Der kretische Pope

Blick auf die Bucht von Matala mit den berühmten Höhlen

Wir waren zum ersten Mal auf Kreta. So ein paar alte Traditionen zu entdecken, hatten wir schon gehofft, schließlich hatten wir ja mal, lang, lang ist`s her, Alexis Sorbas gesehen und dachten, dass sich dort auf der Insel vielleicht doch noch etwas an Tradition erhalten hat. Von unserem Gastautor Helmut Junge

Aber selbst die ländliche Bevölkerung hat sich mittlerweile längst der modernen Zeit angepasst, und so ist uns außer ein paar schwarz gekleideten, sehr alten Frauen, die am Straßenrand Apfelsinen verkauften, zumindest optisch kein traditionelles Element aufgefallen. Die jungen Frauen und die jungen Männer jedenfalls waren nicht anders gekleidet als die, die wir üblicherweise in Deutschland antreffen. Alle sprechen Englisch und viele sogar Deutsch und sind sehr nett, besonders zu uns Deutschen. In den Städten gibt es Internet Cafés, so dass ich dort sogar die Diskussionen bei den Ruhrbaronen verfolgen konnte. Witzigerweise las ich dort sogar den Ruhrbaroneartikel über Südkreta. Es hat also zeitgleich mindestens zwei Ruhrbarone-Leser auf Kreta gegeben. Obwohl also rein äußerlich für einen flüchtigen Besucher nichts von der alten Tradition zu erkennen ist, hat es doch ein Erlebnis gegeben, dass ich in dieser Form nicht erwartet hätte.
Und das war ein kluger religiöser Schachzug.

Als wir eines morgens auf der Treppe in unserem Hotel in Rethrymno standen und Richtung Rezeption gingen, hörten wir die laute Stimme eines Priesters, der eine religiöse Zeremonie abhielt. Die Priester der griechisch orthodoxen Kirche werden allgemein Popen genannt. Sie gehören auf Kreta zum normalen Straßenbild und haben immer einen schwarzen Kittel an und tragen einen Zopf am Hinterkopf, dürfen aber im Gegensatz zur katholischen Priestern heiraten, denn die Trennung der beiden christlichen Kirchen erfolgte schon lange vor der Einführung des Zölibats.

Natürlich wunderten wir uns darüber, dort im Hotel einen Popen zu hören, und als wir näher kamen, konnten wir durch eine halb geöffnete Bürotür sehen, dass dort zwei oder drei Leute standen, und der Stimme dieses Popen lauschten. Den Popen selber konnten wir nicht sehen, hatten auch keine Ahnung, um was es bei dieser Aktion ging. In der Rezeption selbst war niemand anwesend. Wir legten unseren Zimmerschlüssel auf die Theke und machten, wie geplant, unseren Tagesausflug. Nachmittags kamen wir zurück und holten unseren Zimmerschlüssel in der Rezeption ab. Bei solchen Gelegenheiten machten wir mit der Dame an der Rezeption meistens einen kurzen Smalltalk. So auch diesmal. Dabei fiel mir wieder der Pope vom Vormittag ein. Wir fragten sie, ob sie wüsste, was der Priester am Morgen veranstaltet hätte. Ja, sie wusste es, schmunzelte , und erzählte uns, dass dieser Priester wegen ihrer Tochter da gewesen sei. Ihre Tochter hätte vor einigen Tagen ein Baby bekommen, und es wäre Tradition, dass eine Mutter bei so einer Gelegenheit, nach altem orthodoxen Ritus 40 Tage lang bei dem Kind bleiben müsste, und dabei die Öffentlichkeit zu meiden hätte.

Jetzt seien bei ihrer Tochter erst 12 Tage vergangen, aber ihre Tochter fühle sich erholt, und hätte zudem noch das Glück, dass sie ihr Kind bei ihrer Schwiegermutter gut versorgt unterbringen könnte. Außerdem wäre sie für ihren Arbeitgeber wichtig, so dass sie nicht so lange fehlen wollte. Beim Nachdenken über eine Lösung für dieses Problem, sei ihr der Gedanke gekommen, einen Priester zu engagieren, der durch eine religiöse Fürsprache bewirkt, dass ihre Tochter von dieser traditionellen religiösen 40 Tage Regel befreit wird. Der Priester sei praktischerweise in ihr Hotel gekommen, hätte das nun gemacht, und so könnte ihre Tochter unbesorgt in die Öffentlichkeit, und sogar wieder arbeiten gehen. Dabei lächelte sie verschmitzt, und wir hatten das Gefühl, dass sie sich freute, mit diesem Trick dem lieben Gott ein Schnippchen geschlagen zu haben.

Kampf der Religionen – oder doch nur ein Milieu-Problem?

Es ist ein heikles Thema, das immer wieder tabuisiert wurde. Und das aus gutem Grund. Zu schnell haben ewig Gestrige das Thema instrumentalisiert und grenzdebile Parolen geschwungen. Aus Angst vor den Rechten hat die politische Elite daher das Thema vermieden. Nun entpuppt sich diese Strategie als Bumerang: Offenbar gibt es einen Zusammenhang zwischen Religionszugehörigkeit und Gewaltbereitschaft.

Konkret lässt sich die Studie, die aus einem Forschungsprojekt des Bundesinnenministeriums und des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) hervorgegangen ist, auf einen Nenner bringen: Je größer die Bindung junger Männer an den Islam ist, desto größer ist ihre Gewaltbereitschaft. Zudem nehme mit der Religiosität auch die Akzeptanz von Machokulturen und die Nutzung gewalthaltiger Medien zu. Es ist inzwischen der zweite Bericht zu diesem Thema – und deckt sich teilweise mit der Kriminalstatistik, derzufolge die Zahl der Straftaten von Tätern mit Migranten-Hintergrund steigt.

