Reuters führt Gedankenpolizei ein

Die Nachrichtenagentur Reuters ist eine der ältesten der Welt. Gegründet wurde sie 1850 an der belgischen Grenze, um Börsennachrichten zu verbreiten. Heute sitzt die Agentur als internationaler Konzern in London. Lange war Reuters ein Vorbild für seriösen Journalismus, unabhängig und frei. Doch diese Tage könnten vorbei sein, wie unser Gastautor Paul Julius R. aus Aachen schreibt. Was Konzern-Fremde über privaten Äußerungen von Reuters-Reporter denken, soll über deren Job entscheiden. Hier seine Gedanken zur Einrichtung einer Reuters-Gedankenpolizei:

Reuters, die nach eigenen Worten größte Nachrichtenagentur der Welt, die ihre Integrität und Unabhängigkeit von einer eigenen Stiftung garantieren läßt, legt seine Journalisten an die Kandare: Die Chefredaktion hat die Mitarbeiter darauf hingewiesen, dass alles, was sie außerhalb ihrer Arbeit sagen oder tun, Folgen für ihr Arbeitsverhältnis haben kann, sollte es aus irgendwelchen Gründen auf Missfallen stoßen.

In einer Email weist Chefredakteur David Schlesinger darauf hin, dass es aufgrund des Internets und sozialer Netzwerke nun wesentlich leichter sei nachzuvollziehen, wes Geistes Kind ein Journalist denn sei – und dass dies ihn durchaus für seinen Job disqualifizieren kann.

Er nennt mehrere Beispiele aus anderen Medienorganisationen, wie z.B. CNN, die eine Mitarbeiterin feuerte, weil diese in einem Tweet einen gestorbenen Angehörigen der Hisbollah als „Giganten“ bezeichnete, den sie „respektiere.“ Oder die Geschichte eines Bloggers der Washington Post, der kündigte, weil er in einer privaten Diskussionsgruppe abfällige Kommentare über die US-amerikanischen Konservativen machte, über die er auch beruflich berichtete.

Ohne sich die Einstellung CNNs oder der Washington Post zu eigen zu machen, sagt Schlesinger, dass im Internet gemacht Kommentare Rückschlüsse zulassen, ob ein Reporter in der Lage ist, seine Arbeit zu machen.

“Wenn man Leuten Grund oder Anlass gibt, seine Fähigkeit anzuzweifeln, ein fairer oder objektiver Journalist zu sein, wird das notwendigerweise Einfluss auf unsere Möglichkeit haben, jemandem Aufträge zu geben oder auf dem Dienst veröffentlichen zu lassen.”

Die Fülle des Nichtgesagten hinter diesen Kommentaren lassen erschrecken. Und dabei muss man nicht einmal die Frage stellen, wieso Schlesinger gar nicht darauf eingeht, warum denn seiner Ansicht nach Journalisten außerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit keine Meinungsfreiheit genießen sollen?

Man muss sich nur fragen, warum laut Schlesinger gar nicht im Einzelfall geprüft werden muss, wie denn die private Meinung eines Journalisten tatsächlich Auswirkungen auf seine Arbeit hat? Wieso muss gar nicht dargelegt werden, dass dieser nicht in der Lage war zu trennen zwischen beruflichen Pflichten und persönlicher Einstellung? Wieso reicht eine „unliebsame“ Äußerung aus, das anzunehmen?

Kann denn beispielsweise ein ausgewiesener Marxist nicht gemäß den Richtlinien von Reuters über Aktienunternehmen schreiben? Auch wenn er die Unternehmen ebenso wie das wirtschaftliche System in dem sie operieren ablehnt?

Aber wie Schlesinger selber schreibt, geht es ihm gar nicht darum, es geht ihm – in vorauseilendem Gehorsam – um den Eindruck gegenüber unspezifizierten anderen „Leuten“ – offensichtlich externen Gruppen, vor denen er als Vertreter Reuters‘ enormen Respekt zu haben scheint.

Im Falle der entlassenen CNN Reporterin spielte laut New York Times tatsächlich eine Rolle, dass andere Interessengruppen an das Unternehmen herantraten und diesen Journalisten für untragbar erklärten.

Und das entlarvt vieles: Denn hier zeigt sich deutlich wie selten, wie Journalismus in weiten Teilen eine Vertretung für die Interessen machtvoller Gruppierungen ist, die bestimmen, was in die Öffentlichkeit gehört und was nicht.

Das Internet läßt diesen Sachverhalt nur noch deutlicher zu Tage treten, da es die Medien zwingt nach neuen Wegen zu suchen, Ihre Mitarbeiter zu kontrollieren. Obwohl eigentlich ein Journalist auch Bürger ist und das Recht zu seiner eigenen Meinung hat. Und obwohl es keinen Unterschied machen darf, ob ein Reporter dieses Recht wahrnimmt, indem er seine Meinung weltweit nachvollziehbar in einem „Tweet“ äußert oder auf einer Demonstration oder gegenüber seiner Ehefrau.

Gerade für dieses Recht sollten Medien eigentlich eintreten, denn schließlich ist genau das ihre Existenzgrundlage und eigentlich auch der Grund, warum Menschen Zeitungen kaufen oder Radiosendungen hören.

Doch genau das passiert nicht. Die Unternehmen unterwerfen sich widerspruchlos dem Diktat anderer – im Fall der CNN Reporterin offensichtlich der US-amerikanischen Außenpolitik und damit der Regierung — und räumen diesen Gruppen damit das Recht ein, zu bestimmen, was für die Öffentlichkeit bestimmt ist und was nicht.

Und zwar in einem enormen Ausmaß, der weit über das hinausgeht, was Schlesinger mit seiner Email eindämmen will: Denn wenn diese Gruppierungen schon solchen Einfluss haben, wenn es um private Äußerungen geht, kann man sich ausmalen, wie groß der Einfluss erst sein muss, wenn es darum geht, was tatsächlich publiziert wird.

