Gerhard Cromme gilt als Saubermann der deutschen Wirtschaft: Als Chef der Regierungskommission für Corporate Governance hat er die Großkonzerne vor verbindliche Gesetze bewahrt. Kritik perlt an ihm wie an Teflon ab: Entweder, weil er eigens ein Rechtsgutachten in Auftrag gibt oder weil er sich kurzerhand mit Chefredakteuren oder Verlegern telefonisch verbinden lässt. Doch die Strukturprobleme bei Thyssen liegen immer noch brach.
Wäre Gerhard Cromme nicht in Vechta geboren, er hätte glatt als Prototyp des Rheinländers durchgehen können: Er gibt sich nach außen verbindlich und im Small Talk geübt. Der hoch gewachsene Manager gibt seinem Gesprächspartner stets das Gefühl, als wenn es in diesem Moment nichts Wichtigeres geben würde als dieses Gespräch und diesen Gesprächspartner. Gerade ältere Damen finden an ihm Gefallen.
Kaum ein Thema, zu dem nicht was zu sagen hätte. Er plaudert gerne und ausführlich, parliert auf jedem glatten Parkett und erhöht sich gerne durch Kritik an Unmoralischem und lobt das moralisch Gute, den ehrbaren Kaufmann etwa. Raffgierige Manager gängelt er gerne. Dann redet er wie am Wochenende in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ von Augenmaß, das vielen Managern abhanden gekommen sei und von notwendigen „Mäßigung“ bei den Gehältern.
Dass er zu der kleinen Gruppe von Aufsichtsräten gehört, die in Deutschland als Spitzenverdiener gezählt werden können, verschweigt der 1943 geborene Cromme. Aber wenigstens zeigt er sich ehrlich, wenn er in dem Interview betont, dass es unter Managern keine Freundschaft geben könne: „Echte Freundschaft wächst da, wo es keine Eigeninteressen gibt; unter Managern verfolgt jeder auch Unternehmensinteressen, insofern rede ich da lieber von freundschaftlichen Beziehungen..“. Vor allem verfolgt Cromme eines am intensivsten und das schon seit Jahrzehnten: seine eigenen Interessen. Kaum einer weiß das so gut, wie der frühere Chef des Dortmunder Stahlkonzerns Hoesch, Kajo Neukirchen, dem mit Cromme angeblich eine langjährige freundschaftliche Beziehung verbunden haben soll. Anfang der 90er Jahre kaufte Cromme ihm dann in einer Nacht- und Nebelaktion den Konzern unter dem Hintern weg – und setzte ihn vor die Türe. Seit dem geben sich Top-Manager in den deutschen Vorstandsetagen vorsichtig, wenn sie es mit Cromme zu tun bekommen.
Cromme ist mal wieder in die Kritik geraden: Das ist an für sich nichts Ungewöhnliches, und die Medien sind in den letzten Jahren mit dem Aufsichtsratschef von ThyssenKrupp teilweise heftig ins Gericht gegangen. Doch an Cromme perlte das stets ab wie Spiegeleier an einer Teflon-Pfanne. Denn entweder zückte der Herr der (Krupp-)Ringe ein Rechtsgutachten aus dem Hut. Oder er Griff gleich zum Telefonhörer, oder ließ es einen Getreuen machen, und klagte Chefredakteuren und Verlegern sein Leid über kritische Redakteure. Das ging so weit, dass unter Journalisten in Düsseldorf schon die Gründung eines „Clubs der Cromme-Geschädigten“ (CCG) erwogen wird. Nur die gefälligen Medien kamen gut weg – besonders eine Zeitung in Frankfurt und eine in Hamburg.
Das Heikle in der aktuellen Cromme-Kritik-Krise ist, dass viele Medien und Experten dem Aufsichtsratschef von ThyssenKrupp nun vorwerfen, gegen den eigenen Kodex verstoßen zu haben, als er einen Top-Manager von Siemens nach Düsseldorf geholt hat – als zukünftigen Chef von ThyssenKrupp. Immerhin stand Cromme Jahre lang der Regierungskommission für gute und transparente Unternehmensführung (Corporate Governance) vor. Manche sagen, damit hätte man den Bock zum Gärtner gemacht.