Als Erklärungsansatz ziehen die Autoren Befunde des türkischstämmigen Religionswissenschaftlers Rauf Ceylan heran. Dieser hatte festgestellt, dass die Mehrheit der Imame in Deutschland den Rückzug in einen konservativen Islam fördert. Die meisten Geistlichen seien nur zeitweise in Deutschland, könnten kein Deutsch und deshalb keine positive Beziehung zur deutschen Kultur aufbauen. Für sie sei die Dominanz der Männer selbstverständlich. Verantwortlich für die Phänomene sei nicht der Islam selbst, meinte der zuständige Studienleiter Pfeiffer: „Das ist kein Problem des Islam, sondern der Vermittlung des Islam.“ Damit rückt er vorschnelle religiöse Urteil zurecht, die einen Kampf der Religionen sehen, anstatt tiefer zu blicken.

In dem Forschungsprojekt wurden im Zeitraum 2007/2008 bundesweit in 61 Städten und Landkreisen rund 45 000 Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse befragt. Ein Schwerpunkt war die Frage, wie sich die Zugehörigkeit zu einer Religion und die persönliche Religiosität auf die Einstellungen und Verhaltensweisen von 14- bis 16-Jährigen und insbesondere auf die Integration junger Migranten auswirken. Das Ergebnis: Während junge Christen mit steigender Religiosität weniger Gewalttaten begehen, ist bei jungen, männlichen Muslimen das Gegenteil der Fall. Junge Migranten ohne Konfession seien am besten in die deutsche Gesellschaft integriert. Sie würden zu 41,2 Prozent das Abitur ansteuern. Bei jungen Muslimen sei dies anders: Sie strebten zu 15,8 Prozent den Abiturabschluss an, hätten zu 28,2 Prozent deutsche Freunde und fühlten sich zu 21,6 Prozent als Deutsche.

Gerade im Ruhrgebiet dürfte diese Studie, auch mit Blick auf die Turbulenzen beim Moschee-Verein in Duisburg, für neue Diskussion sorgen. Die Zahlen sind, das muss ich zugeben, erschreckend. Ob sie wirklich belastbar sind, kann ich nicht beurteilen. Für mich stellt sich aber die Frage, ob es sich hier nicht eher um ein Milieu-Problem handelt – also die sozioökonomischen Faktoren eine Rolle spielen, die ferne vieler Migranten-Haushalte zum Bildungsbürgertum und die geringen Aufstiegsmöglichkeiten, die junge Muslime hier in Deutschland haben, die eben aus einem Elternhaus kommen, das auf Hartz IV angewiesen ist und ein post-modernes Männerbild besitzt.
Bin gespannt, was der Shooting-Star der CDU, Integrationsminister Armin Laschet, der garde fulimant unter die Buchautoren gegangen ist, aus dieser Studie macht. Oder ob er sich wie die letzten fünf Jahre auf verbales tabuisieren des Themas konzentriert und damit weiterhin notwendige Entscheidungen verschleppt. Die Studie zeigt, dass diese Strategie gescheitert ist.

Der Ruhrpilot

Joachim Gauck Foto: Matthias HiekelPräsi: “Ich unterstütze Joachim Gauck” als Präsidentschaftskandidat – kleine Ecke für eigene Blogs/Internet-Seiten…Pottblog

Präsi II: FDP streitet offen über Kandidat Gauck…Spiegel

Präsi III: Twitter-Aktionsform: #mygauck als Mosaik…Netzpolitik

Präsi IV: CDU und FDP wollen nur „zuverlässige“ Wahlmänner auswählen…Frontmotor

Karstadt: Wer kriegt Karstadt?…FAZ

Karstadt II: Woche der Entscheidung für Karstadt…Ruhr Nachrichten

Karstadt III: Kampf um Karstadt…Welt

NRW: Offener Brief des NRW-Bündnisses Eine Schule für Alle…Walhus Blog

Bochum: Kein Public-Viewing…Pottblog

Bochum II: Griechisches Kulturfestival hält Geschichte wach…Ruhr Nachrichten

Duisburg: 5000 protestieren in Duisburg gegen Gaza-Politik…Der Westen

Duisburg II: „Sportkulturen Ruhr“…Xtranews

Essen: Fragen über Fragen bei RWE…Der Westen

Gelsenkirchen: Frank Baranowski, ser Anti-Held…Hometown Glory

Internet: Facebook und Flattr blocken…F!XMBR

Recht: Eine Schublade für jeden von uns…Law Blog

Krise: Luftbuchungen im Rangierbahnhof…Weissgarnix

Apple: Apple iPad 3G und der Vodafone-Tarif…Pottblog

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Wird Wulff der nächste Heitmann?

Merkel weht der Wind seit der Wulff-Präsentation ins Gesicht. Ihr geht die Düse, denn sie hat schon einmal miterlebt, wie ein Kanzler mit seinem Vorschlag für einen Bundespräsidenten scheiterte.

Für Helmut Kohl war die Sache klar. Nach dem ungemein populären und ihm in vielerlei Hinsicht  überlegenen Richard von Weizsäcker wollte der Kanzler auf Nummer sicher gehen. Zum Weizsäcker Nachfolger wollte er jemanden küren lassen, der den Schein der Pfälzer Sonne nicht trüben würde. Der Mann hieß Steffen Heitmann, war Justizminister in Sachsen und wurde 1993 der Öffentlichkeit präsentiert.