Wenn schon für angestellte, gewissermaßen erprobte Journalisten diese Grundsätze gelten, kann man sich auch fragen, welchem Diktat sich erst angehende Journalisten unterwerfen müssen. Wie angepasst muss man denn sein, um überhaupt im Journalismus Fuß zu fassen – und was bedeutet das für das, über das berichtet wird?

Reuters jedenfalls könnte sich Gedanken machen, ob man nicht in Zukunft jedem Artikel den Zusatz hinzufügen könnte, gleich einem Wasserzeichen – „Von der Gedankenpolizei für unbedenklich erklärt.“

Blogger wegen Tortencomic verurteilt – „Aufforderung zur gefährlichen Körperletzung“

Gestern verurteilte das Amtsgericht Bochum den Betreiber den Betreiber des Blogs Bo-Alternativ, Martin Budich, zu einer Geldstrafe von 1.500 Euro. Der Grund: Er hatte einen Artikel gegen eine Nazi-Demo mit einem Tortencomic verziert.

Als im Herbst 2008 die NPD berichtete  Martin Budich auf seinem Blog Bo-Alternativ über die Proteste gegen die Nazi-Demo. Einen dieser Texte illustrierte er mit einem Comic aus dem Computerspiel  Super-Bomberman.

Das hatte Folgen: Die Staatsanwaltschaft Bochum zog gegen ihn vor Gericht: Begründung: Der Comic sei ein Aufruf zur gefährlichen Körperverletzung und zum Verstoss gegen das Versammlungsrecht. Gestern fiel das Urteil vor dem Amtsgericht Bochum: Martin Budich wurde zu einer Geldstrafe von 1.500 Euro verurteilt. Der Grund: Die Comictorte sei eine Bombe. Budich erklärte gegenüber den Ruhrbaronen, dass er in Berufung gegen wird. Eine Strafe für eine Comictorte zu zahlen sieht er nicht ein. Für die Staatsanwaltschaft Bochum wird es also bald wieder eine Gelegenheit geben, sich lächerlich zu machen. Mehr zum Tortenprozess auf Bo-Alternativ…Klack

Arnsberg will wieder für das Revier planen

Die Bezirksregierung Arnsberg gehört zu den überflüssigsten Institutionen in Nordrhein Westfalen. Ihr Aus würden wahrscheinlich nicht einmal die eigenen Mitarbeiter bemerken. Nun soll sie  wieder mehr zu sagen bekommen.

Seit kurzem ist der Regionalverband Ruhr wieder für die Planung im Ruhrgebiet zuständig. CDU und FDP geendeten den Irrsinn, das die Planung des Ruhrgebiets auf drei Regierungsbezirke Düsseldorf, Münster und Arnsberg aufgeteilt war. Der schöne Plan von schwarz-gelb aus den fünf Regierungsbezirken drei zu machen, davon einer für das Revier wurde nichts. Die Land-Lobby war zu mächtig, das Ruhrgebiet zu blöd, die Reform einzufordern.

Nun wollen einige Politiker aus dem Regionalrat Arnsberg die Planungshoheit über das zum Regierungsbezirk-Arnsberg gehörende östliche Ruhrgebiet  zurück. In einer großen Koalition haben die Fraktionen von SPD und CDU ein 10-Punkte-Papier, das den Ruhrbaronen vorliegt, für den Regierungsbezirk Arnsberg erstellt. Darin sorgen sie sich auch um den demographischen Wandel, wünschen sich Anschluss an das Breitband-Netz und wollen natürlich ihre Pöstchen behalten: Die Beibehaltung des Regierungsbezirks Arnsberg ist ihnen besonders wichtig.

Menschen wie Hermann-Josef Droege (CDU) aus Burbach (ca. 14.000 Seelen) und Hans-Walter Schneider (SPD) aus Winterberg (ca. 13.000) fühlen sich anscheinend berufen, für ein Ballungsgebiet mit 5 Millionen Einwohnern zu planen. Das zeugt entweder von einem großen Selbstbewusstsein oder einem schweren Alkoholproblem. In der Ruhrgebiets-SPD hat das Papier für Irritationen gesorgt. Die Pläne aus dem Regionalrat werden als nicht realistisch bezeichnet. Die Planungshoheit scheint man sich im Ruhrgebiet nicht wieder wegnehmen lassen zu wollen.

A local Hero´s Diary VI: Schnick Schnack Schnucki

Im sechsten Teil seiner Local-Hero-Reihe schreibt unser Gastautor Carsten Marc Pfeffer über das Wiedersehen mit seiner Lieblingskneipe auf der Autobahn.

