»Reich-Ranicki versetzte Walsers Selbstbewusstsein einen Todesstoß«

Dieser Tage wurde ein weiterer Band von Martin Walsers Tagebüchern veröffentlicht. Dies ist ein Ereignis, das gewöhnlich allenfalls eine übersichtliche Gruppe von Germanisten und Walser-Lesern zu interessieren vermag. Doch diesmal ist alles anders, denn die Aufzeichnungen umfasen die Jahre 1974-1978 und dokumentieren somit einen der berühmtesten Streite der Nachkriegsliteratur: Die Walser-Reich-Ranicki-Debatte.

„Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman“, heißt es in Marcel Reich-Ranickis 1976 in der F.A.Z. publizierten Rezension des Walser-Romans „Jenseits der Liebe“. Es ist der Inbegriff eines Verrisses, der noch heute seinesgleichen sucht. Wo andere Literaturkritiker sich auf ausufernde Inhaltsangaben beschränken, bezieht Reich-Ranicki schonungslos Stellung: „Es lohnt sich nicht, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen“, stellt er fest. Walsers Roman sei nicht „Jenseits der Liebe“, sondern vielmehr „Jenseits der Literatur“: „In dieser Asche gibt es keinen Funken mehr.“

Wer jemals Walsers Roman gelesen hat, stellt fest, dass Reich-Ranicki sich mit diesem Verriss nicht profilieren, sondern lediglich seinem Ärger über dieses Stück missratener Literatur zum Ausdruck bringen wollte. Damals äußerte sich Walser – zumindest nicht öffentlich – zu Reich-Ranickis Verriss. Wie man nun aber den Tagebüchern dieser Zeit entnehmen kann, hat es die Reaktion vom Bodensee-Schriftsteller in sich. Auf mehr als 60 Seiten ergeht sich der spätere Autor der unsäglichen Paulskirchenrede und des mit antisemitischen Klischees spielenden Abrechnungsromans „Tod eines Kritikers“ in Rachephantasien. Aus dem Reich der Literatur ausgewiesen zu werden sei schlimmer als aus seinem Heimatland ausgewiesen zu werden, schreibt Walser und konstatiert: „In unserem Verhältnis bin ich der Jude“.

Hellmuth Karasek, langjähriger Weggefährte von Martin Walser und Marcel Reich-Ranicki, spricht im Interview mit Philipp Engel über Walsers Narzissmus und dessen antisemitische Reflexe.

Herr Karasek, sind Sie vom Ausmaß der Verletzung überrascht, die Marcel Reich-Ranickis Verriss bei Martin Walser hinterlassen hat?

Wenn man jung ist und selbst rücksichtslos mit seinem Leben umgeht, dann wird einem der Grad der Verletzung, auch bei anderen, nicht in dem Maße deutlich, wie es nachträglich der Fall ist. Für Martin Walser, der die Hoffnung hegte, Großautor der deutschen Literatur zu werden, gab es aber noch eine andere lebensverändernde Enttäuschung. 1960 hatte er den Roman »Halbzeit« geschrieben, der damals von Friedrich Sieburg, Marcel Reich-Ranickis Vorgänger als Literaturchef der FAZ, ungemein negativ besprochen wurde. Diese Kränkung wiederholte sich dann, als Reich-Ranicki »Jenseits der Liebe« rezensierte …

… und als »Jenseits der Literatur« bezeichnete.

Ja, denn Walser wollte sich mit Autoren wie Günter Grass und Uwe Johnson messen, die Literaturwelt erobern. Doch Reich-Ranickis Rezension versetzte Walsers Selbstbewusstsein einen Todesstoß, wollte er doch als eleganter und gleichsam bedeutender Schriftsteller der Bundesrepublik gelten.

An einer Stelle heißt es in Walsers Tagebüchern: »In unserer Beziehung bin ich der Jude.« Wollte sich der ehemalige Wehrmachtssoldat mit einer solchen Täter-Opfer-Umkehr »reinwaschen«?

