Westerwelle Streit: Kein brauner Sumpf in Sicht

westerwelle_public_domainNoch blöder als Karneval ist kein Karneval. Und kein Karneval fängt am Aschermittwoch an. Den gibt es selbstverständlich auch in der Politik, wo er – wie sinnig – politischer Aschermittwoch heißt. Die ganze Veranstaltung kommt aus Bayern. Das Copyright für diesen Event hat eigentlich die CSU, in Person des unvergessenen Franz-Josef Strauß. Von unserem Gastautor Werner Jurga

Im Laufe der Zeit hat sich die Bierzelt-Politik epidemisch auf die anderen Parteien ausgebreitet, teilweise sogar auf Orte außerhalb des bajuwarischen Freistaates. Allerdings: die Top-Veranstaltungen aller Parteien finden auf bayrischem Boden statt. Und die besten, weil die eigentlichen und unerreichbaren, sind nun einmal die Christsozialen.

Horst Seehofer, als ihr Vorsitzender sozusagen der Statthalter Franz-Josefs auf Erden, hatte dann auch den Volltreffer des Kein-Karneval-Auftakttages, als er das Palaver, das seit einer Woche die politische Debatte des Landes zu beherrschen scheint, einordnete als „Kein Tsunami, nur eine Westerwelle“. Kein Karneval scheint doch nicht so schlecht zu sein.

Man empörte sich nach Kräften über Westerwelles Gastbeitrag in der „Welt“ zur Altweiberfastnacht. Am letzten Donnerstag, also den 11. Februar 2010, gab der FDP-Vorsitzende zum Besten: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“ Dies ist der meist zitierte Satz aus dem auch ansonsten abgrundtief langweiligen Beitrag.

Ich wurde jedoch den Eindruck nicht los, diese Weisheit wie auch jeden anderen Baustein aus diesem die Republik in ihren Grundfesten erschütternden Dokument schon einmal irgendwie, irgendwo und irgendwann von Deutschlands Freiheitskämpfer Nummer Eins vernommen zu haben.

Spiegel Online war jetzt so freundlich, einen Blick in die Archive zu werfen; und siehe da:

■ Westerwelle im September 2003 in der „Welt am Sonntag“: „Die deutsche Politik trägt mittlerweile Züge der Dekadenz. Auf der ganzen Welt werden die Wohlstandschancen verteilt, das Wirtschaftswachstum ist höher als bei uns. Und wir gewähren Viagra auf Sozialhilfe.“

■ Im November 2003 im „Focus“: „Die deutsche Politik – die Politiker und die Meinungsmacher – hat mittlerweile einen ordentlichen Schuss Dekadenz.“

■ O-Ton Westerwelle in einem Interview mit der „Wirtschaftswoche“ im Dezember 2006: „Die deutsche Politik hat Züge von Dekadenz. Anstrengungsloses Einkommen den Menschen und anstrengungslosen Wohlstand der Nation vorzugaukeln, war schon der Grund für den Untergang des Römischen Reiches.“

■ In der „Bild“-Zeitung im Juni 2007: „Es ist dekadent, der Bevölkerung vorzugaukeln, es gäbe Einkommen ohne Anstrengung.“

■ Im Mai 2008 in der „Süddeutschen Zeitung“: „Ich halte es für dekadent, dass in unserer Gesellschaft das Soziale mit dem Staatlichen gleichgesetzt wird, und dass nur derjenige als mitfühlender Mensch gilt, der für staatliche Umverteilung ist.“

Noch nicht im „Welt“-Text hat sich der Gedanke befunden, dass diejenigen, die arbeiten, mit anderen Worten: die „Mittelschicht“ die „Deppen der Nation“ seien. Den hat Westerwelle in den folgenden Tagen dann noch draufgelegt. Den Gedanken, sollte es sich dabei um einen handeln. Gedanke oder nicht – egal: auch dieser Spruch ist alles andere als neu. Ich hatte ihn bereits vor zwei Jahren vernehmen können.

Zeit Online bringt eine dpa-Meldung, derzufolge der SPD-Vorsitzende über die CDU-Vorsitzende gepoltert habe, Merkel sei eine «Biederfrau bei den Brandstiftern», weil sie Westerwelle Benzin habe ins Haus tragen lassen und sich nun wundere, dass der Dachstuhl brennt.

Man möchte meinen, es müsse am Bierzelt von Vilshofen liegen, dass Sigmar Gabriel in der Wahl seiner Metapher so grässlich daneben liegt. Dass er in der zurückliegenden Woche wiederholt meinte, sich in dieser Sache auf Max Frischs Klassiker beziehen zu dürfen, muss nicht unbedingt dagegen sprechen. Es war ja die ganze Woche Karneval; da hat er gewiss nie die Einladung zum Bier so einfach ablehnen können.

Hannelore Kraft, Vorsitzende und Spitzenkandidatin, wusste freilich gleich, was die Stunde geschlagen hat. Frischs Brandstifter stehen metaphorisch für die Nazis. Nur: so verschwurbelt, wie es der Sigmar bringt, kapiert das mal wieder bestimmt kein potenzieller Wähler an Rhein und Ruhr. Also gibt Hannelore, die Wahlkämpferin, gleich einmal so richtig die Kante: Westerwelle fischt im „braunen Sumpf“. Das sitzt.

Frau Kraft ist also der Auffassung, Westerwelle habe in seinem Gastbeitrag für die „Welt“, wie man heute so sagt: „rechtspopulistische“ oder, wie ich sagen würde, faschistoide Thesen vertreten. Nun gut, es handelt sich nicht um einen Geheimtext; noch mal: Sie finden ihn hier.