Samstag, 17. Juli: Das Telefon klingelt. Hausanschluss. Absolut privat. Ich dreh mich zur Seite und lege mir das Kissen aufs Ohr. Es ist doch erst 11 Uhr, vor drei Stunden bin ich zu Bett gegangen. Wie kann denn das alles nur sein? Das Telefon klingelt. Muss wohl wichtig sein. Ist es auch. Werner ist am anderen Ende der Leitung und gratuliert mir zu meinem großartigen Local-Hero-Tagebuch. Oh, wie mich das freut! Werner ist einer der ganz Großen und dabei völlig smart und easy geblieben. Wir plaudern ein bisschen über Bukowski und den gestrigen Gig. Auch Werner ist ja in den 60ern Liedermacher gewesen, bevor er sich entschieden hatte Journalist und Schriftsteller zu werden. Der Artikel, mit dem er heute den Bochumer Kulturteil aufmacht, liest sich denn auch wie eine Hommage: „Als der Beat durch den Pott klang“. Es geht um die aktuelle Ausstellung im Industriemuseum Zeche Hannover „Kumpel Anton, St. Barbara und die Beatles“. Ausstellungsleiterin Dagmar Kift betont: „das Motto der Kulturhauptstadt Europas im Jahre 2010 WANDEL DURCH KULTUR – KULTUR DURCH WANDEL hätte auch damals gut gepasst.“ Stimmt genau, muss ich denken. „So avancierte Dortmund in den 1950er Jahren zur Jazz-Metropole und Recklinghausen in den 1960er Jahren zum Mekka der Beatbewegung.“ – Ach, da wäre ich gerne dabei gewesen, als die Rickets (Bottrop) und die Blue Flames (Gelsenkirchen) damals die Tanzlokale unsicher machten. Als diese bescheuerten Altnazis über „Negermusik“ schimpften, und ein entspannter Umgang mit Sexualität für viele noch ein Tabu war, da konnte man herrlich polarisieren. Heute ist ja vieles indifferent geworden. Damals sagte man: Das sind rechtskonservative Schmierpisser, für die werde ich niemals schreiben. Heute sagt man: Das sind rechtskonservative Schmierpisser, vielleicht haben die einen Job für mich. Die Existenzangst ist das große Thema. Die meisten Kids wollen (möglichst schnell) ihre Seelen verkaufen, egal an wen, Hauptsache Pappi schimpft nicht. Deshalb begegnet man heutzutage im Nachtleben auch nur noch den Besten, hehe. – Wird wohl der Restalkohol sein.

Was für ein großartiger Morgen! Mittlerweile hat sich mein Körper an den Alkohol gewöhnt. Das kann ruhig noch ein paar Tage so weiter gehen. Ab nächster Woche heißt es dann wieder: trimm dich. Ich habe ja einen Coach, eine Saunakarte und viel Freizeit. Das lässt sich alles wieder korrigieren. Muss auch. „Ohne Körper geht es nicht“, sagt der Coach. Aber heute ist Bochum Total und die Party muss weiter gehen. Schade nur, dass mir die Sparkasse mein Konto gesperrt hat. Was soll denn das? Die sehen doch am Kontoverlauf, dass ich ziemlich schnell sehr viel Geld verdienen kann. Na ja, auf der anderen Seite sehen sie auch, dass ich ziemlich schnell sehr viel Geld ausgeben kann. Egal, müssen halt die anderen mal zahlen. Und Kibi schimpft erst, wenn der Deckel die 200€-Grenze übersteigt und gestern konnte ich frei saufen, müsste also noch Spielraum sein. Außerdem haut das Ansagemädchen auch gerne mal einen raus. Ich hoffe nur, dass Ayleen heute auch wirklich kellnert.

Meike, warum nur?

Jetzt die SMS von Mondrian: „Pfeffer, du Wichser, nie wieder ein Wort!!!“ – Der kam mir gestern nach dem Gig schon so blöd: Ich hätte in meinem Song „Oh, Mondrian“ zu viel Pikantes über sein Privatleben preisgegeben. – Na und? Ich bin Künstler, womit soll ich denn sonst arbeiten, als mit dem, was ich vor Augen habe? Einfach irgendwas erfinden? Man kann nicht einfach irgendwas erfinden. Und wenn uns die Künstler dies immer wieder glauben machen, dann hat das etwas mit ihrem Handwerk zu tun, aber doch nicht mit ihrer Erfindungskraft. Schöpfungskraft heißt abschöpfen nicht erschaffen. Wie kann man nur so zimperlich sein, Mondrian? Ich wäre stolz, wenn ich in einem deiner Songs vorkommen würde. Ich will doch einfach nur loslabern. Das tut so gut und immer kommt etwas Gescheites dabei raus. Warum nur kommt es immer wieder zu solchen Missverständnissen? Ach Meike, warum hast du mir das alles nur angetan?

Bochum Total ist am Samstag natürlich überlaufen von Menschen, die ansonsten Themenparks besuchen würden. Dazu die Mitglieder dieser Festival-Jugend, die die Einlassbänder von drei Jahren Dixiklo-Kultur an ihren Handgelenken tragen. Schade, dass sich Dr. Schröder wegen einer Konferenz in Toronto für drei Wochen verabschiedet hat. Dem wäre bestimmt etwas Bissiges dazu eingefallen. Schön dagegen, dass man barfuß laufen kann. Ein Hund wäre heute ein treuer Begleiter. Das Glasflaschenverbot war die richtige Entscheidung gewesen. Ich treffe die Jungs und schnorr mich so durch. Esse zu viel gegrilltes Bauchfleisch in einem pappigen Brötchen, das sich langsam auflöst im Saft des Krautsalates. Trinke eine Bowle mit Erdbeere. Trinke eine Bowle mit irgendwas. Auf der Ringbühne jetzt: Reefer Madness. Klingt nach Seeed. Sie spielen „Sei laut“. Der Sänger so: „Ey, Bochum – ey, könnt ihr laut sein?“ Alle: „Yeah!“ Er wieder: „Jau, jau. Wir finden das so geil, dass ihr jedes Jahr dieses Festival hier auf die Beine stellt. Ey, Bochum, ey – jau!“ – Das nervt natürlich schnell. Peter Fox in allen Ehren, aber es hat auch alles seine Grenzen. Danach dann Frida. Das Bochum-Wunder 2010. Ich weiß noch, wie sie im letzten Jahr im Schaufenster von Nastys Vintage-Laden gespielt haben: Off-Programm, die dicken Boxen auf die Brüderstraße, die Band hinter der Scheibe und dann Rawumms. Mir haben sie damit den Auftritt kaputt gemacht. Denn ich spielte im Zacher direkt nebenan und musste ganz leise sein wegen dem Ordnungsamt. Das war schon schlimm genug, aber als dann auch noch alle rausrannten, weil sie wissen wollten, was da draußen los ist, da wusste ich, es ist Zeit für meinen letzten Song. Und jetzt sind Frida eben Popstars mit MTV und so. Wie ich die Sängerin auf der großen Bühne über dem Meer der hochgeworfenen Arme betrachte, denke ich, da könnte jetzt auch die Meike stehen.