Ich nehme an, dass er damals tatsächlich dieses völlig überzogene Gefühl hatte. Ein Autor wie Walser kann aus seiner tiefen narzisstischen Kränkung heraus gar nicht erkennen, was für einen gefährlichen Vergleich er da anstellt. Im Warschauer Ghetto, das Reich-Ranicki überlebte, ging es um existenzielle Auslöschung. Es gab keinerlei Gerechtigkeit oder Berufungsinstanz. Dagegen war der Literaturbetrieb der Bundesrepublik doch etwas sehr Kommodes. Walser hatte erfolgreiche Lesungen, sicherlich haben ihm auch die Damen zu Füßen gelegen und ihn angehimmelt. Aber wegen der Kritiken konnte er nicht vollends durchstarten. Die Rezension von Reich-Ranicki war für ihn eine zutiefst narzisstische Kränkung.

»Es ist für einen Schriftsteller schlimmer, aus der Literatur hinausgewiesen zu werden, als aus seinem Land ins Exil, in ein anderes Land vertrieben zu werden«, schreibt Walser.

So kann nur ein völlig überkandideltes Ich empfinden. Tagebücher sind immer maßlos. Dass man das aber nun drei Jahrzehnte später veröffentlicht und in heutigen Interviews auf der damaligen Einschätzung beharrt, zeigt, dass die Wunde immer noch nicht verheilt ist. Das Ganze hat etwas Hanebüchenes. Kein Kritiker wird jetzt »Jenseits der Liebe« noch einmal lesen und sich fragen, ob es zu Unrecht damals vom Tisch gefegt wurde. Ich jedenfalls tue es nicht.

Halten Sie es für möglich, dass Martin Walsers umstrittene Rede in der Paulskirche über die »Moralkeule Auschwitz« und sein Roman »Tod eines Kritikers« Ausfluss der vernichtenden Literaturkritiken Reich-Ranickis waren?

Ich denke, die FAZ hat recht, wenn sie schreibt, dass mit Walsers Rede in der Paulskirche und dem Roman »Tod eines Kritikers« der Korken aus der seit Langem gärenden Flasche geradezu herausgeschossen ist. Und was dabei herauskam – Walser sieht es bis heute nicht ein –, muss man als einen antisemitischen Reflex deuten. Ich habe damals bei der Paulskirchenrede in der Tat gedacht: Das ist die direkte Reaktion auf Reich-Ranickis Verriss von »Ein springender Brunnen«. Und der »Tod eines Kritikers« ist und bleibt, wie Felicitas von Lovenberg mit Recht schreibt, ein fatales Buch.

Das Interview erschien auch in der Wochenzeitung “Jüdische Allgemeine”

Der Ruhrpilot

NRW: Die Not ist groß…Post von Horn

NRW II: Grüne bleiben bei Forderung nach Umbau des Schulsystems…Der Westen

NRW III: Rüttgers‘ Ministerin für Pannen…Spiegel

NRW IV: NPD stänkert gegen Pro NRW…taz

NRW V: In NRW droht ein Patt…Stern

Ruhr2010: Ein hartes Pflaster…Der Westen

Ruhr2010: A – Z Akzeptanz…Hometown Glory

Internet: Realitycheck: Censilia in der FAZ…Netzpolitik

Karheinz Deschner: „Die Kirche sollte verschwinden!“

Anlässlich des kirchlichen Missbrauchsskandals führte die Deutsche-Presse-Agentur (dpa) ein Gespräch mit Karlheinz Deschner. Offensichtlich waren dessen Antworten jedoch zu pointiert, weshalb dpa plötzlich von der zugesagten Verbreitung des Interviews abrückte. Der Humanistische Pressedienst (hpd) dokumentierte das Gespräch und stellte es den Ruhrbaronen zur Verfügung.

Herr Deschner, Sie schreiben seit Jahrzehnten eine mehrbändige „Kriminalgeschichte des Christentums“. Hat es Razzien wie im Kloster Ettal in der Kirchengeschichte schon mal gegeben?

