurants und Clubs gesellten sich nun auch die ersten Boutiquen und Minischneidereien. Und die erste Stadtteilzeitung die darüber berichtete. Mittlerweile sind es deren 3 oder 4. Eine davon schon seit vielen Jahren nur mit hoch literarischen Texten. Alle Zeitungen sind umsonst, sprich durch Anzeigen finanziert.
Die erste Buchhandlung kam weit vorher. Zuerst auch nur mit gebrauchten Kunstbüchern. Danach dehnte sie sich Stück für Stück aus und man konnte dort auch neue Bücher bestellen. Um eine wirklich große Auswahl von Geschriebenem und/oder Bebilderten zu bekommen, musste man aber nachwievor rüber nach Manhattan. Auch die Künstlerhardware ist dort bis heute unübertroffen konzentriert. Galerien gibt es jedoch in Williamsburg mittlerweile so viele, dass es mindesten einen Tag braucht nur um sie alle gesehen zu haben.
Verglichen mit Manhattan ist das allerdings immer noch absolut lächerlich. Dort gibt es allein im Stadteil Chelsea 600! davon. Im W-Burg gibt es um die 70! Wobei die Schallmauer 100 in naher Zukunft erreichbar erscheint. Deswegen haben sich die Galerien schon seit längerem auch zu einer eigenen unabhängigen Selbstförderungsorganisation zusammen geschlossen. Aber das geschah erst als die Zeit der Scene-Builder dem Ende zu ging und die Phase der Scene-Seeker begann.
Scenebuilding ist zu einem großen Teil Unternehmensgründung und Professionalisierung. Aus Hobbys und Selbstausbeutung, aus Leidenschaft und Wahnsinn werden richtige Jobs die ihre Inhaber auf Dauer ernähren. Mit vielen Flops aber auch mit zunehmenden Erfolgen. Dazu braucht es aber auch Kunden und Abnehmer und vor allem Produkte die es woanders in der Stadt nicht gibt. Das ist in einer Stadt wie New York nicht so einfach. Dazu braucht es die kritische Masse in der Vielfalt und der Menge der Angebote, die sogenannte Take-Off-Geschwindigkeit in der Entwicklungsdynamik.
Das hängt eng mit dem Sceneseeking zusammen, weil die Kunden aus der eigenen kreativen Community und der sonstigen Nahbereichsbevölkerung nicht ausreichen, um den eigenen Laden auf Dauer ökonomisch tragfähig zu machen. Die Kunden und Besucher aus der Rest-Stadt und darüber hinaus müssen her, die Sceneseekers eben. Die, die genau solche Szeneviertel mögen und gerne dort konsumieren, zumindest aber sich regelmäßig und gerne dort aufhalten. Es galt also die restlichen Brooklinites, vor allem aber die Manhattanies zu „erobern“, bzw. anzulocken.
6. Sehen und gesehen werden
Der Manhattaner Kunstszene, zumindest aber einigen der dortigen Galeristen, war Williamsburg als Künstlerstandort schon sehr früh bekannt. Mein Freund S. hatte es z-B. in die Broadway-Galerie O.K Harris geschafft. Aber die dort Verantwortlichen kamen nie zu ihm, sondern er besuchte sie regelmäßig in Manhattan. Nur dann, wenn es wirklich etwas Neues in seinem Loft anzuschauen gab, kamen Leute aus Manhattan zu ihm.
Ein regeren personellen und informationellen Austausch gab es zwischen Manhattan und Williamsburg erst, als es dort auch Galerien gab, die sich einen, wenn auch kleinen, Rang und Namen am Kunstmarkt erobert hatten. Das gelang ihnen, in dem sie mutiger und innovativer in ihrer Künstler- respektive Kunstauswahl waren und sich eigene Vertriebswege aufbauten. Das Künstlerpotential war dagegen vor der Haustür und es nahm von Jahr zu Jahr zu.
Bis die etablierten Kunstzeitschriften endlich einen Artikel über W-Burg schrieben, bzw. schreiben ließen, vergingen fast 10 Jahre. Aufs Titelblatt schaffte es „Young and Wild W-Burg“ erst Anfang des neuen Jahrtausends. Danach erst begann der Stadtteil wirklich zu brummen. Vorher hatte jedoch schon die New Yorker und vor allem die Manhattan-Clubszene den Stadtteil entdeckt. Ungefähr zeitgleich mit der Gastroszene die sich nicht nur hier einander überlappen.
Auch hier waren es vor allem die jungen Leute, die die Angst vorm imagemäßig immer noch als unsicher geltenden W-Burg auf der anderen Seite des Ost-Flusses verloren. An den Wochenenden schaute man dann doch mal rüber und später auch unter der Woche und musste entdecken, dass sie Gegend ziemlich cool war. Die Gesetze von Sehen und Gesehen werden brachen sich Bahn und je mehr Leute als Besucher hingingen desto mehr kamen neue Besucher hinzu.
W-Burg wurde Kult, bekam den nickname Willi-Burg und nun hatten auch weitere Boutiquen und Restaurants ihre Überlebenschance. Natürlich mussten sie noch hipper sein als die, die schon da waren. Ein richtiggehender Innenarchitektur Wettbewerb begann parallel mit der zunehmenden Mode- und Outfitkonkurrenz der Besucher und der kreativen Community auf der Straße. Die Gebäude und der städtebauliche Gesamteindruck war dagegen, im Verhältnis zu Manhattan nachwievor bescheiden.
Williamsburg war stadtästhetisch immer noch ein hässliches Entlein, dass man nur auf den zweiten Blick schön finden konnte. Aber die Immobilienentwickler saßen diesbezüglich schon in der Warteschleife. Sie hatten zwar schon reichlich Grundstücke und Häuser gekauft, aber die Kunden die sie nach der Generalsanierung und den damit erheblich höheren Mieten beziehen sollten, fehlten noch. Die Besuche des Stadtteils nahmen zwar zu, auch die zuwandernden Künstler, aber nicht die kaufkräftige weil gut verdienende obere Mittelschicht, und schon gar nicht die ökonomische Elite der Stadt.
