Die Landtagswahl aus der Perspektive des parteipolitischen Machtzentrums der Stadt in der Mitte des Ruhrgebiets. Seit zwanzig Jahren wird hier bereits in einem Pressezentrum für Zahlen, Bilder, Snacks und Getränke gesorgt, wenn Kreuzchen gezählt werden. Heute könnte es noch etwas länger dauern als je zuvor.
22.00 Uhr: Dieses Zugehörigkeitsgefühl zu Parteien muss anscheinend auch etwas Schönes haben: Ganze Scharen von SPDlern verlassen gemeinsam den Sitzungsraum, nachdem klar ist dass ihr Wahlbezirk verloren hat. Andere interessiert eher das große Ganze, auch wenn sie ebenfalls eher Lokalpolitiker sind. Überall finden sich Anknüpfungspunkte, Identifikationsmöglichkeiten. Und durch die Koalitionsmöglichkeiten wiederum wird alles auch noch einmal komplexer als zum Beispiel als Anhänger von Fußballvereinen oder Popgruppen. Nun gut, die Big Band CDU wird jetzt auch mal wieder den Produzenten bzw. Dirigenten wechseln, aber auch das sorgt ja für total spannende Prozesse. Merke: Das ist Demokratie, langweilig wird sie nie!
Apropos: Die kleinen Parteien: In Essen (und bei den Zweitstimmen) bekommt Pro NRW 1,6%, die Piraten 1,3%, die NPD 0,9%, die Tierschutzpartei 0,7%, die Rentner und die Republikaner um die 0,5%. 338 Menschen wählten Die Partei. Punkt 22 Uhr erreicht das Ergebnis des letzten Essener Wahlbezirkes das Pressezentrum, und die Mitarbeiter vom Amt für Statistik machen mal Feierabend und freuen sich, die professionelle Neutralität aufgeben zu dürfen. Es wird also nicht später als sonst, auch gut. Sollen sie doch alle feiern, was auch immer.
21.05 Uhr: Selektive Wahrnehmungen: Bei den Linken zählt anscheinend vor allem der Einzug in den Landtag, eine Beteiligung an der Regierungsmacht scheint für die Basis kaum vorstellbar. Hier herrscht internationales Flair, mit Essen aus dem Iran und der ganz klar emotionalsten Stimmung. Ein älterer SPD-Grande äußert im Rahmen eines Interviews: „Jo, stimmt. Ein bisschen verloren haben wir ja auch.“ Bei den Grünen wird diskutiert, wie wohl die hiesigen KandidatInnen genau abschneiden werden, in der „Raucherlounge“ mit Blick auf die Synagoge und auf den Gängen der Etage der beiden größten Parteien gehen einige Stereotypen verloren: Ein massiger Angetrunkener trägt ein CDU-Shirt labberig aus der Hose und starrt ungläubig auf sein Handy, Sozialdemokraten tragen ihre alten Anzüge wie mit neuem Stolz. Aus Pietätsgründen geht der Reporter bei den Christdemokraten nicht rein.
20.15 Uhr: Bei den Grünen sagt jemand im Laufe der Tagesschau: „Dem Gabriel traue ich ja nicht über den Weg. Das ist so ein kleiner Schröder.“ Hier wird WDR geschaut, bei der Linkspartei erstaunlicherweise ZDF (Nachtrag von 21.00 Uhr: Jetzt dann doch mal WDR.). Die klare Absage unter Frauen von Löhrmann gegen Rüttgers im Rahmen der Sendung ist die erste eindeutige Aussage des Abends. Im Rathaus finden sich immer mehr Gäste ein, mit Siegerinnen und Siegern feiert es sich ja ganz gut. Einige Polit-Besuche finden auch statt, fast nach Hackordnung, also eher mal von links nach grün als von SPD nach links.