CDU und FDP verfügten damals über ein ordentliche Mehrheit in der Bundesversammlung und die SPD sah sich unter Rudolf Scharping auf dem Tiefpunkt angekommen. Eine, wie man heute weiß, optimistische Einschätzung.

Doch dann gab Heitmann der Süddeutschen Zeitung ein Interview. Heitmann sagte Sätze wie: „Eine multikulturelle Gesellschaft kann man nicht verordnen, sie kann allenfalls wachsen.“  oder  „Ich glaube, daß der organisierte Tod von Millionen Juden in Gaskammern tatsächlich einmalig ist – so wie es viele historisch einmalige Vorgänge gibt.“

Das führte zu einem Aufschrei in den Medien. Kohl versuchte die Situation auszusitzen. Aber der Protest gegen Heitmann wurde immer lauter. Die FDP ließ Kohl hängen. Die SPD nominierte Johannes Rau. Der schien auch für die FDP wählbar zu sein. Kohl reagierte: Heitmann verzichtete auf seine Kandidatur. Roman Herzog wurde nominiert und gewann, mit den Stimmen der Liberalen, im dritten Wahlgang gegen Rau.

Merkel hat diese Niederlage Kohl aus nächster Nähe miterlebt. Damals war sie noch sein „Mädchen“ und saß als Ministerin für Frauen und Jugend am Kabinettstisch.

Eine solch Niederlage könnte ihr nun ebenfalls drohen. Nicht weil Wulff so ein fürcherlicher Kandidat wäre, sondern weil Gauck so viele Unterstützung erfährt. „Man erträgt den Gedanken an Christian Wulff nur dann, wenn man den Gedanken an Joachim Gauck verdrängt“ schreibt Nils Minkmar heute in der FAZ und die bezeichnet Gauck als idealen Bundespräsidenten. Das sehen viele so in diesen Tagen.

Die nächsten Wochen werden bitter für Merkel und für Wulff. Kann sein, das Wulff nicht durchhält. Wer möchte schon gegen den Willen von sehr vielen Menschen Bundespräsident werden? Ein Amt haben, dessen Autorität sich aus der Akzeptanz der Menschen speist und nicht aus der realen Macht?

Nachdem Heitmann seine Kandidatur zurückgezogen hatte, blieb er übrigens bis 2000 Justizminster in Sachsen. Er trat erst nach einem Skandal zurück. Warum sollte Wulff nicht versuchen einen ähnlichen Weg zu gehen? Vieles Optionen, auch der Wechsel in die Wirtschaft, sind attraktiver als ein unbeliebter Bundespräsident zu werden. Für Wulff würde das Leben weiter gehen. Schwierig würde es für  „Mutti“…

Kreative in die Industrie!

Während das Ruhrgebiet noch auf die Kreativwirtschaft setzt ist man in Berlin schon weiter: Industrie soll her. Doch auch die Hauptstadt hat ausser bunten Broschüren nicht viel zu bieten. Von unserem Gastautor Frank Muschalle. Frank betreibt das Blog Frontmotor, stammt aus dem Ruhrgebiet und lebt und arbeitet in Berlin.

Wer ist kreativ?
Ich kenne etliche Anhänger von Richard Floridas These, dass die Zukunft den Kreativen gehört. Aber ich kenne keinen Manager oder Politiker, der sie in Deutschland mal in größerem Stil richtig umgesetzt hätte. Geht es um „Kreative“, fühle ich mich auch als Ingenieur angesprochen. Ich habe an der Entwicklung von StartStop-Automatiken und Hybridantrieben mitgearbeitet. Ich habe Wettbewerbe für Konzerngeschäftsideen und Hauptstadtphotographien gewonnen. Ich weiß, wovon ich rede, wenn ich sage: Kreativität wird in der Industrie nicht wirklich wertgeschätzt. Das „Management“ von Kreativen, bzw. das Verwerten ihrer Leistungen, schon eher. Ich habe schon länger den großen Plan in der Tasche, um irgendwann den Absprung zu machen. Aber irgendetwas hält mich davon ab.

Richard Floridas Leistung liegt meiner Meinung nach darin, zu erkennen, wie wichtig der Modus ist, in dem Kreative arbeiten. Welches die Bedingungen sind, die sie für attraktiv halten. Aber auch unter welchen Bedingungen, aus Kreativen ein Big Business werden kann. Kreativ sind in diesem Zusammenhang alle, die Werke schaffen, die durch ein gewerbliches Schutzrecht schützbar sind, also Texte, Grafiken, Filme, Fotos, Musik, technische Lösungen und Software.

Die kreativen Geschäftsmodi
Es gibt Kreative, die in Vorleistung gehen. In ihr Werk investieren, ihre Schutzrechte absichern und dann Kunden dafür suchen, die bereit sind, für Lizenzen zu bezahlen. Das sind die Unternehmer in eigener Sache. Sie schaffen Produkte, die sich durch einfaches Kopieren beliebig vervielfachen und als Stücklizenzen verkaufen lassen. Diese Kreativen schaffen Arbeitsplätze in der Entwicklung, Redaktion, im Studio und in der Produktion und sie generieren Steuereinnahmen. Ihnen kommen Multiplikatoreffekte zu.