Als mir Meike vor ungefähr vier Jahren zum ersten Mal mailte, war ich an kultureller Betätigung nicht interessiert. Ich untersuchte zu dieser Zeit die ökonomischen Prozesse innerhalb der europäischen Literatur seit der Renaissance bis Houellebecq. Was spannend war und schon die Formen einer potentiellen Dissertation in sich trug. Diese Arbeit erforderte meine ganze Aufmerksamkeit. Meike hatte von mir gehört und wollte, dass ich ein paar meiner Texte auf ihrer Kleinkunstbühne im Riff lese. Dreimal ignorierte ich ihre Anfrage. Dann begann ich rumzuspinnen: wie sieht diese Meike eigentlich aus? Wie mag sich wohl ihre Stimme anhören? So rief ich sie an und sagte zu, um sie näher kennenzulernen. Klar, mir hatte das auch sehr gefallen, wie hartnäckig sie viermal versucht hatte, mich zu buchen. Kleines Leistungsmädchen, tough und gut. Spätestens in diesem Augenblick zerstörte ich meine akademische Karriere endgültig. Meike war zauberhaft. Sie wohnte mit ihrer kleinen Tochter in einer riesigen Wohnung über den Dächern der Stadt. Ich war wahnsinnig verliebt in sie, aber ich versuchte, sie das nicht spüren zu lassen. Denn irgendetwas sagte mir, dass ich in dieser Frau, die gut zehn Jahre jünger war als ich, eine Lehrerin gefunden hatte und keine Geliebte. Auch sie liebte den Schreibtisch, aber nicht so verbiestert wie ich ausgelutschter Schlagmichtot. Nein, sie benutzte ihren Schreibtisch wie einen Flipperautomaten: Text schreiben, Mail raus, Netzwerken, Clip schneiden, einmal alle grüßen, Clip raus. Dann in die Küche: Kaffee kochen, Zigarette drehen, Songs schreiben. Telefonieren, Kaffee trinken, loslabern. Suppe kochen, Kind abholen. – Und da begriff ich, dass ich zu langsam lebte. Das irgendetwas fehlte.

Ruhrwiesen

Nach wie vor weigerte ich mich, eine Gitarre in die Hand zu nehmen. Ich hatte schlechte Erfahrungen damit gemacht. Schon meine erste Karriere hatte ich wegen einer lausigen Punk Band ruiniert. Das sollte mir nicht noch mal passieren. Meike hingegen machte jeden Tag neue Songs. Sie spielte auf Nylon-Saiten, viel Hammering, oft A-moll und E-moll, meine absoluten Lieblingsakkorde. So verging ein schöner Frühling. Eines Tages fuhren wir nach Dahlhausen an die Ruhrwiesen. Wir ließen uns am Ufer nieder und Meike spielte mir ihre neuen Songs vor. Die Schwäne wurden neugierig. Da sagte die Meike, sie müsse sich mal die Hände waschen, legte ihre Gitarre beiseite und ging zum Bootshaus. Zwei Stunden ließ sie mich dort am Ufer warten. Als sie zurück kam, hatte ich drei Songs geschrieben. Und ich war absolut überzeugt von diesen drei Songs, und so dumm sie aus heutiger Sicht auch waren, glaubte ich an sie, weil ein Stück meiner Liebe zu Meike in diese Songs übergegangen war. Seitdem trage ich dieses Feuer in mir. Es zerstört jegliche Aussicht auf Prosperität in meinem Leben. Es lässt mich trotz fortschreitender Vergreisung wie ein Jugendlicher leben und täglich verlangt es alles von mir. Es weckt mich in der Nacht und zieht mich zurück in seine Flammen. Am Tage hält es mich unter einer permanent fordernden Spannung, die Menschen in meinem Alter nur schwer ertragen können. Es stößt mich hinab in tiefste Demut, dann zieht es mich wieder herauf auf den Olymp. Dieses Feuer ist der Rock’n Roll. Er ist mir zur Religion geworden, und auf seinen Altären habe ich alles geopfert, was ich jemals besessen habe. Ich habe das Sonnenlicht gegen die Nacht getauscht, die Karriere gegen die Freundschaft, die Altersvorsorge gegen das Hier und Jetzt. Und so fahre ich über den Ruhrschnellweg direkt bis in die Hölle. Und, verdammt noch mal, ich liebe das.
Irgendetwas war anders geworden als Meike an das Ufer zurückkehrte. Nachdenklich sah sie mich an, auch glaube ich, sie hatte ein bisschen Angst vor mir. 2006 spielten wir zusammen auf Bochum Total. Kurz darauf zog sie nach Berlin, bewarb sich bei DSDS, erreichte den Re-Call und flog mit Dieter Bohlen in die Karibik. Tough, wie sie war, hatte sie natürlich keinen Bock sich vom Produktionsteam alles vorschreiben zu lassen. Sie ging sogar soweit, sich über die Zustände am Set in einem Blog zu beklagen. So wurde sie kurzerhand rausgeschmissen. Ich erfuhr von all dem leider viel zu spät, weil ich gemeinhin auf DSDS einen Fick gebe, aber das wäre meine große Story gewesen…