Etwas wirklich Vergleichbares kaum, zumindest schweigt meine „Kriminalgeschichte des Christentums“ hierzu ebenso wie meine Sexualgeschichte „Das Kreuz mit der Kirche“. Dazu muss man allerdings bedenken, dass die katholische Kirche – aus bösem Grund – über Jahrhunderte eine eigene Gerichtsbarkeit hatte, mit der man verhinderte, dass derart Belastendes vor den Gläubigen ausgebreitet wurde. Die Heuchelei gehört bis heute zu den widerlichsten, doch wesentlichen Charakterzügen des Christentums. Gemäß der alten Devise „si non caste caute“, wenn schon nicht keusch, dann wenigstens vorsichtig, unterschieden viele Päpste zwischen einer heimlichen und einer bekannt gewordenen Sünde, bei der sie die Strafe verdoppelten, ja verdreifachten. Gegen das Sündigen im Allgemeinen hat man selbstverständlich nichts, im Gegenteil, es ist den Herren sehr willkommen; davon leben sie.

Haben Sie die immer mehr bekannt werdenden sexuellen Missbrauchsfälle an katholischen Einrichtungen überrascht?

Nein, keinen Augenblick, wie gewiss keinen Kenner der kirchlichen Sexualgeschichte. Und längst laufe ich weg oder höre weg, wird das Problem, etwa in den Nachrichten, thematisiert. Überrascht hätte mich dagegen, aufs Äußerste überrascht, der Rücktritt auch bloß einiger Herren in höheren Rängen, wo man immer tut, als seien sexuelle Verfehlungen nur eine Sache des gemeinen Fußvolks!


Ist sexueller Missbrauch ein neues Phänomen in der Kirchengeschichte?

Sexuelle „Fehltritte“ aller Art sind so alt wie die Kirchengeschichte und sie florierten, je christlicher die Welt wurde, desto mehr. Die Klöster waren oft die reinsten Bordelle, doch mussten die armen Nonnen, aus Sittlichkeitsgründen nicht selten sogar der Beichtväter beraubt, auch mit Kindern vorlieb nehmen, mit Vierbeinern. Wie denn nur beispielhalber die Ritter des Deutschen Ordens, verpflichtet, ein Leben „allein im Dienste ihrer himmlischen Dame Maria“ zu führen, alles vögelten, was eine Vagina hatte, Ehefrauen, Jungfrauen, kleine Mädchen und, wie wir nicht ohne Grund vermuten dürfen, weibliche Tiere. Wie es ja auch im Vatikan, lange, sehr lange, recht locker zuging, etwa – einer für viele – Papst Sixtus IV, Erbauer der Sixtinischen Kapelle und eines Bordells, noch seine Schwester und Kinder besprang, sein Neffe, Kardinal Pietro Riario, sich buchstäblich zu Tode koitierte und auch noch, Ehre wem Ehre gebührt, eines der schönsten Grabdenkmäler der Welt bekam.


Sehen Sie hier allein das Versagen einzelner Menschen oder gibt es kirchliche Strukturen, die sexuellen Missbrauch, also Straftaten begünstigen?

Die Hauptursache all der Missstände, um die es hier geht, liegt in der kirchlichen Moral selbst. Sie ist weitgehend widernatürlich, sie hemmt die Sexualenergie, setzt sie in Destruktivität um, und sie führt in letzter terribelster Konsequenz vom Lustmord zur Mordlust. Auch andere religiöse wie weltliche Diktaturen wussten und wissen davon zu profitieren. Die christliche Sexualrepression führt aber nicht nur zur Steigerung des Kampfgeistes im Krieg, sie führt auch zu einem permanenten Krieg gegen sich selbst. Viele Hunderte erschütternder Briefe von Opfern klerikaler Sexualrepression haben mich erreicht, Opfern oft von kaum vorstellbarer Not. Bei andern aber sucht sich der unaufhaltbar gestaute Trieb ein Ventil für den Überdruck …


Was sollte die Kirche aus Ihrer Sicht als Kirchenhistoriker tun, um sexuellen Missbrauch in Zukunft den Boden zu entziehen?