Die für diese Gruppe so attraktive Waterfront war immer noch nicht in Wohngebiet umgewandelt, denn gerade die auch zahlenmäßig stark gewordene Künstlercommunity wehrte sich in den diesbezüglichen öffentlichen Anhörungen besonders heftig, und die restlichen Bewohner fühlten sich dadurch aufgefordert es ihnen gleich zu tun. Weniger die Hausbesitzer als die Mieter unter ihnen natürlich. Und zunehmend auch die Stadtteilpolitiker, denn die wurden nun mal gewählt und dazu brauchten sie Mehrheiten, und das waren die Mieter und nicht die Landlords von W-Burg.
Die wenigsten Künstler und Galeristen hatten es in der Zwischenzeit zu Hauseigentum gebracht, was für sie natürlich in Anbetracht dessen, was sehr bals auf den Stadtteil zukommen sollte, das Beste gewesen wäre. Bei den zunehmend professionell geführten Restaurants, Clubs und Boutiquen war das jedoch anders. Hier hatten die Betreiber und ihre Berater sehr schnell erkannt, dass es gut ist, nicht nur den Betrieb sondern auch seine bauliche Hülle zu besitzen. Es gab also schon in der goldenen Ära der Gentrification mehr oder eben auch weniger Erfolgreiche unter den Kreativen. Aber sie saßen fast alle noch im gemeinsamen Boot und hatten ein gemeinsames Ziel: die Großspekulanten aus Manhattan von ihrem W-Burg möglichste fern halten.
Das große politische Streitobjekt war dabei natürlich die immer noch für Industrie und Gewerbe vorgesehene Uferzone und vor allem eine kleine grüne Brache zwischen den dort noch bebauten respektive gewerblich genutzten Flächen. Sie war auf Drängen einer mittlerweile gegründeten Bürgerintiative und den Lokalpolitikern von der Stadt New York übernommen worden. In dem mittlerweile auch in ersten Blueprints deutlich gewordenen Traum der Immobilienspekulanten war dagegen auch diese Fläche in eine Reihe von Hochhausbauflächen einverleibt worden, die die zukünftige Waterfront südlich und nördlich der Williamsburg Bridge vor allem vertikal gestalten sollten.
Williamsburg waren solche Highriser bislang aber völlig fremd. Nur einzelne Lagerhäuser und Fabriken waren hier bisher höher als 4 Geschosse, und genau das machte auch den besonderen Village-Charme dieses Viertels aus. Sowohl für die Besucher als auch für die Bewohner. Niemand wollte also die Hochhäuser, die zwar einen fantastischen Blick auf Manhattan, aber dafür keine Fernsicht mehr für den Rest der W-Burger booten. Vor allem aber keine grüne Lunge mehr mit Blick auf Manhattan für alle. Es gab noch einen kleinen weiteren Uferpark, aber der reichte natürlich bei weitem nicht für die in der Zwischenzeit viel zahlreicher gewordenen Bewohner aus.
Der grüne Stadtteil-Park der noch gar keiner war, wurde also zum Identifikationsobjekt und zu einer alternativen Vision für die Zukunft der Waterfront, denn an die Ansiedlung neuer hafenbedürftige Industrien glaubten auch, bis auf die Gewerkschaften, die meisten Alt- und Neubürger des Stadtteils nicht mehr. Er war jedoch, obwohl in öffentlicher Hand, immer noch eingezäunt und nur die immer wieder und eigenhändige und nächtlicherseits vorgenommene systematisch Durchtrennung des Maschendrahtes erlaubte es, durch Gestrüpp und Betonreste der ehemaligen Piers ans Wasser zu kommen.
Dort saßen dann alle friedlich beieinander. Jung und Alt, schräg oder normal, Künstler, Bohemiens und „einfaches“ Volk auf selbst gemachten Liegen und Sitzgelegenheiten und verbrachten, redend, schweigend, lesend und angelnd den Abend und häufig auch die Nacht. Die städtischen Ordnungskräfte gaben es nach einiger Zeit auf, den Zaun immer wieder zu reparieren. Es fanden die ersten Land-Art Aktionen statt, es wurden feste Sitzplätze in Eigenregie gebaut.
Es war eine wunderbar friedliche Insel und der Blick von dort auf die Skyline faszinierte auch mich über viele Jahre bis heute, denn nur der Park konnte gegen die Spekulanten durchgesetzt werden und ist mittlerweile schlicht und doch schön gestaltet, der Treffpunkt aller geblieben. Nur dass es nicht mehr dieselben sind, wie vorher.
Ich wohnte bis vor kurzem mindestens den ganzen Mai und September ganz in der Nähe dieses grünen Treffpunktes. Genauer gesagt nur 100 Meter entfernt in einem Loft in einer umgebauten Lastwagengarage.
7. Vom Lagerhaus zum Loft
Lastwagengaragen bzw. deren Reparaturwerkstätten gab es in Williamsburg zu Hauf. Die Güter auf den Schiffen an den ehemals florierenden Piers des Industrie- und Arbeiterstadtteils Williamsburg, von denen nur noch der an der Raffinerie in Funktion stand, wurden meistens direkt in die Lastwagen umgeladen und dann zu den naheliegenden Fabriken und Lagerhäusern oder sonst wo in die Stadt gebracht. Mit dem niedergehenden Hafen standen dann neben den Lager-, Ver- und Bearbeitungsstätten auch die Transportergaragen zunehmend leer.
Sie wurden von den kreativen Stadtteilzuwanderern mit viel Fantasie nicht nur zu Musikclubs und Restaurants sondern auch zu Lofts um- und ausgebaut. Ihre Höhe und ihre Fläche war dazu perfekt geeignet. Die Baubehörden drückten beide Augen zu bzw. wurden sie gar nicht erst informiert. Erst wenn man erwischt wurde, wurde nachinvestiert und nachgearbeitet. Vor allem was feuer- und hygienerechtliche Bedingungen betraf. Sanitärtechnisch waren die meisten Lofts zu Anfang auf einem sehr niedrigen Niveau ausgestattet.