Das BlackBerry blinkt. Aha, endlich der Ankündigungstext für morgen. 17 Stunden vor dem Auftritt keine Minute zu früh: „Autobahn unplugged: Die Goldkante auf der A40. Bisher hat eure Lieblingskneipe das Kulturhauptstadtjahr schnöde vorbeiziehen lassen. Das dauert einfach, ein neues Zuhause zu errichten. Unser Motto muss in diesem Jahr deshalb sein: Größe statt Quantität. Beim größten Ruhr.2010-Projekt „Still-Leben Ruhrschnellweg“ ist die Goldkante ganz vorne mit dabei. Kilometer 5,6, Block 70, Tisch 12. Ein adäquates Programm fand sich quasi ganz von selbst. Die solidaritätserfahrenen Songwriter Carsten Marc Pfeffer und Unter anderem Max geben sich auf dem Tisch die Ehre und spielen mindestens zwei Songs. Das ist ganz besonders, das ist selten, das ist exquisit. Und findet um 14 Uhr statt. Kommt alle.“ – Lieber Unter anderem Max, bitte lasse deinen Fender-Twin zuhause, muss ich denken. Aber den müsste er ja über die halbe Autobahn schleppen, das macht der bestimmt nicht, hehe. Körperliche Arbeit kennt der doch nur aus dem Fernsehen, hehe. – Hab schon wieder ganz schön einen sitzen. Ich muss unbedingt schlafen, sonst wird das morgen mit dem Gig nichts. Außerdem ist da ja auch noch die Lesung im FKT. Wann war das nochmal? 10:30 Uhr! Wie soll das alles nur funktionieren. Immerhin muss ich doch auch noch zur Weltmeisterschaft. Denn wer dieses Spektakel nicht gesehen, der nie auf Bochum Total gewesen.

Schere in Brunnen

Die Schnick-Schnack-Schnuck-Weltmeisterschaft ist seit vielen Jahren der absolute Geheimtipp des Festivals. Sie ist mehr als so ein halbironisches WG-Ding, aber sie hat schon viel Glamour in manche WG gebracht. Ungefähr zweihundert Leute stehen vor dem Intershop. Von außen sieht es aus wie eine Kampfszene aus Fight Club. Es kommt sogar immer wieder vor, dass gewaltbereite Street-Gang-Mitglieder auftauchen, weil sie auf die Schlägerei ihres Lebens hoffen, sich jedoch angewidert abwenden, sobald sie entdeckt (und verstanden) haben, was sich im Auge des Taifuns dieser großen bewegten Masse wirklich abspielt: Schnick, Schnack, Schnuck. Weltmeisterschaft! Es gibt eine Fee, die erhöht auf einem Stromkasten steht und die Gegner für die kommende Runde ermittelt, indem sie Namenskärtchen aus einem großen Pokal hervorzieht. Diese Fee wird sehr verehrt. Viele der Kontrahenten wollen von ihr berührt werden, weil das angeblich Glück bringt; andere preisen sie mit an Fußballchören erinnernden Hymnen. Doch ist der Kult um die Fee nichts anderes als eine „Fickbeziehung ohne Sex“, wie Kurti gerne behauptet. Dafür sorgt allein schon der verhasste Schiedsrichter. „Nicht an die Fee packen!“ – Dieser Typ ist wirklich ein harter Knochen. Was er jedoch auch sein muss, denn während der Weltmeisterschaft verliert diese Disziplin alle Attribute eines harmlosen Kinderspiels. Das ist Psychokrieg, wenn man plötzlich Männern wie Helmut gegenüber steht, die sich mitten im Duell einfach umdrehen und das Spielfeld verlassen, nur um den Gegner zu verunsichern und die johlende Menge weiter anzustacheln. Der Schiedsrichter ist immer kurz vorm Durchdrehen. Im Zentrum des Geschehens: Tommyboy und sein neuer Mitbewohner Mr. Big Bee, einem Grundschullehrer aus Osnabrück. Tommyboy weist ihn gerade in die Geheimnisse des Spiels ein, denn Mr. Big Bee wurde vom Komitee für das Turnier nominiert.

„Am besten ich mach immer Papier.“
„Nein, so darf man gar nicht denken.“
„Klar, weil der Gegner das auch weiß.“
„Eben. Der Gegner weiß, dass du es weißt und jeden Schritt, den du weiter denkst, denkt der Gegner mit.“
„Aber was dann?“
„Du musst eben blitzschnell entlang dieser Endlosschleife vorandenken.“
„Ja, und dann?“
„Keine Ahnung, aber auf jeden Fall kein Papier. Besser Stein, das kommt unerwartet und zeugt von Selbstbewusstsein.“
„Warum nicht Schere?“
„Von mir aus auch Schere, aber der Gegner darf dir das nicht ansehen. Am besten du denkst an Papier und machst dann Schere.“

Da zieht die Fee auch schon seinen Namen aus dem Pokal. Mr. Big Bee muss direkt gegen den mächtigen Helmut antreten. Was für ein Wahnsinn: er schlägt ihn 3:1! Tommyboy und ich liegen uns in den Armen. „Bring Glamour in die WG“, skandiert Mademoiselle Richeux. Der WM-Pokal ist sehr begehrt, denn seine Reputation zählt innerhalb der Szene beinah genauso viel, wie eine offen beglaubigte Affäre mit der Fee. Punkt 0.12 Uhr erreicht Mr. Big Bee das Viertelfinale. Besonders ich tue mich mit wüsten Beschimpfungen der gegnerischen Fans hervor. Um 0.47 Uhr heißt es dann Halbfinale. Was für eine Sensation! Leider fliegt Mr. Big Bee im Halbfinale raus. Aber immerhin ist er jetzt in Bochum angekommen. Sie wissen jetzt, wer wir sind. Wir brauchen uns nicht mehr zu verstecken.