Und es gibt Kreative, die mögen die gleiche Ausbildung und Bildung genossen haben, und die gleichen Dinge tun, sogar die gleichen Werke herstellen. Der wichtige Unterschied: Sie tun dies im Auftrag. Als Dienstleistung. Ihr Vorteil: Sie müssen keine Investitionen riskieren, kein Eigenkapital beschaffen. Und sie haften nicht. Ihr Nachteil: Sie werden nach Aufwand bezahlt und haben in der Regel eine Klausel in ihrem Dienstleistungsvertrag, nach der sie die Verwertungsrechte an ihren Auftraggeber abgeben. Diese Kreativen sind die Prototypen der Ich-AGs. Sie erfinden das Rad immer wieder neu, im Auftrag für andere. Von Multiplikatoreffekten profitieren sie nur wenig.

Richard Florida und seine Anhänger wie Wolf Lotter meinen erstere, wenn sie von der Creative Class schwärmen. Auch der frühere Blogger, Podcaster und heutige Chefinnovator bei HP, Phil McKinney meinte die Produktentwickler, als er sagte: Kreativität kann jeder lernen. Man muss es einüben, es fällt nicht vom Himmel. Die Politik und viele Wirtschaftsförderungen jedoch haben das Thema lange missverstanden und dachten, hinter mancher Ich-AG lauere ein Steve Jobs.

Richtig ist auf jeden Fall: Nur durch kreative Leistungen schaffen wir neues Wachstum (wenn wir das wollen). Nicht durch Nachahmung und Preisdumping. Einer der wenigen richtigen Sätze von Angela Merkel lautet: Wir dürfen um soviel teurer sein, wie wir besser sind. Aber um besser zu sein, muss man etwas riskieren. Und braucht einen Instinkt für Chancen. Was wir im vergangenen Jahrzehnt aber erlebten war: Ihr müsst um so viel billiger werden, wie wir Euch schlechter managen. Das war die Ansage in vielen Konzernen.

Der freiberufliche Auftragsprogrammierer konkurriert gegen die unschlagbar billigen Konkurrenten aus Indien und China. Der Lizenzgeber aber, der ein Produkt für einen neuen Markt erdacht, geschaffen und mit Schutzrechten abgesichert hat, muss wenig Konkurrenz fürchten. Hat das jetzt jeder verstanden, der Politik gestaltet und Wirtschaftsförderung betreibt?

Berlin und das Ruhrgebiet im Dienstleistungszeitalter
Landes- und Regionalpolitiker haben einige Lernprozesse hinter sich. Und gerade das Ruhrgebiet und Berlin haben sehr ähnliche Lernprozesse hinter sich. Beiden brach die industrielle Basis weg. Sie beobachteten wie Massenarbeitsplätze aus der Produktion nach Fernost exportiert wurden. Ihre Reaktion darauf: Dann müssen wir uns auf das stürzen, was nicht exportiert werden kann: Dienstleistungen. Die müssen immer am Kunden, also im Lande, erbracht werden. Deshalb waren Dienstleistungen das neue Allheilmittel. Doch sie taugten als wirtschaftspolitische Strategie nur dafür, Leute über Wasser zu halten. Beispielsweise in Callcentern. Callcenter haben keine Schornsteine und beschäftigen trotzdem hunderte von Leuten zu beliebig flexiblen Arbeitszeiten. Und nutzen Telekommunikation, waren also nach dem Verständnis von Regionalpolitikern „innovativ“.

Ein früherer Kollege sagte vor fünfzehn Jahren so passend: „Deutschlands Zukunft liegt nicht darin, dass wir uns alle gegenseitig die Haare schneiden.“ Da wussten wir noch nicht, dass es auch eine Dienstleistungswelle für Akademiker geben würde: Dienstleistung, oder gar Beratung, als Euphemismus für „akademische Leiharbeit“. Wieder ein Missverständnis zwischen Politik und Wirtschaft. Der dienstleistende Akademiker ist ein vagabundierender Experte mit Out-of-Area-Einsätzen fern seiner Heimat und Familie. Die Beratungsfirma steuert wenig zu seiner Expertise bei. Die erwirbt er sich im Job. Seine Expertise ist das Einzige, was ihm keiner nehmen kann. Wohlgemerkt, eine Expertise für eine Bedingung, die die andere definiert haben: Softwareprodukte, Prozesse, Rechte, Standards.

Kreativ ist der Experte, der eine unbediente Marktlücke erkennt, und eine Produktidee entwickelt. Einen Prototypen bastelt und an Probanden testet. Sich dann Startgeld bei Freunden und Familien leiht und damit zur Bank geht und weiteres Geld leiht. Das ist mein Verständnis. Doch die meisten meiner Bekannten, die das Zeug hierfür hätten, bleiben lieber angestellte Kopfwerker. Das Ruhrgebiet hat das Malocherethos auf den Kopf übertragen. Berlin wiederum hat seine antikapitalistische Grundhaltung verinnerlicht. Man gründet nicht, um reich zu werden.

Der Kreative – arm, aber sexy
Der Berliner Senat schwamm eine Weile auf der kreativen Welle mit. Weil Berlin so viele Kreative hat: Zig Modedesigner in der Kastanienallee in Berlin Mitte. Tausende „selbständiger“ Softwareentwickler. Aber daraus wurden nur ganz wenige produzierende Unternehmen, die „ansprangen“ und schutzrechtsfähige Standardprodukte in die Welt verkaufen. Wir haben keinen neuen Steve Jobs und keinen neuen Karl Lagerfeld. Und erst recht keine neuen Produktionsstätten mit vielen Arbeitsplätzen. Jedenfalls keine, die das Ergebnis der Berliner Wirtschaftsförderpolitik wäre.

Doch seit einigen Tagen gibt es hier eine neue „Agenda“: Zurück zur Industrie. Oder, als Imperativ und mit Link zur Vergangenheit:

Kreative in die Industrie!