Nicht nur, um dem sexuellen Missbrauch den Boden zu entziehen, denn der geistige ist oft noch viel schlimmer – sie sollte verschwinden…


Informationen zu Autor und Werk: www.deschner.info

Foto: Evelin Frerk

Werbung

3 FÜR 7 – Diesmal: Planen für den Sommer

Alle müssen immer ihre Seiten vollschreiben und/oder Kunstwerke schaffen, anscheinend nicht immer nur des lieben bzw. bösen Geldes wegen. Und das war für den Autor dieser Zeilen ein guter Grund, keinesfalls zu einer Tageszeitung zu gehen, schon gar nicht zu einer lokalen, aber auch nicht fulltime-Kulturarbeiter zu werden. Und dann sorgt der technische Fortschritt via Feeds & Co. auch noch dafür, dass immer schneller immer unreflektierter irgendein Krams ausgebreitet und gerne einmal skandalisiert wird. Mittelmäßiges Business. Fast Food für den Kopf. Und der deutsche Planet lamentiert, diskutiert, meistens unter sich. Es drängt sich aber auch nichts auf diese Woche. Also diesmal: Planen für die nahe Zukunft.

Kulturell betrachtet sind ja bald schon die Oberhausener Kurzfilmtage, aber mensch könnte auch einmal beim Maifest der Zeche Carl reinschnuppern. Die Termine für Haldern, c/o pop und so stehen natürlich auch schon. Oder mal was Größeres gen Osten mitmachen? Dieses Jahr dann mal Reeperbahnfestival? Oder endlich den Kurz-Trip ins benachbarte Holland? Gut wäre natürlich auch eine Art Urlaub, wo mal gar keine Kultur, wie sie hier verstanden wird, aufzufinden ist. Juicy Beats, Pfingst Open Air Werden? Für die einen Standards, für die anderen das älteste von der Welt. Notiz: Fernweh zulassen und was draus machen, die Ruhr kümmert sich schon genug um sich selbst im Moment.

Technisch betrachtet will der gut ausgerüstete Gelegenheitsblogger ja aber doch nie so recht auf all die Informationen von den Lieben, den Beobachtenswerten und den Wichtigen verzichten. Also verknüpft dieser §‘!$$?-Computer eh permanent das Private mit dem Dienstlichen. Ist ja eh alles immer nur Milimeter voneinander entfernt. Tja, manches ist aber ziemlich weit voneinander entfernt und trotzdem der Mühen wert. Kann schlecht drauf verzichtet werden. Kann man die und das einfach mal alleine lassen und nicht nur Kultur Kultur, sondern auch Internet Internet sein lassen? Notiz: Kultur ist auch, wenn was nicht in der Zeitung von heute steht.

Abschließend betrachtet: Popmusik, Klassik, Theater, Ausstellungen, Kulturwirtschaft, etc. sind alle schön und gut, machen aber doch nur Sinn, wenn nicht immer nur Themen durchs globale Dorf gejagt werden, sondern auch der Sinn dafür behalten wird, wofür das eigentlich gut ist. PR-Leute und die schreibende Zunft können da nur helfen, letztlich müssen die Kunstwerke von Menschen betrachtet werden, die auch aufnahmefähig sind. Und die Kunstwerke, nein, es hieß: Die Meisterwerke sind eh alle nur ganz große Ersatzhandlungen (oder so ähnlich). Notiz: Was nutzt all die Werbung und das Sich-sehen-Lassen, wenn das Leben davon nicht positiv berührt wird?

Genau: Sein lassen ist auch mal erlaubt. Oder schauen Sie sich einfach mal bewusster um, was so in ihrer Gegend an toller Papierwerbung herumliegt. Oder fahren Sie jetzt schon einmal weg, wenn es zu Ostern nicht passiert ist. Bald ist ja Pfingsten, nicht wahr? Und die Ruhr kann gut ohne uns, und der Autor hier auch mal ohne Links – aber das Foto aus dem Grugapark ist von ihm.

Ruhr2010 – Eine erste Bilanz

Gut 90 Tage sind seit dem 9. Januar, dem offiziellen Beginn des Kulturhauptstadtjahres, vergangen. Zeit für eine erste Bilanz.