Die Landlords waren erst einmal nur an der Miete bzw. überhaupt an Einnahmen interessiert, denn die Buden standen vor der Umnutzung oft viele Jahre leer. Sie spielten das Versteckspiel mit und so konnte so ein Umbau viele Jahre ohne große behördliche Kontrolle existieren. Ich hatte die ersten Jahre viele Monate an der Berry Street bei S. verbracht und haben dann Leute kennengelernt, die Lofts monatsweise vermietet haben. In einer dieser umgebauten Garagen, was weniger Blick bzw. mehr Ober- statt Seitenlicht bedeutete, denn die Garagen standen oft mit anderen Gebäuden Seite an Seite in einer Straßenflucht.
Aber da ich sehr viele Zeit außerhalb des Lofts verbrachte war das relativ egal. Erst recht weil es auch eine wunderbare Dachterrasse für alle Mieter gab. Dort trafen sich alle „Lofties“ am Abend. Die meisten waren Künstler, viel davon aus Europa und später auch aus Asien und Lateinamerika. Die Umgangssprache war natürlich englisch bzw. amerikanisch. Manchmal aber auch Deutsch, den zunehmend hatte es sich auch in meinem Heimatland in einer kleinen Szene rumgesprochen, dass es in Williamsburg komplette Lofts auf Zeit und zu einem fairen Preis zu mieten gab.
Die weiteren Treffpunkte waren die Kneipen an und um die Bedford Ave und natürlich unser wilder Stadtpark am Wasser. Kocheinrichtungen gab es die ersten Jahre in den Lofts nur behelfsmäßig, so das man oft zum Essen ausging, was zu diesem Zeitpunkt in der Nachbarschaft sehr günstig war. Es gab zunehmend Auswahl bis man alles an internationaler Küche ein paar Straßen entfernt rauf und runter essen konnte. Und immer noch viel billiger als in Manhattan.
Dort bin ich nur noch zu Mahlzeiten gegangen, wenn ich dort auch unterwegs war und natürlich wegen meiner Freundin J. die sich schlicht weigerte außerhalb von Manhattan Nahrung zu sich zu nehmen. Da die Tangoszene und ihre Lokalitäten sich ebenfalls in Manhattan konzentrierte, und natürlich die Shoopingmöglichkeiten dort insgesamt tausend Mal größer waren, war ich gleichzeitig Brooklinite und Manhattanie. Ich kannte allerdings nach einiger Zeit auch die anderen Stadteile wie meine Westentasche, denn ich fuhr von Anfang an in dieser Stadt leidenschaftlich gerne Fahrrad. Aber das ist eine andere Geschichte.
Viele meiner sporadischen Mitmieter in unserem Loftkomplex hatten, wie die meisten der dauerhaften Zuzügler, diesen Stadtteil ja ausgewählt, weil er so nahe an Manhattan lag und trotzdem zunehmend ein Eigenleben entwickelte. Viele der Künstler arbeiteten in Ermangelung ihres Erfolges in einem ganz normalen Job in Manhattan. Meistens als Hilfskräfte, manche aber auch in einem qualifizierten Job. Eine beliebte Tätigkeit war für das schnelle Zwischedurchverdienen das „Artmoving“.
Die vielen Galerien und Museen in Manhattan setzen mit Vorliebe Künstler als Schlepper- und Transporteure von Kunstwerken ein, weil sie davon ausgingen, dass diese sozusagen naturgemäß vorsichtiger mit dem umgingen was sie zu tragen oder sonstwie zu bewegen hatten. Es gab sogar eine Agentur, die in Williamsburg die schnelle Verbindung zwischen den dortigen Künstlern und den Auftraggebern in Manhattan organsierte. Handys waren zu dieser Zeit noch nicht sehr verbreitet bzw. für die meisten Künstler zu teuer. Festnetz , Kneipe, Straße und Park waren die vorrangigen Kommunikationsmedien respektive Orte.
Roofpartys waren bei entsprechendem Wetter die fünfte große Interaktionsform. Die Szene lud sich dort gegenseitig ein, es gab zunehmenden Unterszenen und immer neue Clubs- und Restos als Treffpunkt, aber alles immer nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Bis später auch die Galerien zu beliebten Meetingpoints wurden. Und danach die ersten gemeinsamen Art- und Musikfestivals die Stadtteilszene gemeinsam organisierte. Alles erfahren konnte man in den Szenezeitungen die zu Anfang monatlich, dann aber wöchentlich erschienen und fast an jedem Treffpunkt auch auslagen. Aber mittlerweile auch, was die größeren Events betraf, in „Time Out“ und „Village Voice“, den angesagten Programm- und Szenemagazinen Manhattans. Heute ist natürlich das Internet hinzu gekommen.
An den Wochenenden kamen dann zunehmend so viele Besucher aus der restlichen Stadt und aus Manhattan dazu, dass sich spezielle In-Kneipen ausbildeten, wo die Szene unter sich bleiben wollte und konnte. Entweder gab es einen bestimmten Dresscode und andere äußere Zeichen oder sie lagen weiter von der Bedford weg als üblich. Oder man traf sich wieder wie früher in den Lofts selbst und feierte dort.
Die erfolgreichen Kreativen hatten meistens auch die Größten und deswegen am besten zum Feiern geeigneten. Die Unterschiede innerhalb des Loft-Lifestyles nahmen, was Ausstattung, Ausdehnung und Lage betraf damit auch zu. Der eigene und dauerhafte spektakuläre Blick auf Manhattan war jetzt auch innerhalb der Szene das äußere Zeichen des Erfolgs. Damit nahm unweigerlich auch die Wohnkonkurrenz innerhalb der Szene zu.