„Hauptstadt im Gespräch“
Vor einigen Tagen hat der aus seiner Lethargie erwachte Wirtschaftssenator Wolf (Linkspartei) einen „Masterplan“ veröffentlicht. Darin drücken die üblichen Verdächtigen von IHK, „Netzwerken“, Wirtschaftsförderungen etc. aus, was Berlin „jetzt“ braucht und dass Berlin „alle Chancen hat“. Man hat aber auch nichts verpasst, wenn man dieses Pamphlet nicht gelesen hat.

Am Samstag, 05. Juni, hingegen fand im Charlottenburger Ludwig-Erhard-Haus die zweite „Berliner Ideenkonferenz“ der SPD statt. Motto: „Neue Industrialisierung – Nachhaltiges Arbeiten und Wirtschaften“.

Dort fielen Stichworte, die ich vor Jahren vergeblich versuchte, in der Berliner FDP zu etablieren. Aber heute ging es los. Heute war, um bescheiden anzufangen, die Rede von AEG als Blaupause für Apple, weil schon der alte Rathenau wusste, dass man neuartige Produkte besonders kundenfreundlich gestalten muss, damit sie von Kunden angenommen werden. (Das stimmt: die alten Dreh-Lichtschalter im Keller waren den Drehschaltern nachempfunden, mit denen man davor die Gasleitung für die Beleuchtung aufdrehte.)

Auf dem Podium tummelten sich ein Wirtschaftsprofessor, ein Berater für Wirtschaftsförderung, der Manager des Technologiezentrums Adlershof und sogar eine echte Unternehmerin: Gabi Grützner von der micro resist GmbH. Sie ist auch Beirätin für Mittelstand beim Wirtschaftssenator..

Zuerst befürchtete ich, dies sei wieder mal eine Veranstaltung, bei denen sich die nicht wenigen Angestellten der Wirtschaftsförderung, Landesbank, Stadtmarketing, IHK und öffentlich finanzierten „Netzwerkkoordinatoren“ gegenseitig Vorträge halten und Kaffee und Kekse anbieten. Aber das war doch etwas anders, besser:

Denn während die Philosophie vieler Teilnehmer sonst lautet: „Hauptsache, man wird nichts gefragt“, war das Publikum ausdrücklich zu Ideen und Fragen aufgerufen. Außerdem hatte man mit Christian Stahl einen schlagfertigen Moderator.

Unverzichtbar: Die nacheilenden Propheten von McKinsey
Das Opening besorgte McKinsey mit der sensationallen Erkenntnis, dass Berlin „mehr kann“. Modellstadt für -Achtung: Sensation- Elektromobilität sein zum Beispiel. Berlin sei hier im Wettbewerb mit dem Ruhrgebiet und Singapur. Man müsse „jetzt“ etwas tun.

Ich hatte genau das der Berliner Senatsverwaltung für Umwelt schon mal vor zwei Jahren vorgeschlagen. Antwort damals: Elektroautos sind zu leise. Die schleichen sich an Fussgänger ran und fahren sie dann um. Außerdem sind die noch völlig unterentwickelt. Sagte mir damals eine wissenschaftliche Angestellte aus der Senatsverwaltung. Wenn nun aber McKinsey das gleiche schreibt und fordert, ist das etwas ganz anderes. Dann ist das professionelle Kreativität aus gutem Hause.

Der Technozentrumsmanager
Der Adlershofer Manager lobte McKinsey ausdrücklich dafür, dass die sich mal „hingesetzt und nachgedacht“ hätten. Das erinnerte mich an die Art, mit der sich Wolfgang Schäuble neulich bei Josef Ackermann für dessen „Engagement“ in Griechenland bedankte…

Der Volkswirt
Der Professor für Volkswirtschaft griff als nächstes das Bild vom Kreativen mit Laptop im Cafe auf, um zu verdeutlichen, dass die neuen Industrien nicht mehr mit großen Hallen und Schornsteinen daher kommen.

Die Unternehmerin
Worauf ihm die Unternehmerin Grützner später erwiderte: „Ich habe schon lange nicht mehr mit einem Laptop im Cafe gesessen habe. Ich muss eigentlich andauernd irgendwelche Aufgaben und Probleme lösen und finde nie Zeit, mit meinem Laptop im Cafe zu sitzen.“

Sie wies darauf hin, dass achtzig Prozent der Berliner Unternehmer weniger als fünfzehn Mitarbeiter haben. Und dass es angesichts des niedrigen Gehaltsniveaus in Berlin schwierig sei, Hochschulabsolventen und ausgelernte Azubis im Unternehmen zu halten. Viele wanderten einfach ab nach Süddeutschland. Kreativität sei auch wichtig, aber zum Handwerkszeug fürs Wachstum gehöre mehr. Denn jedes neue Produkt müsse aus einer erfolgreichen Cash-Kuh finanziert werden.

Kapital? Kein Bedarf
Da fiel mir eine Diskussion aus meinem sozialliberalen Gesprächskreis im Grunewald ein. Ich meldete mich am Mikro: „Ich wundere mich, warum das Stichwort Kapitalbedarf und Unternehmensfinanzierung noch nicht genannt wurde.“ Einwurf vom Moderator: „Sie meinen, nach all den unrealen Zockereien jetzt mal in was Reales investieren?“ – Und ich so: „Genau: Warum kann ich als Berliner nicht in Berliner Startups investieren? Warum werden hierfür nicht mal Fonds aufgelegt und Foren für Anleger und Existenzgründer organisiert?“.