Sie sollte helfen, das Ruhrgebiet neu zu erfinden, für ein besseres Image sorgen und mit der Kreativwirtschaft das Ruhrgebiet ökonomisch verändern. Die Planungen zur Kulturhauptstadt sind vor vielen Jahren mit hohen Ansprüchen und markigen Sprüchen gestartet. An denen muss sie sich nun messen lassen.

„Das Ruhrgebiet leidet viel weniger an seiner Wirklichkeit als an seinem Image…“ Fritz Pleitgen

Ein Blick auf die Haushaltslage der Städte und die Arbeitslosenzahlen zeigt, dass Pleitgen irrt. Das Ruhrgebiet hat  weniger ein Imageproblem als eines mit der Wirklichkeit:  Es gehört weltweit zu den wenigen Ballungsgebieten die schrumpfen und nicht wachsen. Der Nahverkehr ist eine Katastrophe. Die Forschungsleistungen der Unternehmen liegen weit unter dem Landes- und Bundesdurchschnitt. Vor allem die Qualifizierten verlassen das Ruhrgebiet. Nicht wegen des Images, sondern weil viele von ihnen  hier keine Arbeit finden.

„Herne ist ein wunderbarer Platz auch für die Kreativwirtschaft, die Industrie der Zukunft.“ Fritz Pleitgen

Der Satz sagt alles. Kreativwirtschaft ist eine Modewort. Mehr nicht. Natürlich gibt es sie auch im Ruhrgebiet, aber sie wächst langsamer als im Landesdurchschnitt. Sie wird für das Ruhrgebiet nicht die Industrie der Zukunft sein. Für Herne schon mal gar nicht. Aber das Gerede über sie machte natürlich etwas her. An die Kreativwirtschaft im Revier glaubten die Kulturhauptstadtmacher nie: Mit dem 2010lab durfte sich die Wuppertaler Agentur Boros blamieren, Leitagentur der Kulturhauptstadt ist KNSK aus Hamburg. Was bleibt vom Kreativwirtschaftshype nach 2010? Gornys „european centre for creative economy“ im U-Turm.

„Ziel ist es, durch strukturelle Veränderungen in der Region die kulturpolitischen Voraussetzungen für ein dauerhaftes Zusammenwachsen der Ruhrstädte zu schaffen.“ Fritz Pleitgen

Ein Zusammenwachsen der Ruhrstädte ist nicht zu sehen. Und strukturelle Veränderungen sind von der politischen Agenda verschwunden. Die Kulturhauptstadtmacher haben sie allerdings zu keinem Zeitpunkt offensiv eingefordert.

„Nachhaltigkeit bedeutet für eine Kulturhauptstadt vor allem, dass sie Mut zeigt bei den Themen Städtebau und urbane Entwicklung.“ Dieter Gorny

Genau diesen Mut hat das Ruhrgebiet nicht gezeigt. Mut wäre im Revier Verzicht gewesen. Mut wäre die Erkenntnis gewesen, das man als Kommune auch von den Erfolgen des Nachbarn profitiert und aufhört, in den Grenzen der eigenen Stadt zu denken.

Mut in der Planung gab es nicht. Man hätte zum Beispiel leerstehende Gebäude Kreativen günstig zur Verfügung stellen können und dann abwarten, was da so alles passiert. So etwas wurde nicht gemacht.  Was es gab war die Gieskanne: Kreativquartiere in Dinslaken, Oberhausen und Dorsten statt eine Fokussierung auf die drei Szenequartiere die es gibt. Die Kulturhauptstadt haben die Städte vor allem dazu genutzt, alte Projekte zu verwirklichen: Mal erfolgreich wie in Dortmund, wo das Museum am Ostwall in den U-Turm ziehen wird. Mal erfolglos wie in Bochum, wo man, statt auf neue Ideen zu setzen, ein weiteres Konzerthaus einfach zum Kernstück eines Kreativquartiers erklärte. Für die meisten Städte war die Kulturhauptstadt vor allem eine weitere Mitnahmegelegenheit für Subventionen. Nachhaltigkeit? Eine Seltenheit.