Sollten Sie sich dieses Westerwellersche Standard-Gelaber nicht antun wollen, was ich verstehen könnte, lassen Sie es sich gesagt sein: da ist mittendrin dieser eingangs zitierte Satz. Davor und dahinter dieses seit Jahren bekannte neoliberale Zeug. Was da nicht ist: irgendetwas Braunes. Irgendetwas, das nur entfernt Assoziationen an Blut und Boden, an Deutschtümelei oder Herrenrasse zuließe. Nichts, gar Nichts.

Westerwelle ist bekennend lebender Schwuler, Westerwelle hat die Revanchistin Steinbach in ihre Schranken gewiesen, Westerwelle hat mit dem Rechtspopulismus nichts zu tun. Was sollen also diese unqualifizierten Andeutungen?

Seit wann wird im „braunen Sumpf“ der Kapitalismus über den grünen Klee gelobt? Westerwelle und seine FDP sind fest im Westen verankert; dort, wo er die USA kritisiert hat, befand er sich im Einklang mit den Sozialdemokraten. Dass er vor Jahren Möllemanns antisemitische Hetze laufen ließ, ist wahr. Aber eben auch: Vergangenheit. Außenminister Westerwelle hat seinen ersten Staatsbesuch in Israel absolviert, und zwar einwandfrei.

Westerwelle ist ein wirtschaftliberaler Politiker. Er hat die FDP auf seinen marktradikalen Kurs eingeschworen. Die gegenwärtig ungünstige politische Situation versucht er, durch eine Offensive der Sprüche zu „drehen“. In der Berliner Koalition droht die FDP auf zentralen Feldern zu scheitern. Fliegt sie aus der Landesregierung in NRW heraus, ist Westerwelle gescheitert. Schwarz-Grün erscheint als Schreckensbild am Horizont: die FDP droht zur Politsekte einiger kapitalistischer Radikalinskis zu werden.

Dass in dieser Situation führende Sozialdemokraten Westerwelle Vorwürfe machen, die vollkommen an der Sache vorbei gehen, gibt erstens kein gutes Bild ab und könnte sich zweitens bitter rächen. Denn es dauert noch eine ganze Weile, bis in NRW gewählt wird. Warum sollte es Westerwelle bis dahin nicht schaffen zu erläutern, dass seine Gegner hier wahlkampfgetrieben unsachlich „argumentieren“?!

In der Sache geht es um das Lohnabstandsgebot, das von niemanden in Zweifel gezogen wird. Diesem Gebot kann man dadurch gerecht werden, indem die Löhne erhöht oder aber die Hartz-Vier-Leistungen gesenkt werden. Oder indem flächendeckende Mindestlöhne eingeführt oder aber die Steuern gesenkt werden.

Westerwelle steht nicht mit leeren Händen da; er hat Zeit, und er weiß das. Daraus resultiert seine Unerbittlichkeit. Deshalb macht er Fehler. Ihm jetzt mit eigenen Fehlern zu antworten, ihm zu folgen auf dem Weg der Nervosität, der Verbissenheit und der dramatisierenden Propaganda, würde Westerwelle ziemlich früh die Umkehr zu seinem – neulich äußerst erfolgreichen – Steuersenkungs-Pop ermöglichen.

Westerwelle sagt es nicht offen; aber es ist klar. Und viele in der Union machen wenig Hehl daraus, dass sie es letztlich genauso sehen: die Hartz-Vier-Sätze sollen gesenkt werden. Im NRW-Wahlkampf sollte es um die Frage gehen, ob die Leute dies auch wollen. Oder ob sie das Lohnabstandsgebot durch flächendeckende Mindestlöhne und allgemein durch eine expansive Tarifpolitik gewährleistet wissen wollen.

Man lese und staune: die überwältigende Mehrheit ist gegen eine Politik der Steuersenkungen. Warum auch immer. Und dieser Mehrheit liegt auch das Lohnabstandsgebot sehr am Herzen. Hieran gilt es anzuknüpfen. Das Gerede über den „braunen Sumpf“, in dem sich Westerwelle angeblich bewege, geht auch insofern in eine völlig falsche Richtung. Und ganz unabhängig davon: es gehört sich nicht.

Ruhrpilot – Das Navigationssystem für das Ruhrgebiet

forum_mh Ruhrgebiet: Mentalitätswechsel durch Architektur?…Exportabel

Pleite: Kündigt Dortmund Sozialarbeitern?…Der Westen

Pleite II: Bochum hat gar nix mehr…Der Westen

Pleite III: Schlosstheater Moers vor dem Ende…RP Online

VRR: Streit um Bahn-Vertrag…RP Online

Film: Frauenwunder…Gelsenkirchen Blog

Kunst: Anton Stankowski…Hometown Glory

Social Media: Schelme wie wir…Blogbar

Ruhr2010: RuhrHochDeutsch…Ruhr Nachrichten

Online: Demo gegen Netzsperren…Netzpolitik

Dortmund: Langemeyer möchte nicht Alt-OB werden…Der Westen

Recht: Keine Kreuze im Gericht?…Law Blog

Internet: Studenten testen Apps…Ruhr Nachrichten

Weitere dubiose Vorgänge im Ministerium von CDU-Uhlenberg

uhlenbergkuhFoto: Umweltministerium / Der Umweltminister Eckhard Uhlenberg (CDU) steht links

Das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Abteilungsleiter im NRW-Umweltministerium Harald F. ist festgefahren. Alle Vorwürfe aus dem Haftbefehl mussten fallengelassen werden, nur wenige Randvorwürfe werden von Staatsanwalt Ralf Meyer aus Wuppertal noch aufrechterhalten und vom Landeskriminalamt (LKA) verfolgt. Da geht es um Currywürste und Braten oder sechs mehr oder weniger belanglose Schreiben, die im privaten Büro von Harald F. herumgeflogen sind. Nach Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft allesamt Dinge, die kaum zu einer Anklage reichen, und mit denen ich mich hier nicht weiter beschäftige. Denn es gibt noch einen Vorwurf, der allerdings interessant ist.

