Am 2. Juni 1920 wurde Marcel Reich-Ranicki geboren. Wir sprachen mit seinem langjährigen Freund und Wegbegleiter Hellmuth Karasek über Leben, Streit und Freundschaft des einflussreichsten deutschen Literaturkritikers.
Herr Karasek, Marcel Reich-Ranicki ist für seine öffentlich ausgetragenen Fehden mit ehemaligen Freunden von ihm wie Joachim Fest, Martin Walser, Günter Grass oder Elke Heidenreich berühmt und berüchtigt. Sie hingegen sind bereits seit mehreren Jahrzenten mit ihm eng befreundet. Was macht Ihre Freundschaft aus?
Ich müsste von allen guten Geistern verlassen sein, wenn ich nicht erkennen würde, welch wichtige Rolle Marcel Reich-Ranicki für mich gespielt hat und was er mir alles ermöglichte. Zuerst ist er mein Mentor gewesen, dann wurde er mein Partner und schließlich ein hochgeschätzter Freund. Aber ich muss etwas zu den vielzitierten Fehden Reich-Ranickis sagen. Bei seinen Auseinandersetzungen mit Freunden konnte er immer mit mir rechnen. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass das Recht auf seiner Seite war.
Welche Auseinandersetzungen meinen Sie genau?
Zum Beispiel den Bruch mit Joachim Fest, dem früheren Herausgeber der F.A.Z. Das war eine ungeheuerliche Geschichte. Es war Fest, der Reich-Ranicki zur F.A.Z. holte, was eine großartige Idee war. Reich-Ranicki hat bis heute den besten Literaturteil dieser Zeitung produziert. Dann hat Fest im Historikerstreit die Position bezogen, dass die Verbrechen der Nazis an den Juden bloß die Kopie einer russischen Tat gewesen seien.
Hinzu kam, dass Fest auf Albert Speer hereingefallen war.
In Fests Biographie „Albert Speer“ wurde er, wohlgemerkt Hitlers engster Mitarbeiter, als besserer Teil Hitlers beschrieben, der von der Judenvernichtung nichts gewusst hätte. Dabei war Speer Rüstungsminister und in dieser Funktion hatte er die Ausbeutung und die Vernichtung der Juden systematisch betrieben. Doch damit nicht genug. Reich-Ranicki wurde zu einem Empfang Fests eingeladen und fand dort zu seiner Überraschung Speer vor. Reich-Ranicki und seine Frau waren genötigt, ihrem potentiellen Mörder die Hand zu geben. Und Speer hat dabei auch noch sarkastisch-freundlich reagiert. Sie sehen: Reich-Ranickis Fehden entbrannten oftmals an der entscheidenden deutschen Frage, wie Deutschland mit seiner Vergangenheit und dem größten Verbrechen der Geschichte, dem Holocaust, umging, in dessen Vorhölle Reich-Ranicki überlebt hatte.
Dies trifft ebenfalls auf seinen Streit mit Martin Walser zu. Vor kurzem wurden die Tagebücher des Schriftstellers aus den Jahren 1974-1978 veröffentlicht, die nicht weniger als das Zeugnis einer ungeheuren Verletzung sind. Reich-Ranicki hatte 1976 Walsers Roman „Jenseits der Liebe“ verrissen und seine Rezension mit „Jenseits der Literatur“ überschrieben.
Der harte Verriss allein wäre noch im Bereich des möglichen geblieben, wenn Walser seine Situation nicht in seiner Erwiderung mit dem Schicksal Reich-Ranickis im Ghetto verglichen hätte. Walser hat bis heute nicht eingesehen, dass es der verrückteste und maßloseste Vergleich war, den er jemals riskiert hat. Aus diesem Vergleich gingen seine Rede in der Paulskirche und sein antisemitischer Roman „Tod eines Kritikers“ hervor. Walser hatte sich aus einer berechtigten Enttäuschung unberechtigt verrannt – in eine politisch ganz und gar verhängnisvolle Weise.
Gab es Phasen, in denen Ihre Freundschaft von der Tatsache überschattet wurde, dass Sie die Napola, die nationalpolitische Lehranstalt, besuchten und somit als Kind nationalsozialistisch sozialisiert wurden?