Vertrauen

Ich sollte jetzt schleunigst ins Bett. Nein, nicht noch saufen mit My Baby Wants To Eat Your Pussy. Unbedingt brauche ich ein bisschen Schlaf, denn morgen gibt es viel zu tun. Vor meiner Wohnungstür hat jemand eine Flasche Jacquart hinterlassen. Wirklich sweet, aber auch gefährlich. Noch ein Schluck und ich würde morgen auf der Autobahn tot umfallen. So liege ich im Bett und kann nicht schlafen. Meine Nerven sind so überdreht, dass ich kein Auge zubekomme. Immer wieder schrecke ich beim Gedanken an die morgige Lesung auf. Aus purer Gehässigkeit hatte mich Tommyboy noch heute ganz großartig in der Tageszeitung angekündigt: „Carsten Marc Pfeffer liest Gedichte aus seinem Amsterdam-Zyklus“. Dabei weiß er genauso so gut wie ich, dass ich überhaupt keine Gedichte geschrieben habe. Ich wollte welche schreiben. Ja, das ist richtig. Ich war auch mehrere Wochen in Amsterdam, um den Beat einzufangen. Aber als ich zuletzt in meinen Entwürfen blätterte, hätte ich weinen können. Da stand nur Mist. „Wer brachte das Feuer? Heute ist es Rauch!“ – Fürchterlich. Das Gedicht über den Elektroschuppen Korsakow an der Lijnbaansgracht 161 könnte vielleicht noch gehen. Besonders der Epilog:

glockengiebel cruise grachten
langgestreckte leidsestraat
matzerazzi gegen planke
50 cent und schiebedach
jugend war jugend bleibt
blutsturz ecke prinzengracht
aspirin statt etikette
eine letzte zigarette
die atmung verflacht

Das geht doch schon ganz gut an, aber für eine Überarbeitung letzter Hand bedürfte es mehrerer Tage. Gedichte sind Arbeit. Aber Absagen will ich die Lesung auch nicht. Das sind so nette Leute beim FKT. Außerdem gibt es einen Brunch, und da ich eh nichts mehr zu essen im Haus habe und auch ansonsten total abgebrannt bin, könnte ich mich dort schadlos halten. Aber ohne Text geht das natürlich nicht. Also los jetzt. Raus aus dem Bett, den Champagner aufgemacht und noch einmal kurz an den Schreibtisch. Hab Vertrauen. Irgendetwas fällt dir immer ein.
Ich beginne einen Text, der in verschlungenen Prosaschleifen die Entwicklungsphasen meiner letzten Jahre thematisiert: „gegen darstellung“. So war es halt schon immer. Seit meiner Kindheit muss ich dauernd irgendwelche Geschichten erzählen. Und weil ich eben immer älter werde, fallen mir immer bessere Geschichten ein. Es ist perfekt. Besonders die Passage über Meike ist mir ausgesprochen allegorisch gelungen: „Ihre Finger brachen an meinem Glöckchen. Doch einmal hatte es geschlagen“, hehe. Immer wieder schichte ich nun die Phasen übereinander, bis der Verdichtungsgrad der beiden Seiten Prosa hoch genug ist, um als Gedicht durchzugehen. Dann erst spanne ich das Netz der Leitmotive. Schließlich rhythmisiere ich das Ganze noch, so gut ich kann und schraub ein bisschen an den Vokalen rum. Fertig. Als ich aufblicke ist es 9:30 Uhr. Sonntagmorgen. Prima. Dann kann es ja sofort weitergehen.

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Der Ruhrpilot

Recht: Jetzt doch Verurteilung für Redakteur von bo-alternativ.de…Pottblog

Recht II: Tumult um Bochumer Tortenprozess…Der Westen

NRW: Versuchslabor für Linke und SPD…Welt

NRW II: „Es mußte halt in 140 Zeichen passen“…Mediaclinique

VRR: Bahn fürchtet um lukrativen Regionalverkehr…FTD

Ruhr2010: Wird aus dem Still-Leben  Picknick an der Emscher…Pottblog

Ruhrgebiet: Schnellerer Kohle-Ausstieg gefährdet 20.000 Jobs…Welt

Bochum: Fiege Kino Open Air…Pottblog

Essen: Anziehungskraft für Kreative…Der Westen

Essen II: Unprojekte-Festival rund um den Kopstadtplatz…Der Westen

Umland: Initiative zur Aufnahme eines Kontingents iranischer Flüchtlinge…Zoom

„Zollverein soll nicht profanisiert werden“

Journalisten, die Zollverein fotografieren möchten, brauchen eine Fotogenehmigung. Und wer Werbebilder machen will, hat es ganz schwer.

Das Weltkulturerbe Zollverein kam dem Steuerzahler bislang teuer zu stehen: Über 160 Millionen Euro wurden in den Pütt und die alte Kokerei gesteckt. Heute sind Zollverein und der Oktopus Paul  die meistfotografierten Motiv des Ruhrgebiets. Der Doppelbock mit den vier Förderrädern wurde zum Symbol des Reviers. Kaum ein Bericht im Kulturhauptstadtjahr  ohne den Zechenturm.

Nun gibt es Ärger um die Bergwerks-Bilder. Der Deutsche Journalistenverband wirft der Stiftung Zollverein vor, Fotografen abgemahnt zu haben:

Der Deutsche Journalisten‑Verband hat als nicht hinnehmbar kritisiert, dass die Stiftung Zollverein Fotografen abmahnt, die Bilder der Zeche Zollverein auf ihren Internetseiten veröffentlichen. Den Hinweis auf eine angebliche Kostenpflichtigkeit einer Veröffentlichung von Bildern der Zeche, einem der bedeutendsten Industriedenkmäler der Welt, hält der DJV für geradezu grotesk. Es sei paradox, dass man einerseits das Bild einer weltoffenen europäischen Kulturhauptstadt-Region abgeben wolle, andererseits die Panoramafreiheit missachte.