Es geht um Computerkarten und eine angeblich manipulierte Ausschreibung. Ich habe den Eindruck, als habe die Verfolgung des Staatsanwaltes aus Wuppertal und der Druck des LKA eine persönliche Note bekommen. Eine Note, die man auch Wut nennen könnte. Vernichtungswut.

Zunächst ist bereits klar, denke ich, wie das Ermittlungsverfahren gegen den Ex-Abteilungsleiter angestoßen wurde. Es war eine Art Intrige, die von der Spitze des Umweltministeriums befeuert wurde. Die Spuren dieser Intrige habe ich hier nachgezeichnet. klick

Selbst Minister Eckhard Uhlenberg musste vor dem Untersuchungsausschuss im Landtag NRW zugeben, dass er in Grundzügen über die Nummer informiert war – auch wenn er es nicht für eine Intrige hält, sondern für ein ganz normales Vorgehen, was ein eher schlechtes Licht auf den CDU-Politiker wirft.

Aber egal. Ich will den Vorwurf mit den Computerkarten nachzeichnen. Hier muss ich früh ansetzen. Bei einer Geschichte, die lange zurückliegt. Damals, als Harald F. noch Abteilungsleiter im NRW-Umweltministerium war.

Wir gehen zurück ins Jahr 2004 etwa. Da fiel Harald F. auf, dass immer wieder Aufträge aus dem Landesumweltamt vergeben wurden, ohne dass irgendwas ausgeschrieben wurde. Er fing an sich zu wundern, und ließ eine Aufstellung machen. Darin sammelte er monatelang alle dubiosen Vergaben aus dem Landesumweltamt.

Später nach dem Wechsel der Landesregierung kommt ein anderer Stein ins Rollen. Nicht gegen das Landesumweltamt, sondern gegen Harald F.. Beim Landesrechnungshof ging eine anonyme Anzeige ein, in der Harald F. nun vorgeworfen wurde, er habe sich selbst zwielichtiger Geschäfte schuldig gemacht. Der Landesrechnungshof leitete die anonyme Anzeige an das Umweltministerium weiter und bat um Stellungnahme. Im Ministerium sorgte das Schreiben bald für interne Furore, denn Harald F. hatte die Post aus dem Landesrechnungshof selbst beantwortet, ohne die Hausspitze korrekt zu informieren, wie Umweltstaatssekretär Alexander Schink (CDU) meinte. Wie dem auch sei, am Ende wurde aus der anonymen Anzeige an den Landesrechnungshof ein wichtiger Zündfaden, um die Intrige gegen Harald F. zu spinnen.

Ich will einen Schritt zurückgehen. Ganz an den Anfang. Was waren das für dubiose Vergaben, die Harald F. zusammenstellen lies?

Es ging um Datenverarbeitungen. Seit Jahren hatte das Landesumweltamt hier mehr oder weniger freihändig Aufträge im Gesamtwert von über 18 Mio. Euro rausgehauen. Nutznießer war allzu oft die Firma Emprise Consulting GmbH aus Düsseldorf.

Seit 2004 trug Harald F. Belege über diese Vergaben zusammen. Der Chefhaushälter im Landesumweltamt wurde informiert. Es folgten Diskussionen mit dem damaligen Präsidenten des Landesumweltamtes. Kernpunkt der Kritik war neben den zweifelhaften Auftragsvergaben vor allem die Abhängigkeit in die sich das Landesumweltamt sehenden Auges stürzte. Alle Datenprozesse wurden von nur sehr wenigen Unternehmen betreut. Schließlich fertigte der Chefhaushälter im Landesumweltamt einen Bericht an.

Er stellte fest, dass von Gesamtaufträgen in Höhe von 18,6 Mio. Euro nur 440.000 Euro öffentlich ausgeschrieben wurden.

Im gleichen Zeitraum wurden 9,8 Mio. Euro freihändig vergeben, davon bekam die Firma Emprise allein 6,7 Mio. Euro. Zudem flossen 7,3 Mio. Euro über Anschlussfinanzierungen an diverse Firmen. Hier bekam Emprise 1,8 Mio. Euro vom Kuchen. Alles für Software-Lösungen.

Harald F. war erstaunt. Er lies die Software der Firma Emprise durchleuchten. Seiner Ansicht nach wurden dabei mehrmals veraltete Systemkomponenten einfach doppelt abgerechnet.

Ein Gutachten der Firma Mummert und Partner wurde erstellt. Darin wurden die Software-Praktiken im Landesumweltamt beschrieben. Gleichzeitig wurde eine angeblich enge Verbindung des Emprise-Chefs Joachim R. zum Präsidenten des Landesumweltamtes Herrn I. bekannt.

Harald F. informierte den Staatssekretär im Umweltministerium Alexander Schink über die Vorgänge. Wie dieser auch zugibt.

Soweit so gut. An dieser Stelle hätte man erwarten können, dass es zum Knall kommt. Dass die Vergaben des Landesumweltamtes offiziell untersucht werden.

Doch genau das passierte nicht.