Heftiges Kopfnicken bei der McKinsey Beraterin. Doch Kopfschütteln bei der Unternehmerin. Wie bitte? „Nee, ich kann Ihnen nur raten: Bleiben Sie selbstbestimmt! Holen Sie sich keine Mitbestimmer ins Haus. Die Berliner Banken haben während der Finanzkrise alle weiter gut funktioniert und den Berliner Mittelstand mit Krediten versorgt. Die IBB hat die 250.000 Euro Startdarlehen aufgelegt und die Mikrokredite. Funktioniert alles gut.“

Woran es wirklich hapert
Was ihr viel Dringender fehle seien gute Vertriebsmitarbeiter. Das wiederum wusste ich seit fünf Jahren, als ich mit der IHK Frankfurt/Oder und Professor Fricke von der TFH Wildau mal eine Vertriebs- und Marketinginitiative für Technologieunternehmen organisiert hatte. Da waren wir auch mal in ihrem Unternehmen zu Gast.

Da war ich baff. Mein im Kern immer noch liberales (aber eben sozialliberales) Weltbild ein wenig erschüttert. Dem Berliner Mittelständler fehlt es nicht an Kapital oder Krediten. Die McKinsey Beraterin sagte mir später in der Pause, solche Fonds gebe es inzwischen. Man könne hin und wieder im -nächste Überraschung:- Tagesspiegel davon lesen, oder Werbung sehen.

Was Frau Grützner von der Berliner Politik erwarte, waren nur zwei Dinge: Erstens, werdet schneller. Sie könne selten so lange warten, bis die Politik etwas entschieden habe. Und man werfe im Bezirk nicht alle Regeln um, wenn mal der Bürgermeister wechselt. Und zweitens: Lasst Euch was einfallen, womit Ihr die jungen Leute in Berlin haltet. (Wenn man das so liest, wundert man sich: Ich dachte immer, vor allem die Jugend ziehe es nach Berlin..).

Mein Zwischenresüme, bevor der SPD-Landesvorsitzende Müller- zum „Hard Talk“ (Konfrontationsinterview) musste: Die neue Industrialisierung kommt sehr sozialdemokratisch daher. Die Berliner Unternehmer wollen kein Fremdkapital mehr und leiden nicht unter Kreditklemmen. Sie erwartet von der Politik, dass die Verwaltung schneller wird. Und dass irgendwer die Jugend im Lande hält.

Dazu also wurde noch Gastgeber und SPD – Chef Michael Müller interviewt. Er eröffnete mit einem verblüffenden Statement: „Die Politik will sich zurücknehmen, wenn auf dieser Konferenz über Ideen diskutiert wird.“ Klang das nur in meinen Ohren so schwach..? Was er von der McKinsey – Studie halte, nach der Tourismus, Elektroautos und die Pharmazie bis zu 500.000 neue Arbeitsplätze hergäben? Antwort, und das fand ich gut: „Es ist richtig, so einen hohen und konkreten Anspruch zu haben.“ Und außerdem sei es Gerhard Schröder zu verdanken, dass die SPD wieder über Wirtschaft spreche und Kompetenz beanspruche.

Drei dicke Pfunde, mit denen Berlin im Wettbewerb um die neue Industrialisierung wuchern könne, seien die leeren Großflächen inmitten der gewachsenen Großstadt: Tempelhof, Tegel und der alte Humboldthafen, nördlich vom neuen Hauptbahnhof. Richtig. Mit sowas kann das Ruhrgebiet überhaupt nicht dienen.

Elektromobilität? – Nur schienengebunden
Und dann fragte ihn der Moderator, was er denn von Berlin als Modellstadt für Elektromobilität halte. Müller antwortete: „Also, für Entfernungen unter 100 Kilometern muss eigentlich keiner mit dem Auto fahren. Meine Vision ist die einer Großstadt, in der der öffentliche Nahverkehr so gut ist, dass niemand mehr ein Auto braucht.“

Dieses Statement, ein echtes Statement gegen das Auto als Produkt und für Mobilität als Dienstleistung, brachte den größten Applaus auf der gesamten Veranstaltung. Wir waren wieder am Ausgangspunkt des Diskurses angekommen.

Merkel geht die Düse

Bundeskanzlerin Angela Merkel wird ihrem Übervater, Helmut Kohl, im Regierungsstil immer ähnlicher: kritische Entscheidungen werden ausgesessen, von Visionen keine Spur und parteiinterne Gegner werden wegbefördert. Nun holt sie zum nächsten Schlag aus: Sie will die Kontrolle über die Bundesversammlung.

Die Bundesversammlung, die traditionell den Bundespräsident wählt, ist von vielen schon mit einer herrenlose Kanone verglichen worden, die, aus der Verankerung gerissen, im Mittelalter für die hölzernen Kriegsschiffe eine ebenso große Gefahr darstellten wie die gegnerischen Geschosse. Unkontrolliert schwingt sich die Kanone von einem Ende des Schiffs zum anderen, haut Menschen und Material weg, was ihr in die Quere kommt. Das Ende kann desaströs sein. Genau so etwa fürchtet wohl nun auch Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Glaubt man der aktuellen Ausgabe der „Welt am Sonntag“, dann geht der Hosenanzug-Trägerin aus der Berliner Waschmaschine (so die Berliner über das Kanzleramt) gehörig die Muffen. Denn die Regierungschefin und Parteivorsitzende der CDU hat sich gehörig verspekuliert. Weil sie unbedingt der Parteitaktik bei der Benennung des nächsten Bundespräsident den Vortritt vor der Staatsräson gegeben hat, muss sie nun miterleben, wie sich nicht nur die Öffentlichkeit auf Joachim Gauck festlegt, sondern auch die Medienmacher. Ungewohnt offen votiert daher sogar die Springer-Presse gegen Angela Merkel – und damit gegen eine enge Vertraute der Verlegerwitwe von Axel Cäsar Springer. Dieser Schritt ist schon ungewöhnlich genug. Noch ungewöhnlicher ist aber, dass dies dieses Mal nicht im Alleingang geschieht: Auch der Spiegel hält Gauck für den besseren Kandidaten. Der Focus wird nachziehen. FAZ und SZ haben dies bereits gemacht.