Gegen die Vorwürfe wehrt sich Zollverein-Sprecher Rolf Kuhlmann: „Wir haben bislang niemanden abgemahnt“ sagt er auf Anfrage der Ruhrbarone. Überprüfen lies sich das nicht mehr. Beim DJV war vorhin niemand mehr zu erreichen. Privatfotos, sagt Kuhlmann, seien kein Problem, aktuelle Berichterstattung auch nicht. Ansonsten gilt: „Wer ausserhalb der aktuellen Berichterstattung fotografiert, braucht eine Genehmigung.“ Und die kann dauern. Zollverein empfiehlt eine Bearbeitungszeit von fünf Tagen einzukalkulieren. Das künftig Verstösse gegen die Hausordnung geahndet werden, wollte Kuhlmann nicht ausschließen.

Die Fotogenehmigung erhält man allerdings nicht, wenn man die zentrale Sichtachse für Werbeaufnahmen nutzen will. Was eigentlich eine gute Einnahmequelle für die teure Kulturzeche sein könnte, lehnt Kuhlmann ab: „Zollverein soll nicht profanisiert werden. Das sind wir den Bürgern schuldig, die den Erhalt Zollvereins mit vielen Millionen finanziert haben.“

Werbeaufnahmen können allerdings auch Fotos sein, mit denen Fotografen für sich werben – zum Beispiel mit schönen Zollverein-Bildern.  Die sind genehmigungspflichtig und können  Geld kosten – wenn sie denn erlaubt werden.

Die Betreiber der Website Comcologne können die Position von Zollverein nicht nachvollziehen:

Wenn Journalisten etwa das Weltkulturerbe Kölner Dom fotografieren und mit den Fotos dann ihre Arbeit „bewerben“, wäre das immer auch Werbung für Köln und die Kirche. Die sollte man auch auf Zollverein im Dorf lassen.

Die Restriktionen gelten allerdings nur für Fotos, die auf dem Zollverein-Gelände gemacht werden. Ausserhalb gilt die Panoramafreiheit. Die Stiftung-Zollverein erweist dem Ruhrgebiet mit ihrer Haltung einen Bärendienst. Jedes Foto macht den Pütt bekannter, ist kostenlose PR.

Ein wenig erinnert mich Kuhlmanns Haltung an seine Zeit als Chef von Radio-Emscher-Lippe. Damals war er stolz darauf, dass der Gelsenkirchener Lokalsender kein Schalke-Sender war. Leider war er auch so erfolglos, dass seine Aussenstudios in Bottrop und Gladbeck geschlossen werden mussten.

Kunst in Essen

Die Besetzung und gleichzeitige kulturelle Nutzung des Essener DGB-Hauses an der Schützenbahn ist gescheitert. Verwunderlich ist dieser verzweifelte Versuch, Raum für junge Kunst zu schaffen, nicht. In Essen mangelt es an Möglichkeiten und die Stadt schaut im Kulturhauptstadtjahr zu. Von unserem Gastautor Marc Limbach

Sucht man auf den städtischen Internetseiten im Bereich Kultur nach Hinweisen für Förderungsmöglichkeiten oder Ausstellungsmöglichkeiten, trifft man nach langem Suchen auf eine einzige Datei, die auflistet, was es in Sachen Bildender Kunst gibt. Von der reinen Quantität könnte der junge Künstler erfreut sein. Spätestens nach dem glücklosen Klinken-Putzen dürfte er ernüchtert sein. Solche kreativen, urbanen Nutzungsmodelle im Kollektiv, wie sie die „Freiräumer2010“ umsetzen wollten, scheinen nicht in das Strickmuster zu passen.

Wer Künstler in Essen ist, hat meist ein Atelier in einer der Randlagen. Oder er ist in einer Atelier-Gemeinschaft, das macht die Miete erschwinglicher. In den wenigen, städtischen Ateliers ist kein Platz mehr – vorausgesetzt sie existieren in Zukunft überhaupt noch, da Gutachter einige in einem umstrittenen Bericht auf die Abschussliste gesetzt haben. Fazit: Wer in kleinen Dimensionen arbeitet und sich die Miete leisten kann, sollte fündig werden. Ein Punkt, der die jungen Künstler wohl vor Schwierigkeiten stellt, da ein Verkaufsdruck wohl kaum zu vermeiden ist. Außer man ist Hobby-Künstler, Lehrer oder Hausfrau mit solventem Ehemann.

Schwieriger sieht es beim Thema Ausstellung oder Galerie aus. Die bereits bestehende freie Szene mit entsprechenden Räumlichkeiten zeichnet sich eher durch personelle Konstanz, was die lokalen Teilnehmer ihrer Ausstellungen betrifft, als durch Neuerungen aus. Wer nicht mit qualitativen, will sagen verkaufsträchtigen Arbeiten bei Essener Galeristen vorstellig wird und als Arbeitsort Essen angibt, dürfte gegen Windmühlen ankämpfen. Im Programm der Galerien, wie es der aktuelle Gallery-Guide zeigt, sind wenige Beispiele mit Lokalkolorit zu entdecken. Für junge Künstler könnte diese Broschüre eine Argumentationshilfe darstellen, wenn sie hören sollten, es sei kein Geld zur Unterstützung dar. Zur Hälfte hat das Kulturbüro den oben genannten Guide für die Galeristen mitfinanziert. Die Kritik aus den Reihen freier, städtischer Kulturträger, die sich über ihre Nichterwähnung bzw. -berücksichtigung mokierten, verhallte ungehört.