Stattdessen sagte Staatssekretär Schink vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages, es habe ein Zerwürfnis zwischen Harald F. und dem damaligen Präsidenten des Landesumweltamtes Herrn I. gegeben. Schink spricht weiter davon, er habe als Staatssekretär versucht, dieses Zerwürfnis zu kitten. Doch dies habe nicht geklappt. Gleichzeitig sei ihm, Schink, aufgestoßen, dass Harald F. versucht habe, die Vergaben im Landesumweltamt zu zügeln.

Und weiter sagt Schink vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages – ungefragt – der Chef des Ruhrverbandes Harro Bode habe sich bei ihm, Schink, über Harald F. beschwert, weil der in einer Karte dargestellt habe, dass die Kläranlagen des Ruhrverbandes nicht so gut gewesen seien, wie immer behauptet. Bode habe gesagt, diese Karte sei unverschämt gewesen. Denn dort seien unter anderem seine Klärwerke mit einem roten Punkt markiert gewesen.

Ich habe die Karte gesehen. Tatsächlich waren da rote Punkte auf den Kläranlagen des Ruhrverbandes. An diesen roten Punkten konnte jeder Leser sofort erkennen, dass diese Anlagen mehr Schadstoffe in die Ruhr abließen als andere Klärwerke.

Auch das ist interessant. Zur Erinnerung: Der Ruhrverband ist der Verband, der sich in der Vergangenheit gegen die Verbesserung seiner Kläranlagen gesperrt hat, als öffentlich gefordert wurde, die Anlagen zu ertüchtigen, damit daraus keine krebserregenden PFT mehr in die Landschaft sickern.

Was machte Schink? Er spricht von den anonymen Vorwürfen an den Landesrechnungshof, siehe oben, findet den Umgang mit den anonymen Vorwürfen skandalös und entlässt später Harald F. Einen Zusammenhang zwischen der Entlassung und dem PFT-Skandal oder den dubiosen Vergaben im Landesumweltamt habe es nicht gegeben. Niemals. Das sagt Schink vor dem Untersuchungsausschuss.

Nach den anonymen Anzeigenerstattern forschte er nicht.

Auch die dubiosen Vergaben im Landesumweltamt wurden nach dem Rauswurf von Harald F. nicht weiter untersucht.

Schink sagt, ihm sei damals von den Verantwortlichen im Landesumweltamt berichtet worden, dass alles seine Richtigkeit gehabt habe, da es Module gewesen seien, die eben immer an die Emprise und andere Unternehmen gegangen seien. Das sei so OK. Das war alles. Die Beschuldigten haben sich rein gewaschen. Und Ende.

Erst jetzt hat Schink vor dem Untersuchungsausschuss – ungefragt – zugegeben, dass die Vergaben damals vielleicht doch nicht so OK waren, wie früher gedacht. Und weiter sagt Schink, er habe nun das Landesumweltamt aufgefordert, ihm zu der „Gesamtproblematik“ bis morgen (18. Februar) Bericht zu erstatten, denn Harald F. habe ihn damals nicht umfassend informiert. Ganz nach dem Motto, wem man einmal Schuhcreme ins Gesicht geschmiert hat, der bleibt auch der schwarze Peter. Im Kleingedruckten seiner Aussage gibt Schink nämlich an anderer Stelle zu, Harald F. habe ihn informiert. Ein leitender Ermittler aus der Generalstaatsanwalt Düsseldorf fragte mal, wann eigentlich die Pflicht des Staatssekretärs Schink beginne, nachzufragen.

Wie dem auch sei. Hier eine Liste der dubiosen Vergaben als PDF zum herunterladen. Klick

Ob die Sache noch was bringt, ist fraglich. Im Sommer 2009 wurde über das Vermögen der Firma Emprise das Insolvenzverfahren eröffnet.

Wo ist jetzt der Zusammenhang zu dem Ermittlungsverfahren?

Nun: Ich möchte auf einen Namen aufmerksam machen. Bei den dubiosen Vergaben im Landesumweltamt damals war ein Mann ganz vorne mit dabei. Herr V., zuständig für die Datentechnik im Haus. Die eine oder andere Vergabe hat er sogar selbst betreut.

Doch nun zum letzten echten Vorwurf im Verfahren gegen Harald F. Wie gesagt, es geht um die Erstellung von Computerkarten. Es heißt, einer Firma, mit der Harald F. zu tun gehabt habe, seien Unterlagen aus einer Ausschreibung für die Erstellung eben dieser Karten zugespielt worden, damit diese den Auftrag gewinnt.

Spannend ist die Genese des entscheidenden Beweises zu diesem Vorwurf: Ich muss jetzt sehr detailliert werden, um meinen Punkt zu machen. Sorry, es geht nicht anders.

Es geht vor allem um das Asservat 28-2-53.

Dieses Asservat wurde angeblich im Haus des Beschuldigten K. gefunden. Es ist ein Aktenordner. In dem Aktenordner sollen Unterlagen gefunden worden sein, die beweisen, dass K. ein Konkurrenzangebot zur Vergabe der Computerkarten vorab in die Hand bekam. Der Aktenordner ist eine Sammlung von einzelnen Dokumenten und Papieren.

Zunächst lässt sich aus den Verfahrensakten herauslesen, dass die belastenden Unterlagen aus dem Asservat 28-2-53 erst sehr spät explizit und detailliert in die Hauptakte des Verfahrens eingeführt wurde. Nämlich ab etwa Blatt 9500. Zu dem Zeitpunkt als diese Seiten angelegt wurden, waren die meisten Vorwürfe schon erledigt.