Es gab jetzt, wo der Stadtteil hip wurde, das Loft nicht nur als besonderen Arbeitsort sondern auch als neues Statussymbol, vor allem wenn man noch erfolgreichere Kreative aus dem nach wie vor unerreichbaren Manhattan beeindrucken wollte. Die Landlords wussten das natürlich und die Kauf- und Mietpreise für diese Räume stiegen an. Entsprechend entstanden die ersten nur auf Williamsburg fokussierten Immobilienbüros. Natürlich an der Bedford und Umgebung. Zu Anfang kleine Butzen im Souterrain, dann immer protzigere Läden mit einer großen mit vielen Angeboten bestückten Fensterfront.
Die Leute die meine Loft umgebaut und vermietet hatten, waren so klug gewesen für den ganzen Komplex von vorne herein einen langfristigen Vertrag abzuschließen. Die, die das nicht getan hatten, wurden sehr bald mit Mieterhöhungen konfrontiert, die, wenn sie sie nicht bezahlen konnten, unweigerlich zum Auszug führten. Mit dem vorhanden Mietbudget musste man dann den guten Lagen entsagen und sich woanders eine neue Bleibe suchen. So wurden auch die Teile Williamsburgs von den Zuzüglern infiltriert, die bislang davon verschont worden waren, was wiederum dort die Mieten tendenziell steigerte.
Damit war die friedliche Phase der Gentrification zu Ende. Jetzt kamen nicht mehr Leerstände und untergenutzte Räume ins Spiel sondern schon bewohnte. Die Verdrängung der angestammten Bewohner begann.
8. Die Preise explodieren
Die Phase der Scene-Seekers, die für den erhöhten Besuch des gentrifizierten Viertels von außen sorgen, brachte auch in W-Burg nicht nur die Professionalisierung und Einnahmesteigerung im Viertel voran, sondern unausweichlich Leute mit sich, die aus dem sporadischen oder regelmäßigen Besuch des Viertels einen Daueraufenthalt machen wollen. Die also zusätzlich auf den dortigen Wohnungsmarkt drängen.
Der aber war in Williamsburg in der Zwischenzeit schon durch die zunehmenden und qualifizierten Wohnbedürfnisse der kreativen Eroberer enger geworden. Genau das war das endgültige Einfallstor der Immobilienhändler. Genauer gesagt hatten die, die schon länger in Williamsburg spekulierten, genau auf diesen Moment gewartet. Auf die eigentliche Phase der Aufwertung, auf die, die sich auch in dauerhaft höheren Grundstücks-, Wohnungs- und Hauspreisen niederschlägt. Sie bedeutete zugleich auch den Durchbruch der überlokalen Großspekulanten an der Waterfront.
Die Ironie dabei war, dass gerade die Befürchtung der Verdrängung ihrer angestammten Wähler aus der polnischen und lateinamerikanischen Community, die örtlichen Politiker bewog, den Neubauplänen am Wasser schlussendlich zuzustimmen. Die Waterfront wurde nach fast 15jähriger Auseinandersetzung in Wohngebiet umgewandelt. Um die Protestler zu befrieden, wurde der wilde Stadtteilpark von der Neubebauung ausgenommen, die geplante Anzahl der Wohntürme am Wasser in der Zahl und in der Höhe reduziert und eine für alle begehbare Uferpromenade versprochen.
Für die Neubebauung außerhalb der unmittelbaren Waterfront wurde die Traufhöhe auf den Durchschnitt der vorhandenen Bebauung begrenzt. Dabei muss man jedoch den in New York überall möglichen Luftrechtekauf mit berücksichtigen. Der bedeutet nämlich dass, wenn jemand die mögliche Geschossanzahl nicht ausnutzt, er diese als zusätzliches Geschosshöhe an den Besitzer des nächst gelegenen Grundstücks verkaufen kann. Dem flächendeckenden Wohnungsneubau war damit auf einem Schlag in Williamsburg Tür und Tor geöffnet und der Markt dafür war endlich vorhanden.
Der Immobilienboom begann mit einem heute noch währenden Kampf um jede noch bebaubare Fläche, die nicht all zu weit vom Wasser entfernt liegt. Die, die diese Flächen rechtzeitig genug gekauft hatten, waren dabei natürlich im Vorteil und oft wechselten die Grundstückseigentümer monatlich bevor endlich gebaut wurde. Und jedes Mal wurde und wird natürlich die Baufläche teurer. Der Abriss von unter- oder abgenutzten Gebäuden wurde attraktiv. Williamsburg verändert innerhalb von nur wenigen Jahren sein Gesicht total. Im neuen Jahrtausend brummten endlich die Kassen der Immobilienbesitzer, denn jetzt wollte jeder vom Boom profitieren und die berühmt berüchtigten Mondpreise begannen zu entstehen. Die in New York in solchen Fällen übliche lokale Immobilienblase.
Damit war dieser Stadtteil endgültig im Gesamtimmobilienmarkt der Metropole angekommen. Hier wollten jetzt auch die hin, die in Manhattan genug verdienten und trotzdem dort nicht mehr die Mieten bezahlen konnten. Bzw. denen der Mietanteil an ihrem hohen Einkommen zu groß geworden war. Und auch die ausländischen Immobilienanleger hatten „Upcoming Williamsburg“ entdeckt. Unterstütz von einem immer stärker werdenden Euro. Die Immobilienpreise, vor allem aber die bei Aus- und Umzug fälligen Neumieten explodierten.
20 m² mit kleinem Bad und eingebauter Küchenzeile in einem der neuen Türme mit direktem Blick auf die Skyline kosten als Eigentumswohnung jetzt 600-700.000 Dollar. Ein One-Bedroom Apartment mit Blick zur Miete ist unter 3.000 pro Monat nicht mehr zu kriegen. Aber auch die Mieten um die Bedford Avenue sind trotz der vielen Neubauten in schwindelerregende Höhen geraten. Es reichte nicht mehr aus am äußersten Rand von Williamsburg und ganz weit weg von jedem Blick auf die Skyline und von einer Station der L zu hausen, um noch an der Szene teilhaben zu können. Jetzt versuchte man im anliegenden Bushwick einen bezahlbaren Unterschlupf zu finden. Wenn möglich in der Nähe einer U-Bahn-Station der Linie L die auch diesen Stadtteil durchquert. So ist man immer noch relativ schnell am Hotspot Bedford/North 7th, der letzten Station bevor es unter den Fluss nach Manhattan geht.