Frau Merkel, zu deren Regierungsstile die Politik via SMS und Liebesentzug gehören, steht allein – auch weil sie mit Niedersachsens Ministerpräsident Wulff einen aus den Hut gezaubt hat, der ihr niemals gefährlich werden kann. Das öffentliche Votum für Gauck ist daher auch ein Votum gegen sie als Regierungschefin. Das Volk und die öffentliche Meinung in Gestalt der Medien pochen eindrucksvoll auf ein urdemokratisches Vorrecht: Die verfassungsmäßigen Checks und Ballances, die jeder pluralistischen Gesellschaft zu Eigen ist. Mit Gauck soll ein Gegenpart zu Merkel das Amt des Bundespräsidenten inne haben, um der Regierung auf die Finger zu schauen. Gauck wäre daher der falsche Kandidat – aus Sicht Merkels.

Merkel will daher ihren Kandidaten durchsetzen und kann in der Bundesversammlung auf 21 Stimmen mehr als die absolute Mehrheit zählen – soweit auf dem Papier. Nimmt man nur das rot-grüne Lager sind es sogar 163 Stimmen mehr, weil die Linke Gauck nicht wählen will. Die Nachfolge-Partei der SED und Auffangbecken von früheren Stasi-Mitgliedern will offenbar späte Rache an einem Mann nehmen, der den tiefen Sumpf der ethisch moralischen Verstrickungen von Parteimitgliedern offen gelegt hat. Hier zeigt sich einmal mehr, dass die frühere SED weiterhin nicht in der Bundesrepublik angekommen ist.
Merkel will in der Bundesversammlung aber trotz Vorsprung auf Nummer sicher gehen, denn es könnte ja die „loose cannon“ das unmögliche wahrwerden lässt: dass nämlich Wulff duchfällt und Gauck gewählt wird.

Die „loose cannons“ haben sogar einen Namen: die unabhängigen Delegierten. Seit der Gründung der Republik ist es usus, dass die Bundesversammlung das Spiegelbild der Gesellschaft darstellt. Also nicht nur Berufspolitiker oder Beamte und Juristen, sondern auch Schauspieler, normale Bürger, Studenten, Wirtschaftsführer. Das Problem an dieser Gruppe: Sie werden zwar von den Parteien vorgeschlagen. Doch ob sie auch richtig wählen, das kann niemand überprüfen. Und so kann es razfaz passieren, dass sie den falschen aus Sicht von Merkel wählen. Daher greift Merkel laut „Welt am Sonntag“ nun zum äußerten: Wulff soll als erster Bundespräsident nicht mehr von der ganzen Gesellschaft gewählt werden, sondern nur von Claceure gewählt werden, die namen- und charakterlos im Ortsverein Neuss-Norf aktiv sind und parteitreu sind. Merkel will nur Partei-Leute und „sicherer“ Wähler an die Wahlurne lassen. Damit wird ein weiterer Tiefpunkt in der politischen Kultur Deutschlands erreicht – und man kann nur hoffen, dass die Geschichte Recht behält: Ein Wechsel im Bundespräsidenten-Amt folgt später immer ein Wechsel im Kanzleramt. Eine geistig moralisch Wende täte gut.

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Aigner sagt leise Adieu

Ilse Aigner hat sich ausgeloggt.

Wer A sagt, muss auch B sagen – dachte sich wohl Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner und kündigte am Freitag ihren baldigen Austritt bei Facebook an. Heute ist sie weg. Was unter ihrem Namen übrig bleibt, sind ein paar Fanseiten und der Versuch, die Goldgrube Facebook zu ändern.

Dabei sagt Facebook selbst: „Auf Facebook geht es um das Teilen von Inhalten.“ Ich kann mitbestimmen, mit wem ich meine Inhalte teile: Mit Freunden, mit Freunden von Freunden oder auch mit der ganzen Welt. Ich kann den Google-Robot blockieren und so verhindern, dass die eine Datenkrake auf die andere zugreift. Ich kann zwar mein Profil löschen, doch sicher bleibt es auf irgendeinem Server gespeichert. Wer bisher nicht begriffen hat, dass das Internet nichts vergisst, hat auch in den Social Networks nichts verloren. Nicht der Facebook-Nutzer per se ist naiv, sondern der Glaube an ein anonymes Internet.

Mark Zuckerberg wird Internet-Ilse wohl keine Träne nachweinen – er wird sich eher über die PR-Arbeit der letzten Wochen freuen, denn Facebook wird immer größer. Rund 200 Prozent Wachstum verzeichnet das Social Network gegenüber dem Vorjahr. Aigners Austritt war konsequent und längst überfällig – einen Sinn hatte er nicht.

Ich kenne niemanden, der Facebook seit Aigners Kritik verlassen hat. Dafür habe ich seit Anfang April viele neue Gesichter dort entdeckt. Wer sich die Frage stellt, wie man sich bei einer Plattform anmelden kann, die mit Daten dealen möchte, den frage ich: „Wie kann man Google benutzen?“

Google beantwortet momentan rund 90 Prozent der Suchanfragen in Deutschland. Nicht einmal in den USA hat Google solch eine Monopolstellung. Und: Google wird die Daten irgendwo sammeln. Mit Suchanfrage und IP und allem Pipapo – wer weiß, wofür sie noch gut sein können.