Für unseren Fall ist besonders der Einzelbeweis Nr. 35 wichtig: Ein angebliches Original des Angebotes der Firma Land & System. Mit diesem Angebot bewarb sich die Firma um den Auftrag, die Computerkarten zu erstellen.

Dieses Schreiben soll nun dem Beschuldigten K. zugespielt worden sein. Er soll es dann benutzt haben, um sein eigenes Angebot zu frisieren und so den Auftrag für die Erstellung der Computerkarten zu bekommen. Dieser Einzelbeweis Nr. 35 soll im Asservat 28-2-53 gewesen sein. Also in dem entsprechenden Aktenordner. Eine Beweiskette, die zu einer Anklage reichen könnte. Auch wenn nicht nachgewiesen ist, was Harald F. damit zu tun haben soll.

Aber war die Kette eigentlich so, wie behauptet? Es geht weiter in die Details. Der erste ausführliche Bericht über die Durchsuchung beim Beschuldigten K. stammt vom 3. Juni 2008. Er beginnt schon auf der Seite 3673 der Hauptakte und geht über mehr als 150 Seiten. Hier wird indirekt auch das Asservat 28-2-53 erwähnt, ohne aber detailliert den Inhalt zu beschreiben. Der Bericht enthält noch keinen Hinweis und keine Dokumentation des angeblichen Originalangebots der Firma Land & System.

In der Hauptakte folgt dann auf den Blättern 7659 bis 7661 eine Tabelle über die Projekte mit Beteiligung des Beschuldigten K. Diese Tabelle wurde mit Datum 30. Oktober 2008 verfasst.

In dieser Tabelle ist zum erstenmal von dem Projekt zur Erstellung von Computerkarten die Rede, das angeblich verschoben sein soll. Dabei bezieht sich die Tabelle auf ein anderes, nämlich im Umweltministerium sichergestelltes Asservat mit der Nummer: 01/43.

Es kommt zu einer Merkwürdigkeit: Ab der Seite 7662 in der Hauptakte folgt ein weiterer Bericht über Asservate in einem Objekt des Beschuldigten K. Dieser Bericht datiert vom 29. August 2008. Und ist damit zwei Monate älter als die zuvor dokumentierte Tabelle aller Projekte mit Beteiligung des Beschuldigten K.

In diesem Bericht werden insgesamt 29 Beweismittel dokumentiert. Ein angebliches Original des Angebotes der Firma Land & System ist wieder nicht dabei.

Dann folgt in der Hauptakte ein Vermerk über die Auswertung eines weiteren Objektes des Beschuldigten K. Dieser Vermerk ist vom 8. Juli 2008 und damit noch mal älter als die zuvor benannten Akten.

Die sichergestellten Asservate werden detailliert beschrieben. Und insgesamt 37 Beweismittel dokumentiert. Das angebliche Original des Angebotes der Firma Land & System wird weder erwähnt noch dokumentiert.

Dass die Vermerke älter sind als der zusammenfassende Bericht, ist nicht seltsam. Denn auf diesen Vermerken basiert der Bericht. Seltsam ist, dass ein angebliches Original des Angebotes der Firma Land & System aus dem Asservat 28-2-53 nicht erwähnt wird. Hier hätten diese Dokumente doch auffallen müssen. Denn dies wäre ja so etwas wie ein rauchender Colt.

In der Hauptakte folgen dann weitere Berichte über andere Asservate, in denen über 40 Beweismittel dokumentiert werden. Hier taucht auch das Projekt Computerkarten wieder auf. Es werden fünf Schreiben zwischen dem Beschuldigten K. und dem Ministerium aufgeführt und ein Leistungsnachweis dokumentiert. Das Original des Angebotes der Firma Land & System wird wieder nicht erwähnt, obwohl in diesen Berichten und Vermerken sehr detailliert die vorgefundenen Schreiben beschrieben werden.

Lediglich in einem zusammenfassenden Bericht wird auf Seite 7765 der Hauptakte auf der unteren Seitenhälfte erwähnt, dass ein Angebot der Firma Land & Systems aufgefunden wurde. Auf Seite 7765 wird das Beweismittel noch einmal erwähnt. Hier trägt es überraschender Weise die Nummer 238.

Die hohe Ordnungszahl ist merkwürdig. Sie deutet eigentlich darauf hin, dass dieses angeblich bei dem Beschuldigten K aufgefundene Beweismittel nicht aus dem Asservat 28-2-53 stammen kann.

In den Asservaten 28-2-54 und 28-2-55 wurden beispielsweise die Beweismittel-Nummern von 38 bis 78 verteilt. In dem Aktenordner des Asservates 28-2-53 gehen die Ordnungsnummern auch nicht wirklich höher.

Wo gibt es aber so hohe Zahlen für Beweismittel, wie jene 238? Nach Aktenlage eigentlich nur im Umweltministerium. Wir erinnern uns an die Tabelle, in dem das Projekt zur Erstellung von Computerkarten erwähnt wurde. Diese Tabelle basierte auf dem im Umweltministerium sichergestelltes Asservat mit der Nummer: 01/43.

Die nächste Merkwürdigkeit: Der Aktenordner, der eigentlich das Asservat 28-2-53 ausmacht, verschwindet scheinbar. Er wird offensichtlich zerrupft. Existiert nicht mehr als Sammlung, sondern nur noch in seinen Einzelteilen. Für den Untersuchungsausschuss im Landtag wird er später erneut zusammengestellt, irgendwie. Doch das klappt nicht so richtig. Mit einem Mal sind Unterlagen der Ermittler, wie zum Beispiel ein Gutachten über Fingerabdrücke, Bestandteil des Ordners. Krude.