Von dort kreuzen jetzt jeden Abend die Yellow Cabs auf und bevölkern W-Burgs Straßen. Wer billiger fahren will ruft den Brooklyn-Taxi-Service an, eine von Latinos geführtes Unternehmen, das mit dem Williamsburg Boom mit gewachsen ist. Aber Limos gibt es jetzt hier auch zu mieten. Die ersten Hummer stehen in den Straßen rum. Schwere Jeeps sind gang und gäbe. Porsche und Maseratis noch selten. Selbst die farbige Schickeria lässt sich ab und zu sehen. In riesigen weißen Geländewagen. Sie kommen aus dem afroamerikanischen Brooklyn abends mal schnell ins nun vorwiegend junge und weiße Central-Williamsburg. Genauso wie die ebenfalls mehrheitlich weißen Manhattangirls and –boys, die hier jetzt täglich zum Lunch oder Dinner erscheinen. Selbst meine Freundin J. ist letztes Jahr gekommen und war begeistert.
Meine Künstlerfreunde aus meiner Loft Garage jedoch müssen dieses Jahr sehr wahrscheinlich dicht machen. Nach Ende des Vertrages wird die Mietet mindestens verdreifacht und muss jährlich neu ausgehandelt werden. Der Kaufpreis ist im Verhältnis zu der Zeit als sie nach Williamsburg kamen mindersten beim 10 fachen angelangt. Die Garage liegt in der zweiten Linie zur Waterfront und das Grundstück darf mindestens doppelt so hoch bebaut werden wie die heutige ehemalige Lastwagengarage. Sie überlegen in die Bronx zu gehen. Aber selbst diesen neuen Trend haben die Immobilienhaie schon mitbekommen.
Die Lage ist recht aussichtslos, was die nicht so erfolgreiche Kreativszene in Williamsburg betrifft und auch die Winner unter ihnen kommen in Schwierigkeiten. Die Studentenszene hat sich ebenfalls geändert. In Williamsburg können jetzt nur noch die Kinder reicher Leute studentisch wohnen. Aber deren Anzahl hat auf Grund des amerikanischen Millionärsbooms der letzten Jahrzehnte erheblich zugenommen. Da zahlen die Eltern gerne höhere Mieten, wenn der Sohn und/oder die Tochter wenigstens ein paar Jahre im nun hippsten und irgendwie noch immer Künstlerviertel der Welthauptstadt wohnen möchten. Wenn es von zu Hause nicht ganz so reicht, dann teilt man sich zu mehreren ein Loft, so wie die ersten kreativen Zuwanderer. Nur dass die Gesamtmiete jetzt ein Vielfaches höher ist. Auch das Straßenbild hat sich geändert.
9. Die Scenechanger
Die letzte Phase der Gentrification, die der Scene-Changers überlappt sich insofern, dass die Scene-Seekers, wenn sie denn dauerhafte Bewohner werden, selbst in die Rolle der Scene-Changer schlüpfen. Es kommen aber jetzt auch die hinzu, die mit der Szene vorher nicht einmal als Besucher was zu tun hatten. Sie suchen ganz allgemein nach Wohn- und Lebensraum in New York und bekommen von Experten oder Freunden den Tipp „Upcomming Williamsburg“. Die Szene dort interessiert sie nicht im Geringsten, sondern nur das, was sie als Ambiente und als Infrastruktur geschaffen hat. Das kann man ihnen auch nicht für Übel nehmen, denn so läuft Marktwirtschaft nun mal.
Aber sie bedeuten damit unausweichlich eine neue Stufe des Wandels. Zum einen weil sie gleich auf dem höchsten Mietniveau einsteigen, weil sie es auch bezahlen können und dafür natürlich auch Entsprechendes erwarten. Sie gehören deswegen in der Regel auch einer anderen sozialen Schicht, auf jeden Fall aber einer wesentlich höheren Einkommensklasse an als alle bisherigen Bewohner. Zum anderen beteiligen sie sich so gut wie gar nicht an den bestehenden bzw. gewachsenen sozialen Strukturen und Organisationen und bilden stattdessen eher ein eigenes Milieu aus. So auch in W-Burg.
Selbst die örtliche Kunstszene ist für sie eher Ambiente, denn Treffpunkt oder Raum des eigenen Engagements. Das gleiche gilt erst recht für die Beteiligung an den örtlichen Mieterorganisationen, die sich in W-Burg zunehmend im Abwehrkampf gegen die immer höheren Mieten befanden und noch befinden. Meistens bildet diese Kategorie der Zuzügler gerade in New York, aber nicht nur dort, auch eher Eigentum, als dass sie zur Miete wohnen wollen. Konflikte zwischen den Kreativen und diesen sogenannten Yuppies wurden so auch in Williamsburg unvermeidlich. Aber auch von den ursprünglichen polnischen und lateinamerikanischen Einwohnern ist diese Gruppe der neusten „Invasoren“ nur wenig gelitten.
Das alles spiegelte und spiegelt sich auch im Straßenbild wieder. Der Bohemien- bzw. der Buntheitsfaktor nahm in den letzten Jahren massiv ab. Das Schaulaufen derer, die unbedingt auffallen wollen, nahm dagegen kontinuierlich zu. Das Viertel ist jetzt auch offiziell hipp, denn es steht so in den New Yorker Reiseführen und in weltweiten Szenemagazinen. Deswegen tauchen auch die ersten Promis auf, zumindest aber wird jetzt vermutet, dass man dort entdeckt werden könnte, wenn man nur genügend aufgedreht rum läuft. Von einem Galeristen, Literaturagenten, Regisseur usw. Egal ob der in Williamsburg als Scout unterwegs ist oder vielleicht dort sogar fest wohnt.