Auf jeden Fall verliert Siemens jetzt, wo Cromme Aufsichtsratschef ist, einen seiner Top-Manager und ThyssenKrupp auf der anderen Seite, wo Cromme ebenfalls das Kontrollgremium führt, gewinnt einen Manager mit einem beachten Ruf. Heinrich Hiesinger wird im nächsten Januar den Dauer-Vorstandschef Ekkehard Schulz an der Spitze des Ruhr-Konzerns ablösen. Viele werfen Cromme daher vor, die Führungsprobleme bei Thyssen auf Kosten von Siemens zu lösen.
Und weil Cromme diesmal ja einen guten Überblick bei Siemens hatte (bei der Korruptions- und Schmiergeldaffäre bei Siemens hatte Cromme das vor einigen Jahren als Aufsichtsratsmitglied wohl noch nicht), brauchte Cromme auch keinen Headhunter, wie das sonst so üblich ist, der nicht nur einen geeigneten Kandidaten sucht, sondern auch eine ausführliche Bewertung der Person, seiner Management-Stärken und Schwächen analysiert. „Nein“, sagte Cromme in dem Interview mit der Frankfurter Zeitung, die Cromme und Thyssen wie der SPIEGEL stets wohl gesonnen ist. Ein Headhunter wäre nicht eingeschaltet gewesen. „Ich habe mich mit diesem Thema die letzten zwei, drei Jahre intensiv beschäftigt“. Und mit Alan Hippe hatte Cromme sogar einen geeigneten Kandidaten vom Autozulieferer Continental nach Düsseldorf geholt. Hippe galt als einer von drei Kronprinzen und hätte auch zu anderen Konzernen gehen können, um dort mittelfristig Chef zu werden. Warum ist er also zu ThyssenKrupp gegangen, wenn nicht, um dort den unübersichtlichen Gemischtwarenladen, der im vorigen November von der Rating-Agentur Standard&Poor’s auf Schrott-Niveau heruntergestuft wurde, zu übernehmen?
Die Herabstufung auf das Niveau von Griechenland war ein herber Rückschlag, aber auch ein Zeichen, dass Cromme als Aufsichtsratschef den Konzern und die milliardenschweren Kostenexplosionen bei den Neubauten von Stahlwerken in Brasilien und den USA nicht im Griff hat. Doch auch dafür gibt es mittlerweile ein Rechtsgutachten im Konzern, das besagt, dass das Management für die Kostenexplosion nicht verantwortlich gemacht werden kann – und der Aufsichtsrat erst recht nicht. Denn der Aufsichtsrat kann ja nur prüfen, was der Vorstand ihm vorlegt. Kontrolle sieht anders aus.
Auch bei der Auswahl des neuen Vorstandchefs hat Cromme sich natürlich an Recht, Gesetz und den Corporate Governance Kodex gehalten – sagt ein Rechtsgutachten. Und in der Tat ist es so, dass der Kodex solche Personalabwerbungen nicht reglementiert. Auch wenn man den berühmten „Geist der Gesetze“ bemüht, wird es schwierig sein, Cromme ein Fehlverhalten nachzuweisen. Wie immer ist sich der Manager bewusst, dass er einen Ritt auf der Rasierklinge macht – und daher achtet er auch penibel darauf, dass er nicht auf die falsche Seite fällt.
Problematischer aber als die Frage, ob Cromme nun ein Fehlverhalten nachzuweisen ist oder nicht, ist die Frage, ob er mit dieser Personal-Entscheidung die eigentlichen Probleme bei ThyssenKrupp gelöst oder noch weiter forciert hat? Offiziell betonen Cromme und auch Schulz, dass keiner der drei Kronprinzen das Unternehmen verlassen werde, nur weil mit Hiesinger ein externer Kandidat den Vortritt erhalt hat und kein interner Manager, der das Unternehmen, seine Probleme und die Tretminen schon kennt. Für Cromme ist die Berufung eines externen Kandidaten ideal: Denn er sichert sich damit wie schon bei Siemens eine gewisse Loyalität des Neuen. Hiesinger ist zwangsweise wie damals Peter Löscher bei Siemens auf seinen Aufsichtsratschef angewiesen. Er dürfte es ihm wohl mit Loyalität zurückzahlen. Und weil Cromme ein Kontrollfreak ist, dem es vor allem um sein positives Image geht, schickt er mit Jürgen Claassen einen Getreuen in den Vorstand, der ihn schon seit Jahrzehnten bei so manchen Problemen geholfen hatte. Claassen, der bisherige Generalbevollmächtigte des Konzerns, der es in der Mitarbeiterzeitung gelegentlich auf mehr Fotos bringt als der Vorstandschef oder der Aufsichtsratschef, soll künftig die Konzernentwicklung verantworten. Vermutlich aber noch mehr. Doch dazu hüllt man sich beim Hintergrundgespräch, das Cromme extra aus Anlass der Hiesinger-Personalie führte, in Schweigen.