Am 6. Februar 2009, nachdem die meisten Vorwürfe auf Anweisung der Generalstaatsanwaltschaft erledigt waren, taucht plötzlich eine neue Inhaltsbeschreibung des Asservates 28-2-53 auf. Und zwar auf den Seiten der Hauptakte 9518 bis 9532. Und hier findet sich nun eine „Anlage 35“. Diese Anlage wurde in den vorherigen Auswertungen nicht dokumentiert oder beschrieben. Auch jetzt wird diese Anlage nicht dokumentiert. Sie wird nur erwähnt.

Erst am 18. Mai 2009 wird das Original des Angebotes der Firma Land & System als Beweisstück Nr. 35 in das Verfahren eingeführt. Und explizit in die Hauptakte eingebracht. Es heißt nun, das Angebot sei in den Unterlagen gefunden worden, die beim Beschuldigten K. beschlagnahmt wurden.

Ein Beweis der vom Himmel fällt? Gerade dann, wenn das Verfahren vor dem Aus steht? Komisch.

Vor allem, wenn man bedenkt, wie die handschriftlichen Notizen der Zeugin Dorothea Delpino aufgetaucht sind, als das Verfahren wegen Geheimnisverrat bei einem Bewerbungsgespräch vor der Einstellung stand.

Denn am 18. Mai 2009, dem gleichen Tag, an dem das Beweisstück 35 auftaucht, ruft Eckhard Lech, Leiter der LKA-Ermittlungskommission im Fall Harald F., bei der Belastungszeugin Delpino an. Er fragt sie, ob sie noch etwas Belastendes gegen Friedrich habe. Diese Frage ist merkwürdig, da Delpino bereits 2006 alles Interessante und Uninteressante, alle möglichen Emails von Harald F. und Daten, derer sie habhaft werden konnte, an das LKA ausgehändigt hat – Hauptsache es erweckte den Eindruck, Harald F. habe etwas verbotenes getan. LKA-Mann Lech und Delpino standen zudem sehr lange in engem Kontakt und tauschen ganze Aktenordner mit angeblich belastendem Material aus. Unterlagen, die diese Aussage beweisen können, liegen mir vor.

Wie dem auch sei. Jedenfalls informierte Delpino das LKA am 20. Mai 2009, die gewünschten Unterlagen seien lieferbar. Der Leiter der Ermittlungskommission Lech holte die Papiere daraufhin bei Delpino persönlich ab. Nochmal: Lech ist genau der Beamte, der zuvor sehr eng mit Delpino beim Zusammenstellen der Korruptionsvorwürfe zusammengearbeitet hatte.

Natürlich kann es sein, dass die Beamten um Lech erst spät bemerkt haben, dass sie da etwas Belastendes übersehen haben. Kann ja auch sein, dass eine Zeugin jahrelang handschriftliche Notizen aufbewahrt, die beweisen sollen, dass sie und Harald F. bei ihrer Einstellung betrogen haben.

Aber wie wahrscheinlich ist das?

Jetzt zurück zum Landesumweltamt und die dubiosen Vergaben da. Sie erinnern sich? Erinnern Sie sich noch an Herrn V.? Das war der Mann, der für die Datentechnik zuständig war, und der die eine oder andere Vergabe betreut hat, die von Harald F. angegriffen wurden.

Dieser Mann ist mit einem mal wieder dabei. Mitten im Ermittlungsverfahren rund um den letzten echten Vorwurf. Diesmal ist er so eine Art Generalzeuge für Staatsanwalt Meyer und das LKA, wenn es darum geht, Harald F. im Fall der so genannten Computerkarten zu belasten. Herr V. beurteilt für die Ermittler die angeblichen Beweise. Bemerkenswert oder? Vor allem wenn man an den anonymen Anschiss beim Landesrechnungshof denkt. Und die Briefeschreiber, die nie gesucht wurden.

Tscha. Was soll ich sagen. Da fällt mir auch nicht mehr viel ein. Ich finde das alles nur super seltsam. Ob Herr V. die anonyme Anzeige gestellt hat, weiß ich nicht. Ich weiß nicht mal, ob es einen Zusammenhang zwischen dem anonymen Angriff und der Vergabeaffäre im Landesumweltamt gibt. Keine Ahnung.

Ich finde es nur dubios, wie hier Beweise auftauchen. Und ich finde es komisch, dass Leute Harald F. belasten sollen, die zuvor selbst in einem Vergabeverfahren von diesem angegriffen wurden.

Vor dem Untersuchungsausschuss im Landtag trat LKA-Mann Lech jedenfalls mit gleich zwei Rechtsanwälten an der Seite auf. Warum, ist schwer zu sagen. Vielleicht, weil er und die Staatsanwaltschaft Wuppertal die Unterlagen zur Vergabeaffäre im Landesumweltamt zwar beschlagnahmt, aber nach kurzer Prüfung wieder rausgegeben haben, ohne irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen?

Was weiß ich. Hier nun der Gag zum Schluss: Aus der Hauptakte des Ermittlungsverfahrens kann man lesen, dass der Beschuldigten K. sein erfolgreiches Angebot für die Erstellung der Computerkarten am 3. September 2003 im Umweltministerium eingereicht hat. Das Konkurrenzangebot von Land & System ging erst am 17.September 2003, also rund 14 Tage später dort ein. Wie soll der Beschuldigte K. also sein eigenes Angebot auf Basis des Angebots von Land & System frisiert haben, das er angeblich auf kriminellem Wege aus dem Umweltministerium bekam?

Oberstaatsanwalt Jens Frobel von der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf sagte mal im Untersuchungsausschuss, Staatsanwalt Meyer aus Wuppertal habe nicht immer die nötige Aktenkenntnis, um die Vorwürfe zu beurteilen.