Fotografiert und gefilmt wird in Williamsburg schon länger und viel, und zwar von den vielen Kunststudenten und Künstlern die dort wohnen. Aber die richtige Shootings der Meister aus Manhattan haben länger auf sich warten lassen. Einer der ersten habe ich selbst auf dem Dach bei S. noch erlebt. Die Locationscouts der New Yorker Filmgesellschaften suchen wie überall auf der Welt immer neue und interessante Orte. Filmleute habe auf Grund ihrer normalen Security auch nicht ganz soviel Angst vor Straßenüberfällen. Deswegen sind sie schon kurz nach der ersten Künstlerwelle aufgetaucht.
Der erste große Hollywoodfilm der Williamsburg ins internationale Licht rückte, war „ Perfect Murder“ mit Michael Dougles. Eines der Fabriklofts in Greenpoint war da eines der wichtigsten Aktionsstätten und ein dubioser Künstler nahm im Plot auch eine mörderische Hauptrolle ein.
Die ersten Locationsscouts kamen aber nach Williamsburg weil dort der spektakuläre Blick auf Manhattan von den Dächern auch noch billig zu kriegen war. In Manhattan kostet selbst die kurzeitige Nutzung solcher Spannungsorte zu dem Zeitpunkt noch locker das 10 fache. Heut sind auch da die Preise in Williamsburg, mit den sonstigen Mieten, enorm angestiegen.
Vor ein paar Jahren wurde ich mehrfach im Stadtteil angesprochen, weil ich offensichtliche irgendeinem berühmten Schauspieler aus einer bestimmten Perspektive und bei etwas weniger Licht sehr ähnlich sah. Meine Zeit als Promi-Copy währte allerdings nur eine Woche. Die Tatsache,das ich über viele Jahre so regelmäßig und jeweils lange genug vor Ort war, dass einige mich immer wieder erkannten, mich anfingen zu grüßen und mich natürlich zu fragen, was ich denn wieder hier mache, tat das seinige dabei. Mittlerweile kannten mich selbst die Bedienung einiger Lokale , wenn die denn mehrere Jahre dort tätig waren wieder. Von meinen Freunden und Arbeitspartnern ganz abgesehen.
Ich saß und sitze auch heute immer wieder mal nach getaner Arbeit am Abend auf einer der vor den vielen Szeneläden gestellten kleinen Bänke, auf denen man den Passanten auf der Bedford , so lange wie man will, zusehen konnte. Dabei hatte ich fast immer dieses herrliche New York Village Gefühl, was man in Manhattan zwar auch haben kann, nicht aber so relaxt. So bekam ich über die Zeit auch die Änderungen der Streetstyles und damit die soziale Zusammensetzung der Szene in ihrer äußeren Erscheinung mit.
Williamsburg wurde wirklich weltweit tonangebend. Hier habe ich fast alle szenigen Modeänderungen immer gut ein bis 2 Jahr eher mitbekommen, als sie in Berlin ankamen. Z.B. das man oder besser frau knallbunte Gummistiefel auch im Sommer trägt, oder die jungen Männer Hütchen und Bärtchen und die jungen Frauen Tag und Nacht riesige Sonnenbrillen. Single Speeds, d.h. Fahrräder ohne Gangschaltung und Fixies , d.h. Fahrräder mit feststehender Hinterradnarbe ohne Gangschaltung und Bremsen, wurden hier mindesten 5 Jahr eher als in Berlin gefahren. Das erste Single Speed in Deutschland habe ich allerdings in meinem Lieblingsfahrradladen im Bochumer Bermuda3Eck entdeckt. Weit bevor die Berliner überhaupt wussten, was das überhaupt ist.
Streetstylemäßig war allerdings der Wandel W-Burgs am deutlichsten an einer neuen Art von Hunden zu sehen, die vorrangig auch jetzt die jungen Frauen mit sich führten. Nach dem das Sicherheitsproblem auf den dortigen Straßen endgültig gelöst war, gab es lange Zeit keine Hunde mehr in W-Burg. Jetzt tauchten statt der damaligen richtigen Hunde zunehmend Zier- und Spielhündchen an der Seite der junger Leute auf. Der Weg vom Kampfhund zum Schoßhündchen zeigt am klarsten worum es in New York bei der Gentrification neben Infrastruktur und Urbanität am meisten geht: Um Sicherheit.
Aber auch die vielen individualistischen modischen Einzelinnovationen, von denen ich schon in einem der anfängliche Folgen berichtet habe, nahmen jetzt exponentiell zu. Eine junge Gruppe von Williamsburger Modedesignern hatte vorher schon das heute auch in Manhattan, und demnächst sicher auch in Europa in Erscheinung treten werdende Label „Booklyn Industries“ ins Leben gerufen.
Den ersten richtigen Verkaufsladen gab es natürlich an der Bedford nahe North 7th. Und natürlich den Stress mit der Lokal-Szene wegen des zunehmenden „kapitalistischen“ Erfolgs per Graffiti auf den Schaufenster und Türen der Boutique. Den gibt es allerdings seit Beginn der immer noch aktuellen Phase des Scenechanging nicht mehr.
Vielmehr ist neuste Mode jetzt auf der Bedford und drum herum normal. Auch die von „Brooklyn Industries“. Der noch verbliebene individuelle Style, neuerdings Controverse (Self)design genannt, weil jeder Style jetzt auch seinen Namen haben muss, denn Williamsburg ist jetzt „maßgebend“, also „supercool“, ist dadurch immer anstrengender geworden. Er wird schnell in der Szene selbst, dank Style Book auch weltweit, kopiert, weil was wirklich Neues auch in den heute sogenannten Kreativvierteln dieser Welt kaum noch einem einfällt.
Der Trend geht deswegen in den letzten Jahren vom Künstler zum Künstler(selbst)darsteller, was sich natürlich aus der Natur der Sache immer schon gegenseitig bedingte und wechselseitig spiegelte. In Williamsburg hat das jedoch dazu geführt, dass sich diese beiden inneren Bilder nun rollenmäßig im Straßenbild zunehmend als personell getrennt manifestierten. Als verschiedene Personengruppen.