19.40 Uhr: Für Essen sieht die Statistik nach ausgezählten 260 von 438 Stimmbezirken knapp 50% der Erststimmen für die SPD, knapp 30% für die CDU. Die Vorstellung, es gebe keine Volksparteien mehr, ist also ein wenig abstrus. Erstaunlich ist auch die klare Zufriedenheit nur aufgrund von Stimmengewinnen, obwohl weder die stärkste Partei noch irgendeine mögliche Koalitionsfrage geklärt ist. In Kreisen der SPD hält man Schwarz-Grün für undenkbar, die Rolle der Linkspartei wird kaum diskutiert. Wie wäre es denn zum Beispiel, wenn ein Ex-WASGler mit Mandat einfach noch einmal überläuft, oder zwei, oder drei? Natürlich nur, wenn es nicht reicht für Rot-Grün. Spannende Idee. Und vielleicht ist das schon immer ein Grund gewesen für diese gewissen Kaderstrukturen bei Die Linke. Eine allzu knappe Mehrheit für Rot-Grün wäre zudem auch nicht wirklich das Wünschenswerteste für eine Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Das wäre doch auch einmal eine nette Option: Keine Koalition, keine Tolerierung, aber die dringende Notwendigkeit, sich doch hier und da mal abzustimmen, nur für den Fall dass ein Parlamentarier mal krank wird oder so. Und der Wählerwille, der Wählerwille: Rüttgers soll doch abgelöst werden, oder? Wie denn jetzt, liebe SPD? Ist das so, liebe Grüne? Genau: Es bleibt spannend.
19.10 Uhr: Vor den Pforten erzählt ein alt gedienter Sozialdemokrat, dass sein Vater in Kraft und Gabriel wieder die SPD wieder erkennen kann, die er in der Person von Schröder (Gerhard, nicht Kristina) irgendwann nicht mehr gesehen hat. Die SPD habe so viele Wählerinnen und Wähler zurück gewonnen. Eine Große Koalition hält der SPDler für sehr unwahrscheinlich, da weder Rüttgers noch Kraft eine entsprechende Rolle zugemutet werden könne. Was er nicht erwähnt: Die Rettung des Abendlandes vor der Linkspartei könnte natürlich auch mit Kraft, aber ohne Rüttgers vonstatten gehen. Bei den Linken (alle Fotos: Jens Kobler) muss selbst ein alter Hase des Essener Politgeschehens eingestehen, dass er mit einer möglichen Rot-Grünen Koalition beim gleichzeitigen, nie wirklich angezweifelten Einzug der Linkspartei in den Landtag, dann doch nicht gerechnet hat. Er fände es gar nicht schlimm, wenn die SPD sich zwischen den Optionen Rot-Rot-Grün und Juniorpartnerin unter der CDU entscheiden müsste. Bei den Grünen kommt einiges an anscheinend lange unterdrückter Animosität gegen Rüttgers zum Vorschein, ansonsten geben sich dort alle eher bescheiden bis abwartend. Noch ist ja leichten Herzens in keine Richtung zu claqeuren. Als im TV gesagt wird, „zur Minute“ gebe es eine Mehrheit für Rot-Grün, ruft jemand im Pressezentrum: „Gut! Ausschalten! Feierabend!“ Die Stimmung im Rathaus ist zu drei Vierteln sehr gut.
18.15 Uhr: Es gibt vier Gruppen von Parteianhängern, die sich im zweithöchsten Rathaus Europas (?) um die Monitore und Leinwände scharen. Die FDP ist nicht da. Bei Linkspartei und Grünen ist kein allzu großes Publikumsaufkommen zu verzeichnen, bei SPD und CDU scharen sich die Anhänger um ihre Gallionsfiguren. Natürlich sind die meisten Kandidatinnen und Kandidaten für den Landtag in Düsseldorf, aber der SPD-OB und andere bekannte Gesichter sind anwesend. Dann die Prognose: Es wird sehr spannend, alle richten sich auf den eh schon erwarteten langen Abend ein. In Essen jedenfalls ist die Wahlbeteiligung um einiges zurück gegangen, das neue Wahlsystem sorgt für zusätzliche Spannung und Ungewissheit. Geglaubt wird überall gerne einiges, aber im Grunde wissen alle: Erst spät am Abend werden die Zahlen sprechen. Gute Laune bei Links und Grün ist natürlich schonmal vorhanden.