„Kulturhauptstadt ist kein Festival, wer das behauptet, hat das Konzept nicht verstanden.“ Oliver Scheydt

Am stärksten war die Kulturhauptstadt bislang, wenn sie sich im Rahmen eines klassischen Festivals bewegte: Die Eröffnungsfeier, die Odyssee, das Henze-Projekt waren die bisherigen Höhepunkte. Auch erfolgreich waren die großen Eröffnungen: Das Ruhr Museum und das Museum Folkwang sorgten für zumeist positive Schlagzeilen und sind eine Bereicherung für das Revier. Aber immer dort, wo die Kulturhauptstadtmacher den Festivalpfad verließen, scheiterten sie. An  dem Zwang, noch das letzte Kaff in die Kulturhauptstadt integrieren zu müssen, an dem Kirchturmdenken  im Revier oder, um es auf den Punkt zu bringen, an der Provinzialität des Ruhrgebiets.

Scheiterten sie am mangelnden Geld? Nein, denn gerade dieser Mangel wäre eine gute Grundlage gewesen, Neues zu wagen und unkonventionelle Wege zu gehen. Das wurde nie ernsthaft versucht.

Wir sollten die  Modebegriffe Nachhaltigkeit und Kreativwirtschaft also ganz schnell vergessen. Metropole sowieso. Es gab bislang gut Kulturveranstaltungen. Es wird weitere gute Kulturveranstaltungen geben. Auf der A40 kann es nett werden, wenn das Wetter mitspielt. Aber im Jahr 2010 wird sehr wahrscheinlich kein neues Kapitel in der Geschichte des Reviers aufgeschlagen werden.

Noam Chomsky: Die Gefahr ist im Westen

Das Hinterzimmer des Stuttgarter Restaurants hat eine große Scheibe, dahinter blitzt ein erster Frühlingstag, Kinder und Hunde tanzen vor dem blitzblank restaurierten Schloss in der Sonne. Gleich wird hier die US-Linksintellektuellen Legende Noam Chomsky sprechen – in kleiner Runde. Es ist der erste Vortrag auf seiner Deutschlandreise, am nächsten Tag werden ihn mehr als 1000 Studenten in Mainz hören. Es geht um die Frage, ob die amerikanische Arbeiterschaft ähnlich verzweifelt ist, wie die deutsche in der Weimarer Republik und könnte sie das Land in eine faschistische Diktatur stürzen? von unserem Gastautor: Peter

Man muss ganz genau hinhören, sonst versteht man Chomsky kaum. Obwohl er die Welt scharf unterteilt in Eliten, die zu ihrem Vorteil die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung manipulieren, und diesem mehr oder weniger nutzlosen Rest, spricht er zurueckhaltend, beinahe murmelnd.

Er hat Ausführungen über die amerikanischen Arbeiter und über einen Selbstmord im Gepäck.

Was würde passieren, wenn die USA zu einer faschistischen Diktatur werden würde? Was, wenn in einem Land, militärisch und wirtschaftlich mächtiger als jedes andere, in einem Land, das keine internationalen Gerichtsbarkeit akzeptiert, der letzten Rest demokratischer Kontrolle verlören ginge und eine Gewaltherrschaft ausbräche?

Wenn Terror die Kontrolle der eigenen Bevölkerung durch Propaganda in Werbung und Medien ersetzen würde und offene und verdeckte Kriege im Ausland noch ungehemmter geführt würden?

Man mag diese Gefahr für weit hergeholt halten, wenn man, so Chomsky, aber seinen Blick auf den Teil der amerikanischen Bevölkerung wendet, der in der veröffentlichten Öffentlichkeit keine Rolle spielt, findet man Parallelen zwischen den heutigen USA und dem Deutschland der Weimarer Republik.

Man findet eine Marginalisierung großer Teile des Landes, eine Interessenspolitik im Sinne führender Eliten und einen Mangel an Alternativen in beiden Staaten. Zumindest in der deutschen Geschichte sind die Folgen bekannt.