Die die real kreativ waren und auch davon ihren Lebensunterhalt mit realer Entlohnung bestreiten konnten trennten sich von denen, die sich das wünschten aber nicht schafften. Und erst recht von denen die einfach nur so aussehen wollten. Letztere Gruppe nahm seit der Change-Phase ebenfalls rasant zu.
In diesem Viertel hatte man eben auch als Rechtsanwalt oder Broker, oder einfach nur als kunstsinniger Berufserbe oder als Durchschnittsstudent ohne jede besondere Ambition irgendwie kreativ auszusehen. Cool zumindest. Und die Standards dafür setzte und setzt immer noch die Szene bzw. die die sich dazu gehörig fühlten.
Das, was in der sozialen Realität zunehmend zerbrach, funktionierte immer noch als Style. Die Stylisten waren aber nicht mehr die Kreativen, zumindest nicht, wenn sie sich nicht selbst zur Modebranche zählten. Es waren selbsternannte „Kreative“, sozusagen ihre modischer Abklatsch als Lebensaufgabe.
Eine spezielle Gruppe unter ihnen die schon länger W-Burg bevölkerten waren die sogenannt PPA´s, ausbuchstabiert Parent Payed Artists. Sie hatten natürlich richtige, häufig sogar überdurchschnittlich große, Künstlerlofts, machten auch Kunst darin, aber jeder der nur etwas Ahnung hatte wußte, dass das sie weder davon lebten noch jemals davon würden leben können. Das allerdings taten sie über Jahre. Und sie trugen fast immer Klamotten und Schuhe auf den Spuren künstlerischer Arbeit sichtbar waren.
Die erfolgreichen Kreativen dagegen zogen und ziehen sich zunehmend aus dem Straßenleben zurück. Zumindest als Selbstdarsteller. Sie benutzen sie zunehmend wie die zu gezogenen Scene-Changer nur noch als Ambiente und Infrastruktur. Die Kreativendarsteller dagegen übernahmen und übernehmen weiterhin die Straße in einer Weise, dass es für den Eingeweihten schon eine lächerliche Note bekommen hat. From being cool to being a fool it´s only a little step. Die wirklich Coolen suchen derweil schon nach neuen Treffpunkten für die wirklichen In-People. Für die, die nicht mehr unbedingt anders sein wollen aber dafür nur noch unter sich. Wie in Manhattan eben.
Oder wie in einem Teil von Williamsburg, an dem der ganze Hype spurlos vorüber gegangen ist, obwohl dort die Leute wohnen, die wahrscheinlich am meisten an der Gentrification ihres Stadtteils verdient haben.
10. Die charedische Community
Das jüdisch-orthodoxe Williamsburg liegt, wie ich schon anfangs erwähnt habe, südlich der Williamsburg Bridge. Die Charedim, wie sie sich selbst nennen, von den liberalen Juden und von den angrenzenden Latinos auch abfällig Pinguine genannt, wegen der in der Regel schwarz-weißen Kleidung ihrer männlichen Mitglieder und ihres als watschelnd empfundenen Ganges, wären nicht im Traum darauf gekommen irgendwelche sogenannten Kreativen in ihr Neighbourhood zu lassen. Es sei denn sie würden ihrer Gemeinde angehören, also auch Charedim sein. Sie hätten das, wenn nicht, auch zu verhindern gewusst. Egal ob Künstler oder nicht.
Sie bilden schon seit ihrer Ankunft aus Osteuropa eine räumlich und sozial geschlossene ethnische Community die sich seitdem kontinuierlich ausgedehnt hat. Zur größten geschlossenen orthodoxen jüdischen Gemeinde außerhalb Israels. Zurzeit, keiner weiß es genau, denn die USA und auch New York haben keine Volkszählung oder ein Melderegister, ca. 200.000. Auch sie wohnen entlang der Bedford Avenue und drum herum. Mit eigenen Schulen und Krankenhäusern.
Wer ihr in Richtung Süden unter die Brücke durch folgt, der wird sehr bald in einer gänzlichen anderen Welt sein. Nicht bunt und hip, sondern eher schwarz weiß bis grau. Nur die Frauen tragen schon mal Mehrfarbiges, aber auch das nie in schreienden Tönen. Im modischen Kern ist die Kleidung der orthodoxen Stedel-Juden, was die Männer betrifft, dem polnischen Adel im 16. Jahrhundert nachempfunden. Allerdings mit genauen religiösen Regeln verbunden, die ich im Einzelnen bis heut nicht durchschaut habe. In Williamsburg wird sie übrigens für die ganze Welt hergestellt.
Die verheirateten Frauen haben durch die Bank eine Perücke auf, weil ihnen bei der Eheschließung aus religiösen Gründen die Haare geschoren werden. Die Männer tragen ab ihrem sechsten Lebensjahr die berühmt-berüchtigten Schläfenlocken. Alle jüdischen Feiertage werden hier konsequent eingehalten, es gibt mehrere große Synagogen, und die Männer zeigen all die verschiedenen Kleidungszeichen der verschiedenen Erleuchtungsstufen und ihr Gebetskissen mit sichtbarem Stolz.
Die großen Hochzeiten, vor allem der Rabbis und ihrer Familienmitglieder, haben tausende Besucher aus den ganzen USA und werden öfter auch in Williamsburg North gefeiert, weil die „Löckchenjuden“ dort einen großen Teil der Fabriken und Lager- aber auch der Wohnhäuser besitzen. In ihren Sweatshops, die durch die Gentrification erheblich weniger geworden sind, arbeiten bzw. arbeiteten in der Regel die Latinos.
Bei den großen Partys wird dann eine der großen Hallen arbeitsmäßig still gestellt und zum Feiern benutzt. Und die Orthodoxen können feiern. Laut, lustig und sehr musikalisch. Die besten Klezmermusiker der USA wenn nicht der ganzen Welt treten dann in Williamsburg an und die New Yorker Polizei muss den Verkehr umleiten, weil so viele Besucher mit schweren Limousinen vorfahren.