Könnte was dran sein.

Ich habe schon öfter über den Skandal berichtet. Hier gibt es mehr zum Thema:

Uhlenberg-Ausschuss wird zum Justizskandal. Strafvereitelung oder Verfolgung Unschuldiger?

Ermittlungsakten für Zeugen – wie sich Mitarbeiter des NRW-Umweltministeriums auf Aussagen vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages vorbereiten können

LKA-Beamter setzt Uhlenberg-Ministerium unter Druck

LKA versus Umweltminister Uhlenberg

Uhlenberg-Untersuchungsausschuss: Spuren einer Intrige

Uhlenberg-Untersuchungsausschuss: Justiziar verwickelt sich in Widersprüche

Anfrage-Email wird im Uhlenberg-Untersuchungausschuss verteilt

LKA-Vermerk aus dem Uhlenberg-Ausschuss: “Hat Frau Delpino die Ermittlungen geführt?”

Uhlenberg-Skandal wird richtig übel

Dubiose Belastungszeugin präsentiert dubiose Belege

Der Untersuchungsausschuss “Uhlenberg” hat viel zu tun

Die Akte F – wie das NRW-Umweltministerium einen Ex-Mitarbeiter verfolgt

Berichte aus dem Sumpf, in dem Uhlenberg und das LKA sitzen

Abhörskandal im PFT-Fall

Mega-Lauschangriff in NRW

Der Fall F. – Ministerium erhält Einblick in Ermittlungsakte

Offene Akten für die Belastungszeugin

Verfahren Harald F – Pleite für die Staatsan

Werbung

Apple kommt ins Ruhrgebiet

appleApple-Stores gibt es in Deutschland in Hamburg, München und Frankfurt  – und bald im Ruhrgebiet.

Denn offensichtlich plant Apple einen Store im CentrO in Oberhausen. Mitarbeiter werden schon gesucht. Ich hoffe der Store öffnet im Sommer – ich stelle es mir blöd vor, vier Nächte im Schnee zu schlafen, nur um die Eröffnung mitzuerleben.
Via Macwelt

MSV-Präsi-Hellmich: Ärger bei der Alemannia in Aachen

hellmi

Duisburg, St. Pauli und jetzt Aachen.Handwerker haben Streit mit der Walter Hellmich Bau GmbH. Der Streit zwischen dem Dinslakener Bauunternehmer und MSV Präsidenten und einem Aachener Maler droht nun zu eskalieren. Es geht um fast 300.000 Euro. Klagen nicht ausgeschlossen.

Der Bauunternehmer Frank Stelljes aus Bremervörde weiß über Walter Hellmich Baugesellschaft nur Gutes zu berichten: „Als es mit den Zahlungen hakte, gab es Streit, dann haben wir uns zusammengesetzt und das Problem gelöst.“  Die Zahlungsmoral auf dem Bau, das sei ein düsteres Kapitel, aber Hellmich sei mit seinem Unternehmen beim Bau der Südtribüne des neuen Stadions am Millerntor, dem Renommeeprojekt des Zweitligisten St- Pauli, ein realtiv fairer Partner gewesen. Immerhin – als mit dem Stopp der Arbeiten gedroht wurde, hat er gezahlt.

Das würden die Handwerker auch gerne sagen können, die sich in der vergangenen Woche in der Wohnung von Maler Michael Severich in Aachen-Laurensberg trafen. Sie alle haben ein gemeinsames Problem: Sie haben als Subunternehmer für die Walter Hellmich Bau GmbH am Neubau des Aachener Tivolis gearbeitet. In einer Rekordzeit von 13 Monaten haben sie das neue Tivoli hochgezogen. Hellmichs Unternehmen wollte sein Versprechen halten, dass die Alemannia den Saisonauftakt 2009/2010 im neuen Stadion feiern konnte. Das gelang – auch wenn die Feier ausblieb: Aachen verlor 0-5 gegen St. Pauli.

Nun wollen sie ihr Geld. Zum Beispiel Maler Michael Severich. Der hat die Aachener Kanzlei Delheid Soiron Hammer mit der Wahrung seiner Interessen beauftragt. In einem Schreiben vom 1. Dezember 2009 fordert die Anwaltkanzlei die Bürgschaft über 265.053,51 Euro an den Maler, nachdem die bereits angemahnten Zahlungen ausblieben. Geld, bzw. eine Absicherung, die Severich dringend  benötigt: „Wenn wir nicht im Herbst einen großen Auftrag auf einer anderen Baustelle bekommen hätten, wären wir in die Pleite gegangen. Ich habe 18 Angestellte – ich brauche das Geld.“

Die Baugesellschaft Walter Hellmich hat den Forderungen des Malers widersprochen. 61 Punkte hatte das Unternehmen in einem ausführlichen Schreiben an der Arbeit von  Severich zu bemängeln – Severich hat die Mängel seiner Ansicht nach ausgeräumt. Bei den von Hellmich aufgeführten „Mängeln“ handelt es sich laut Severich um Zusatzleistungen bzw. noch nicht erbrachte Restarbeiten aus dem Vertrag. Die Arbeiten für die Firma Hellmich wurden jedoch auf Grund nicht geleisteter Vergütung eingestellt, und werden auch dann erst wieder aufgenommen, wenn die Vergütung erfolgt. Nun bereitet sein Anwalt die Klage gegen Hellmichs Bauunternehmen vor. Über 80.000 Euro wollen die anderen Handwerker, die sich bei Severich getroffen haben. Sie haben dem Dinslakener Bauunternehmen letzte Fristen eingereicht – verstreichen die, wollen auch sie klagen.