Die Wahl von Barak Obama in all ihrer Einzigartigkeit und der berichtete Optimismus, der damit einherging, lassen in den USA möglicherweise eine andere Zukunft vermuten. Doch Chomsky zeigen eine düstere Perspektive als ebenso realistisch auf.

Denn die Hoffnung, die die Wähler in Obama gesetzt haben ist gleichzeitig Gradmesser für die Verzweiflung, die hinter seiner Wahl steht. Was passiert also, wenn Barak Obama die in Ihn gesetzte Hoffnung enttäuscht?

Diese Situation in den USA ähnelt den deutschen Verhältnissen vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933: Ebenso wie in der Weimarer Republik ist in den USA der überwiegende Teil der Bevölkerung aus dem politischen Leben ausgeschlossen und in seinen Interessen nicht im Parlament vertreten – und nimmt dies auch so wahr, sagte Chomsky auf einer Veranstaltung in Stuttgart.

Es ist ziemlich ähnlich zur späten Weimarer Republik. Die Parteien brachen zusammen, es gab enorme Missstände, derer sich niemand angenommen hat und die Leute waren ziemlich unglücklich über die bedeutungslosen Debatten im Parlament.“

Die Anzeichen der heutigen Verzweiflung in den USA sind sichtbar, sie zeigen sich immer wieder in scheinbar widersprüchlichen Handlungen. Beispielsweise in einem Selbstmord im Februar mit einem eindrucksvollen Abschiedsbrief, oder bei der Senatorenwahl in Massachusetts im Januar, so Chomsky.

Die Senatorenwahl war eine Wahl für oder gegen Obamas Pläne für eine allgemeine Krankenversicherung – ein Begehren einer Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung, das seit Jahrzehnten von der Politik ignoriert wird. Für viele wurde diese Absicherung durch die Wahl Obamas eine realistische Perspektive.

Doch die Arbeiter fühlen sich von Obama schon im zweiten Jahr seiner Präsidentschaft in ihrem Anliegen dermaßen enttäuscht, so Chomsky, dass sie in Massachusetts nicht etwa einen Parteigenossen Obamas von der demokratischen Partei wählten, sondern den Republikaner Scott Brown.

„Sie haben sich selbst geschadet, es ist eine irrationale Entscheidung.“ Und genau von dieser Geisteshaltung geht die Gefahr aus, sagt der US-Intellektuelle. „Das sollte Erinnerungen wach werden lassen.“

Stellvertretend für das, was viele denken und möglicherweise eine berechtigte Analyse der amerikanischen Gesellschaft ist der Abschiedsbrief eines Arbeiters, der im Februar diesen Jahres in Austin, Texas Selbstmord beging, indem er ein Kleinflugzeug in das Gebäude des Finanzamts flog: Klick

Es gäbe durchaus Auswege, doch diese sind mit Bedacht und systematisch in unerreichbare Ferne gerückt worden. Die Arbeiter etwa in der Automobilindustrie könnten sich organisieren und die Fabriken übernehmen, die geschlossen werden und in diesen Waren wie etwa Züge produzieren, die die USA gerade im Ausland einkauft.

Doch dies würde einerseits die Bereitschaft der Politik voraussetzen, die Arbeiter und nicht etwa den Finanzsektor zu unterstützen – und es verlangt nach Arbeitern, die diese Möglichkeiten sehen. Chomsky:

Es bedarf einer aufgeklärten Arbeiterschaft. Was wir aber sehen ist eine selbstzerstörerische Arbeiterschaft“,

Wenn man dieser Beobachtung zustimmt, kann man auch die damit einhergehende Gefahr nicht mehr leugnen. Allerdings haben die Amerikaner schon oft gegen ihre Interessen gewählt, man denke nur an die Wahl Ronald Reagans zum Praesidenten 1981, der die Gewerkschaftsgesetzgebung praktisch ausser Kraft gesetzt hat. Somit besteht die heutige Gefahr im Prinzip schon seit Jahrzehnten – eine Tatsache, die sie möglicherweise eher noch gefährlicher macht.