Es gibt eine belächelte Formulierung von Helmut Kohl, die ich in Wahrheit für großartig halte: „Die Gnade der späten Geburt“. Ich hatte die Gnade der späten Geburt und damit verbunden musste ich mir die erschreckende Frage stellen: „Was wäre gewesen, wenn ich diese Gnade nicht gehabt hätte?“ Belastet hat diese Frage unser Verhältnis indes nie. Wir beide wissen zwar, was früher war, aber wir haben die sehr hilfreiche Neigung, nach vorne blicken zu können.
Wie und wann haben sie sich eigentlich kennengelernt?
Ich habe Reich-Ranicki bei den Tagungen der Gruppe 47 in den 60er-Jahren kennengelernt. Mit fiel sofort auf, wie wortgewandt und wortgewaltig er war. Und dass er sich eine hohe Autorität durch diese Wortgewalt und nicht zuletzt auch durch seine Biographie erworben hatte.
Was bewundern Sie an Ihrem Freund?
Vor zwei Tagen ist Bundespräsident Köhler zurückgetreten. Herr Köhler hatte das höchste Amt in Deutschland inne – auch wenn es gleichzeitig das machtloseste ist. Offenbar hat er es nicht verkraftet, dass er ein Bundespräsident ohne Autorität war. Reich-Ranicki hingegen bekleidet kein Amt, genießt aber dennoch eine ungemein große Autorität.
Gab es in Ihrer Freundschaft nie Gefühle der Konkurrenz zwischen dem Kritiker Karasek und dem Kritiker Reich-Ranicki?
Nein. Ich wurde neulich von Mathias Döpfner als Reich-Ranickis Adjutant bezeichnet und wurde gefragt, ob ich mich nicht mit meiner Rolle, die an Fritz Wepper in der Serie „Der Alte“ erinnerte, zurückgesetzt fühle. Darauf kann ich nur entwaffnend offen sagen: Ich habe nie gegenüber jemanden Neid empfunden, der 16 Jahre älter ist als ich.
In den Interviews, die Marcel Reich-Ranicki zu seinem 90. Geburtstag gegeben hat, wirkte er resigniert und geradezu gelangweilt vom Leben und der Literatur, die ihm zeitlebens ein Zufluchtsort gewesen war. Hat der von ihm hochgeschätzte Schriftsteller Thomas Bernhard Recht, als er schrieb, dass der Mensch nicht das ganze Leben nur in die Dichtung und in die Musik hineinflüchten könne, da am Ende eines Lebens naturgemäß die existentielle Langeweile steht?
Da ist sicher etwas dran. „Das Alter ist ein Massaker“, heißt es in Philip Roths Roman „Jedermann“ ganz treffend. Wenn Sie aber die ganzen Interviews gelesen haben, müssen sie sich vergegenwärtigen, dass da viel Frust darüber auftaucht, dass er sich in diesen Interviews endlos wiederholen muss. Nehmen sie allein das Interview vom Wochenende aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung…
… in dem Marcel Reich-Ranicki die Journalistin Johanna Adorján zum Beispiel wegen Ihrer Frage „Wohnen Sie zur Miete“ auflaufen lässt.
Das Interview ist fast schon ein satirisches Stück. Aber was die Wohnung von Reich-Ranicki betrifft: Auch ich war anfangs überrascht, wie bescheiden er in einer Neubauwohnung zur Miete wohnt. Materielles hat ihm nie etwas bedeutet. Übrigens habe ich immer darauf aufmerksam gemacht, dass die Geschichte seines genauen Wohnorts noch eine sehr ironische Pointe hat.
Sie spielen auf die Gustav-Freytag-Straße im Frankfurter Dichterviertel an, in der er wohnt?
Ja, Reich-Ranicki wohnt er nicht in der Heine- oder Thomas-Mann-Straße, sondern ausgerechnet in der Gustav-Freytag-Straße. Und Freytag ist immerhin der Autor von „Soll und Haben“, der antisemitischste Roman der Nach-Romantik mit seiner dem Antisemitismus entsprungenen Figur des Veitel Itzig.
Das Interview erschien ursprünglich auf Cicero