Dass es aber beim größten deutschen Stahlkonzern rumort, wird auch durch den neuen Vorstandschef nicht gelöst. Denn anders als Cromme und Schulz betonen, scheint das Trio der Übergangenen doch nicht so harmonisch zum Konzern zu stehen, wie sie sich das wünschen. Zumindest bei einem Konzern wurde ein Thyssen-Vorstand von einem Personalberater bereits als „veränderungswillig“ angepriesen. Doch sollte etwa der aktuelle Stahl-Chef Edwin Eichler das weite Suchen, hätte Thyssen innerhalb von 24 Monaten die drei wichtigsten Stahl-Experten verloren. Bei Konkurrenten wird dieses Szenario längst als „Horrorvorstellung“ beschrieben, was nicht unbedingt zum Nachteil der Wettbewerber sein muss. Denn mit Karl-Ulrich Köhler hat gerade der frühere Stahl-Chef von Thyssen beim britischen Konkurrenten Corus angeheuert – und bringt alle internen Thyssen-Planungen und Strategien frei Haus mit.
Und auch die Frage, was mit Cromme als Aufsichtsratschef von Thyssen passiert, ist noch nicht geklärt. Seit Jahrzehnten wird Cromme schon angedichtet, dass sein eigentliches Ziel ist, den letzten lebenden Ruhrbaron, Berthold Beitz, als Chef der einflussreichen und mächtigen Krupp-Stiftung zu beerben. Beitz, der inzwischen die 90 Jahre deutlich überschritten hat, wird seine Nachfolge wohl schon geregelt haben. Aber ob es wirklich auf Cromme hinausläuft? Zumindest einige wichtige Leute in den Ruhr-Konzernen bezweifeln dies, bringen immer wieder eine andere Variante ins Gespräch – nämlich, dass Schulz Beitz im Amt folgen könnte und Cromme den Konzern als Aufsichtsratschef weiter betreuen soll. Es ist eine gewagte These.
Viel wahrscheinlicher ist, dass Cromme den Chefposten auf der Villa Hügel für sich reklamiert und ihn auch erhalten wird. Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass Cromme dann auch Aufsichtsratschef bleibt. Immerhin wäre er dann als Vertreter eines Minderheitsaktionärs, der Krupp-Stiftung, in einem ständigen Interessenkonflikt, ob er sich nun für das Unternehmen oder die Stiftung als Chef des Kontrollgremiums einsetzen soll. Doch gerade solche Interessenkonflikte soll der Kodex ausschließen. Viele sind daher gespannt, wie Cromme sich entscheidet und welches Rechtsgutachten er dann wieder hervor holt.
Deshalb kursiert im Konzern auch schon eine andere Variante: Schulz wird nicht nur neuer Chefkontrolleur bei RWE und löst damit im nächsten Jahr den langjährigen Bayer-Chef Manfred Schneider ab. Schulz könnte auch neuer Aufsichtsratschef bei ThyssenKrupp werden. Das zu realisieren, wird nicht ganz einfach. Nach dem Gesetz ist ein solcher Übergang eigentlich gar nicht vorgesehen. Zwei Jahre lang müsste Schulz eine Ehrenrunde drehen – es sei denn, ThyssenKrupp nutzt ein Schlupfloch. Sollte allerdings eine nötige Anzahl von Aktionären einen Wechsel aus dem Vorstand in den Aufsichtsrat fordern und die Hauptversammlung zustimmen, könnte Schulz direkt wechseln. Ausreichend Stimmen hätten Schulz und Cromme schon beisammen: die Krupp-Stiftung könnte ihren 25 Prozent-Anteil in die Waagschale werfen, damit Schulz direkt wechseln kann. Mit zusammen zwei Chefposten in deutschen Großkonzernen würde Schulz sogar noch konform gehen mit dem Cromme-Kodex. Ein neues Rechtsgutachten wäre da gar nicht nötig. Thyssen könnte sich das Geld sparen und damit andere Löcher stopfen. Genug Geldvernichter gibt es ja im Konzern.