Ansonsten geben sich diese Leute eher schlicht, sprechen in der Regel jiddisch und/oder hebräisch und natürlich englisch und sind, was die älteren Männer betrifft, sehr freundlich. Auch zu Deutschen. Zumindest wenn sie , im Gegensatz zu andere Touristen, nicht mit der Kamera im Anschlag durch ihr Viertel laufen. Das zooartige fotografieren dieser Leute hat leider gerade auf Grund der Gentrification südlich der Brücke und dem dadurch bedingten Szenezulauf in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Erst „Künstler“ und dann „Orthodoxis“ gucken gehört vor allem bei den geschichtslosen Flachköpfen unter ihnen jetzt zum Standardprogramm.
Die jiddischen Frauen sind gegenüber Menschen die nicht ihrer Gemeinde angehören eher abgewandt bis abweisend. Sie schauen durch die „Anderen“, wenn sie sie denn überhaupt wahrnehmen, wie viele der jüngeren Männer übrigens auch, quasi hindurch. Auch außerhalb ihres Viertels. Als Autofahrer, ich habe unter ihnen noch nie eine Frau am Steuer gesehen, gelten die „Pinguine“ eher als Barbaren. Nicht zuletzt weil sie , trotz häufig überhöhter Geschwindigkeit, dabei permanent telefonieren und dadurch zur Unaufmerksamkeit neigen.
Ganz im Gegensatz zum eher relaxten, vorsichtigen und rücksichtsvollen Rest der New Yorker Automobilisten, was das Radeln auf den Straßen der Metropole insgesamt ungefährlicher macht als in einer deutschen Kleinstadt. Egal was man sonst so an Unsinn zu diesem Thema weltweit von Journalisten lesen und hören kann. Sie haben einfach keine Ahnung bzw. sie probieren es aus, ohne um die Regeln und Zeichen zu wissen, nach denen das Verhältnis von Drivern und Bikern in dieser Metropole organisiert ist. Aber das ist ein anderes Thema.
Da die Orthodoxen wie alle religiösen Fundamentalisten nach der Heirat möglichst viele Kinder anstreben – es sind in ihrem Teil von Williamsburg im Schnitt 8-10 pro Familie – steigt der Wohnbedarf der Community jedes Jahr exponentiell. So wird das orthodoxe Williamsburg jährlich auf jeden Fall zahlenmäßig größer und die Gemeinschaft hat eine gewaltige Geldreserve angesammelt, um ihre räumliche Ausdehnung per Hausneubau und -ankauf zu finanzieren. Häufig wird die Sache in direkter Verhandlung in bar erledigt.
Das Ziel war dabei immer klar. Die nördliche Ausdehnung bis an die Williamsburg Bridge ist mittlerweile abgeschlossen und hat eine Menge Latinos auf die andere Seite der Brücke verdrängt. Nach Norden und Westen gibt es jedoch auf Grund der auch hier leer gefallen Lager und Fabrikgebäude und der vielen Brachen noch Ausdehnungsreserven. Der Neubau ist jedoch immer hoch und kompakt, denn auch dieser Gemeinde ist an möglichst wenigen ethnischen Konflikten gelegen.
Die finden natürlich trotzdem statt, denn das Misstrauen gerade der farbigen Bevölkerung gegenüber der Ausdehnung der „Pinguine“ ist groß. Obendrein gab es in deren Stadtbezirk nie ein Kriminalitäts- oder Drogenproblem. Zumindest kein öffentliches. Jiddish-Williamsburg war auch in den schwersten sozialen Krisenzeiten der Stadt immer ein absolut sicherer Ort. Gebrannt hat es hier nie und Drive-By-Shootings kannte man hier nur vom Hörensagen. Das auch dank einer eigenen enormen sozialen Kontrolle auf den Straßen und einer eigenen Bürgerwehr.
Sie trägt zwar bis heute keine Waffen und natürlich darf sie auch keine Verhaftungen vornehmen darf. Aber ihre Fahrzeuge sind per Walky Talky schnellstens vor Ort, sie haben eine Sirene und sind in ähnlichen Farben gehalten wie die Autos des NYPD. Ich habe es selbst erlebt, als es Drumherum noch verdammt gefährlich auf Williamsburg Straßen war, wie hier ein Drogendealer vor eine Schule in Sekunden von einer unglaublichen Menge Menschen umstellt wurde. Er hätte gar nicht so schnell schießen können wie immer neue Leute ihn ohne jede Waffe umzingelten. Und weg konnte er natürlich auch nicht mehr.
Kurze Zeit später war das Fahrzeug der Bürgerwehr da, natürlich auch mit unbewaffneten Insassen und die rief dann per Autotelefon die New Yorker Polizei. Diese lokale Schutztruppe war und ist offiziell natürlich nicht erlaubt, aber das NYPD drückte zu dieser Zeit – und ich glaube auch heute noch – beide Augen zu, wenn ein ganzer Stadtteil kostenfrei für seine Sicherheit sorgt. Heute allerdings hat diese eigene Security natürlich viel weniger zu tun und auch der Rest von Williamsburg ist so sicher wie es sein jüdischer Teil immer war.
Die Aufwertung dieses Teils von Upcoming W-Burg wurde ganz alleine von seinen angestammten Bewohnern gesteuert. Hier wurde niemand verdrängt. Hier verdrängte man, wenn überhaupt selbst. Hier spülte die Gentrification auf der anderen Brooklynseite der Williamsburg Bridge genug Geld in die Immobilienkassen, um der eigenen Gemeinde weitere Unterbringungsmöglichkeiten zu verschaffen bzw. zu erbauen. Auf jeden Fall blieb dieses Geld in Williamsburg und kam ihm insofern auch wieder zu Gute. Bei den großen neuen Türmen entlang des Wassers, war das mit Sicherheit nicht der Fall.
P.S.
Wer Aktuelles über die Gentrification in New York City lesen will schaue auf:
http://ny.curbed.com/tags/gentrification-watch
Wer Aktuelles über die Entwicklung speziell in Williamsburg lesen will schaue auf:
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