Foto: John Soares unter Creative Commens Lizenz via Wikipedia

Werbung

Der Ruhrpilot

NRW: Viele Fragen offen…Post von Horn

NRW II: SPD warnt Grüne…Welt

NRW III: Gabriel kann sich Koalition mit FDP vorstellen…RP Online

NRW IV: Rüttgers geht im Superbus auf Wahlkampftour…RP Online

NRW V: Premiere für Wahltaktiker in Nordrhein-Westfalen…Welt

NRW VI: Röttgen und Wittke in Gelsenkirchen…Hometown Glory

Nazis: Abmahnung gegen Bo-Alternativ…Bo Alternativ

Kirche: Bischof Overbeck soll sich bei Lesben und Schwulen entschuldigen…Der Westen

Ruhrgebiet: Rüttgers will offenbar IBA Emscherpark neu auflegen…Der Westen

Duisburg: Neues Archiv in alten Mauern…Der Westen

Essen: Brunnen versiegen 2011 aus Geldmangel…Der Westen

Umland: Nach dem Film “Schwule Sau” – der neue Hass auf Homosexuelle: eine kurze Kritik…Zoom

Umland II: Das politische Berlin im Umbruch…Frontmotor

Zwanziger-Urteil: Das politische Berlin im Umbruch…Law Blog

Opel: Keine Entscheidung vor der NRW-Wahl…RP Online

Die WAZ-Gruppe setzt auf „Bürgerreporter“

Mit ihren Anzeigenblätter will die WAZ Mediengruppe die Bürger als Reporter für ihre eigenes Online-Angebot gewinnen. Zum Startschuss von Lokalkompass.de sind die Städte Wesel, Xanten, Menden und Fröndenberg dabei. Hinter dem Angebot steckt die Westdeutsche Verlags- und Werbegesellschaft (WVW) mit ihren 61 Titeln.

„Mit Lokalkompass.de festigen unsere Anzeigenblätter ihre Marktposition als Medium mit lokaler und sublokaler Ausrichtung und erschließen zusätzlich neue Leser- und Umsatzpotentiale“, sagt WVW-Geschäftsführer Haldun Tuncay. „Die lokale Online-Community ist ein ideales Modell, unsere Kundenbeziehungen auszubauen und noch näher bei unseren Leserinnen und Lesern zu sein.“ In Wesel berichten die Reporter über die Jahrestagung der DLRG, die neue Fassade des Rathauses und stellen die Landtagskandidaten vor. In Fröndenberg haben sich bisher erst 24 Bürger als Reporter eingetragen und in Xanten sind es immerhin schon 89. Die Redakteure der etablierten Anzeigenblatttitel sollen als Moderatoren die lokalen Communities betreuen und Tipps zum Schreiben von Beiträgen liefern. Mit dem Angebot möchte man neue Leser gewinnen und sich jüngere Zielgruppen erschließen. Ein gewünschter Nebeneffekt ist die Nutzung kostengünstiger Inhalte. Die meistgelesene Themen und besondere Beiträge werden in der Printausgabe der jeweiligen Region abgedruckt. Die journalistische Qualität steht bei den Anzeigenblättern ohnehin nicht im Vordergrund, da es hier um Marktabdeckung und Werbekunden geht.

Die WVW und die Ostruhr-Anzeigenblattgesellschaft (ORA) sind Marktführer in Deutschland und Europa. Nach eigenen Angaben erreichen sie alleine in Nordrhein-Westfalen, mit einer wöchentliche Auflage von über 5 Millionen Exemplaren, „nahezu jeden Haushalt in ihrem Verbreitungsgebiet“. Die WVW gehört seit 1977 zur WAZ Mediengruppe. An der Schwester-Gesellschaft ORA halten sowohl die WAZ wie der Verlag Lensing-Wolff jeweils 50 Prozent. Entstanden ist die Plattform Lokalkompass.de in Zusammenarbeit mit WAZ New Media und der Firma Gogol Medien als technische Dienstleister. Die vier Städte sind nur der Anfang und bis zum Jahresende sollen die übrigen Tittel der WVW folgen.