Ein weiteres Beispiel ist das Forum Kunst und Architektur am Kopstadtplatz, das die Vereine „Ruhrländischer Künstlerbund“, „Werkkreis bildender Künstler“, „Bund Deutscher Architekten“ und „Kunstverein Ruhr“ bespielen. Die beiden Erstgenannten sind Künstlervereine. Sie rühmen sich mit der Wahrung von Folkwang‘schen Traditionen. Ihre Attraktivität für junge Künstler ist durch die altbackenen Strukturen und ihre wenig nachvollziehbare Qualitätsdoktrin eher zu verneinen. Kehrseite der Medaille: Wer bei ihnen Mitglied ist, kann sich präsentieren. Sei es bei Vereinsausstellungen im Forum, städtischen Künstleraustauschprogrammen oder ähnlichen Projekten. Freie Künstler gucken in dem Fall in die Röhre. Eine Beteiligung erhält man hier nicht nur über Qualität, sondern über die Vereinszugehörigkeit. Ausschreibungen sucht man vergeblich. Ein repräsentatives Abbild städtischen Kunsttreibens sieht anders aus.

Kommen wir zurück zu „Freiraum2010“. Für ihre Aktion haben sie sich ein vortreffliches Viertel ausgewählt. Die nördliche Innenstadt, die bedingt durch die Pläne des Investors Wolff vor Aufbruchsstimmung geradezu überläuft, leidet an vielen Leerständen. Das DGB-Haus an der Schützenbahn ist darunter eine große Örtlichkeit unter vielen. Auch die Stadt hat in der Nähe eine leere Immobilie, das ehemalige Gesundheitsamt. Weitere, schon länger leer stehende Gebäude ließen sich problemlos im Stadtgebiet finden. Diese „Filetstückchen“ hat die städtische Immobilienverwaltung GVE bis dato nicht an den Mann bekommen. Vielleicht sollten die „jungen Wilden“ einmal den Essener Kulturdezernenten Andreas Bomheuer behelligen. Oder sie warten bis August. Dann soll im Rahmen der „Unprojekte 2010“ die nördliche Innenstadt belebt werden. Temporäre Bespielung einiger, leerer Ladenlokale steht dabei auch auf dem Programm und die Vermieter haben dem sogar zugestimmt. Die Federführung dafür hat übrigens die Kreisgruppe Essen des Bundes Deutscher Architekten inne.

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Ruhrgebiet: Mittelmaß als Religion

Viele Menschen im Ruhrgebiet haben eine Menge Ideen. Und viel Mut. Sie sollten gehen. Das Ruhrgebiet kann mit ihnen nichts anfangen. Sie stören hier einfach nur.

Man kann im Ruhrgebiet hervorragend leben. Wenn man nicht allzu viele Ambitionen hat, zum Beispiel. Oder im öffentlichen Dienst beschäftig ist. Ja, hier ist es grüner als viele denken. Die Mieten sind günstig. Man findet auch in den Innenstädten einen Parkplatz. Es gibt Theater. Die Karten sind nicht teuer. Der Pferdefreund weiß die Reitwege im Ennepe-Ruhr Kreis zu schätzen. Auch ein Kleingarten ist zu haben. Das Reihenhaus in einer mittleren Lage gibt es für knapp 200.000 Euro. Die Kriminalitätsrate liegt auf dem Niveau süddeutscher Kleinstädte. Und der Himmel ist blau.

Ja, man kann hier gut leben. Man muss sich nur an ein paar Dinge gewöhnen. Daran, dass viele wegziehen zum Beispiel. Nach Köln, Hamburg oder München. Es geht hier nicht um einzelne Berufsgruppen, es geht um Menschen, die etwas machen wollen. Es wird ihnen hier nicht verboten. Aber sie werden nicht geschätzt.

Ich war in den letzten Tagen ein paar Mal in dem besetzten Haus in Essen. Gute Leute. Künstler. Nett. Intelligent. Viele Ideen. Im Umgang miteinander waren sie freundlich, rücksichtsvoll. Es waren genau die Leute, von denen es im Ruhrgebiet viel zu wenige gibt. Der DGB hat ihnen mit der Räumung gedroht. Eigentlich ein Skandal. Das Haus steht seit Jahren leer und wird noch Jahre leer stehen. Es ist nicht zu vermarkten. Von der Stadt hat sich keiner für die Besetzer interessiert. Ruhr2010? Nichts. Egal. Von denen erwarte ich es auch nicht anders.

Die Stadt Essen will mit den Künstlern nach einem neuen Raum suchen. Wird sie nicht. Städte im Ruhrgebiet interessieren sich nur für Fördergelder. Gibt es dafür nicht. Das Thema ist der Stadt Essen egal. Die Künstler stören. Wie gut, dass sie kaum einer beachtet hat. Sie werden gehen. Nach Köln, Düsseldorf, Hamburg oder Berlin. Das sollten sie auch tun. Sie haben viel zu viele Ideen. Solche Leute braucht man im Ruhrgebiet  nicht.

Und so Leute gibt es in vielen  anderen Städten im Revier auch. Es sind oft die Klügeren. Die Unbequemen. Sie sind in keiner Parteijugend und nur selten gewerkschaftlich organisiert.  Warum auch? So etwas haben die meisten von ihnen auch nicht nötig. Immer, wenn ich welche von diesen Leuten treffe, werde ich etwas wehmütig. Ich möchte mich von ihnen verabschieden, ihnen alles Gute wünschen obwohl ich sie meistens nicht kenne. Das ging mir in der Goldkante so. Oder auf den sehr feinen Veranstaltungen der Kritischen Kulturhauptstadt, die ich anfangs unterschätzt habe. Ich will mich verabschieden, weil ich weiß, die meisten von ihnen werden gehen. Weil es hier keine Perspektive für sie gibt, später auch keine Jobs und vor allem keine Wertschätzung. Die Mittelmäßigkeit ist die Religion des Ruhrgebiets. Wer sich dem Mittelmaß nicht unterordnen will, sollte gehen. Wie Christian, Arnold, Atta, Sebastian, Tina, Mark, Nicole, Andreas, Frank, Astrid, Martin, Felix, Konrad, Sabine, Christoph, Franz, Philipp…