Google verdient sich mit Anzeigen eine goldene Nase. Vielleicht ist es ja auch die Weiterentwicklung des Kapitalismus, dass Google und Facebook keine gemeinnützigen Vereine sind. Wir bekommen den kostenlosen Service einer Suchmaschine oder eines Netzwerks und geben dafür unsere Privatsphäre auf. Die Frage ist nicht „Ist das okay, dass Facebook meine Daten verscherbelt?“. Sie sollte vielmehr lauten: „Welche meiner Daten kann Facebook verscherbeln? Und was wäre mir peinlich, wenn es morgen in der Zeitung stehen würde?“ Das sollten die Gedanken der Facebook-Jünger sein. Medienkompetenz 2.0 quasi.

Was Ilse Aigner nicht recht verstanden hat, ist der Unterschied zwischen Facebook und Google: Zu Facebook tragen wir unsere Daten hin, Google nimmt sich diese Daten einfach. Und viel verwerflicher als die Datenpolitik von Facebook ist die Einstellung vieler der 12 Millionen deutschen Facebook-Nutzer: Da wird von der Handynummer über den Beziehungsstatus bis hin zu religiösen Ansichten alles gespeichert.

Meine Facebooks-Friends sind nicht zwingend meine Freunde. Und meine wirklichen Freunde kennen mein Geburtsdatum und haben meine Handynummer. Es soll auch vorkommen, dass Freunde meine Adresse kennen und auf ein Bier vorbeikommen.

Ohne Facebook, total Oldschool.

Wer sich um seine Daten schert, sollte sich fünf Minuten Zeit nehmen und an den Privatsphäre-Einstellungen feilen. Mal darüber nachdenken, welche Angabe Facebook Geld einbringen könnte. Vielleicht auch die ein oder andere Info entfernen. Oder einfach das komplette Profil „löschen“ – aber sich bestimmt nicht darüber aufregen, dass Facebook böse ist. „Don´t be evil“ ist schließlich das Motto von Google und nicht von Facebook.

Und wem die ganze Sache mit den sozialen Netzwerken sowieso zuwider ist, dem sei Hatebook empfohlen. Dort heißt es: „Hatebook ist an anti-social utility that disconnects you from the things you hate.“

Vielleicht kann Ilse Aigner da Mark Zuckerberg als Enemy adden.

Singen oder singen lassen

Im Normalfall singe ich manchmal bei Kindergeburtstagen und das meist recht leise. Ansonsten erhebe ich meine Stimme alle 14 Tage für „Blau und weiß, wie lieb ich dich“ und die erste Strophe des Steigerlieds im Stadion. Demnach bin ich der ideale Kandidat für den „Day of Song“. Nachdem meine Frau begeistert von der gelungen Eröffnungsveranstaltung im Musiktheater im Revier zurückkehrte, haben wir uns am Samstag kurzfristig zum Gang in die Arena auf Schalke entschlossen, wo das musikalische Finale auf dem Plan stand.

Das weite Rund war mit 56 000 mehr oder weniger Gleichgesinnten gut gefüllt, aber viele Plätze blieben dennoch leer. Eine Stunde vor Beginn begann das Einsingen mit Anleitung und das machte den Besuchern schon hörbar Spaß. Das Programm begann mit „Gück Auf“ und „Let it be“ auch ganz mitsingfreundlich. Ich ließ mich von der guten Stimmung anstecken und folgte mit gemäßigter Lautstärke den Textzeilen im SING-Songbook. Die erste Freude hielt allerdings nicht lange an, denn der Schwierigkeitsgrad stieg beständig an. Zwar wollte ich immer schon den Gefangenchor von Nabucco singen und auch Habanera aus Carmen steht bereits lange auf meiner Liste, aber das überstieg meine zugebenermaßen recht bescheidenen Fähigkeiten recht deutlich. Allerdings traf das auf die meisten anderen willigen Sänger im Block 11 ebenfalls zu, denn es wurde recht still um mich herum. Die Opernsängerin Vesselina Kasarova füllte das Vakuum dann gewohnt stimmgewaltig aus.

So wurde das Programm immer mehr von den Profis bestimmt und kaum von den Amateuren. Schließlich konnten nur noch die trainierten Chöre im Innenraum halbwegs mithalten. Am Ende war es dann mehr eine professionelle Leistungsshow und weniger ein Mitmach-Event. Mit den Wise Guys und dem ChorWerk Ruhr kamen allerdings noch zwei unerwartete Highlights. Bereits im Vorfeld gab es in Gelsenkirchen Ärger mit einigen Chören, die am geplanten Programm nicht mehr teilnehmen wollten. Die Lokalredaktion der WAZ berichtete zwar darüber, aber man verzichtete auf weitere Recherche und die Gründe blieben unklar. Die Begeisterung der Zuschauer war dennoch bis zum Ende ungebrochen, aber die Moderatoren konnten sich nicht mal zu einer Zugabe aufraffen.
Die gab es dann wenigstens auf dem Heimweg in der Straßenbahnlinie 302 mit allen vier Strophen des Steigerlieds. Immerhin weiß ich jetzt wie es ausgeht: „Wir Bergleute sein kreuzbrave Leut. Denn wir tragen das Leder vor dem Arsch bei der Nacht. Und saufen Schnaps.“ Mehr ist nicht zu sagen und ich finde, wir sollten jetzt auch im Stadion alle vier Strophen singen.

Glück auf!