Der Ärger mit den Handwerkern ist nicht das einzige Problem Hellmichs in Aachen: Das Parkhaus ist so mangelhaft gebaut, dass die Aachener Parkhaus GmbH (APAG), eine städtische Tochter, die das Tivoli-Parkhaus in Auftrag gab, das Gebäude nicht abgenommen hat. Nur zu den Heimspielen der Alemannia wird es kurzzeitig freigegeben. Dumm auch für die Alemannia: Auf dem Dach des Parkhauses sollten Trainingsplätze für Kicker eingerichtet werden.

Weitere Probleme hat Hellmich auch mit einer Fläche südlich des Stadions: Ursprünglich wollte er sie lukrativ entwickeln. Ein Aachener Ratsherr: „ 50 Millionen war ein guter preis, aber das Packet Stadion beinhaltete eben auch die Möglichkeit für Hellmich das Südgelände lukrativ zu bebauen und zu vermarkten.“

Auf ihrer Homepage beschreibt Hellmichs Unternehmen seine Pläne mit dem Areal: „Darüber hinaus ist die Hellmich Gruppe damit beauftragt, eine südlich angrenzende Projektfläche zu entwickeln. Diese Projektfläche bietet hervorragende Nutzungsmöglichkeiten für Sportfachmärkte, Hotels oder medizinische Einrichtungen.“ Bis Ende des Jahres hatte Hellmich Zeit, einen Erbpachtvertrag mit der Stadt zu schließen. „Bei uns ist aber nichts angekommen“, sagt das Ratmitglied. Schade, denn das Areal grenzt an die Fläche auf der das weltbekannte Concours Hippique International Officiel (CHIO) stattfindet und ein lukrativeres Publikum als die Alemannia anzieht. Warum lässt sich Hellmich das Geschäft entgehen? Wir wissen es nicht. Weder zur Bezahlung der offenen Rechnungen der Aachener Handwerker noch zu den weiteren Plänen Hellmichs auf dem Alemannia Gelände bekamen wir bis jetzt eine Antwort von Hellmich auf unsere Fragen.

Mehr zu dem Thema:

Walter Hellmich, der MSV und das Geld

CAST INC. – DAS GESCHÄFT MIT DEM ERFOLG

mugshot_openerBlut. Überall war Blut. An unseren Händen, auf dem Fußboden, überall. Wir sind schuldig. Wir haben unseren Nachbarn erschlagen, seinen Schädel mit einem Spaten gespalten und das Hirn im Geräteschuppen verteilt. Wir hatten keine Wahl. Ihr hättet genauso gehandelt. Tut man nicht alles für den Ruhm? Für die Glitzerwelt der Reichen und Schönen, für Champagner, Groupies und Unsterblichkeit. Die Anklagebank von Barbara Salesch wird unser Sprungbrett sein. Wir waren bei einem Casting der Produktionsfirma filmpool. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.


PROLOG: Die Stehascher am Eingang zum Hotel Bredeney, Essen, 14.12 Uhr:

Erzählerstimme aus dem Off (sonorer, verrauchter Klang): Wie sagte Marilyn Monroe einst? Hollywood ist ein Ort, wo sie Dir 50.000 Dollar für einen Kuss und 50 Cent für Deine Seele zahlen. Deine Seele bedeutet im Jetzt nichts. Existiert ein Stuhl, wenn Du ihn nicht anschaust? Bist Du da, wenn Dich niemand sieht? Wir sind nur die Spiegelbilder in den Augen der anderen. Die einfachste Flucht aus der Bedeutungslosigkeit ist der Weg auf die Bühne. Talent spielt in dieser Welt keine Rolle, es zählt der Wille.


Regennasser Asphalt. Den Parkplatz vor dem vier Sterne Hotel überzieht ein matter Glanz. Menschen drängen sich unter dem kleinen Vordach des Eingangs, suchen Schutz vor dem Nieselregen. Ihre Finger halten sich an Zigaretten fest, während Anspannung von ihren Gesichtern bröckelt wie der Putz von einer alten Häuserfassade.

„Krass, ich hab da gesessen und fast geheult, so sehr hab ich mich in die Rolle reinversetzt. Und in das da, was mit dem Mädchen passiert ist.“

„Ich bin auch voll froh, dass ich es hinter mir hab. Im Zimmer nebenan hat einer voll geschrien. Das war echt total heftig.“

Das Reden scheint wie ein Akt der Befreiung für die zwei Teenager. Vielleicht 16 oder 17 Jahre alt. Ihre Haare sind blondiert, ihre Ärsche stecken in kurzen Röcken, die kindlichen Züge sind hinter Make-Up versteckt. Daneben eine Mutter, die mit Autoschlüsseln klimpert. Sonntagsausflug – powered by emotion.

Drei Burschen marschieren zwischen den geparkten Autos hindurch, an einem Kombi vorbei, der gerade mit Samsonite-Koffern vollgestopft wird, zum Eingang. Flaum auf der Oberlippe, Babyface. Sie haben ihren großen Auftritt noch vor sich. Mützen, Baggys, Natural Born Gangstaz.

„Ey, isch werd denen gleich da was vorrappen, Alter. Isch schwör.“

Schwarze Granitplatten im Hoteleingang pflastern die Pforte zur Glitzerwelt. Wer hindurch schreitet, kauft ein Los für eine bessere Zukunft. filmpool castet (heute) die Formate „Niedrig & Kuhnt“, „Zwei bei Kallwass“, „Barbara Salesch“, „Verdachtsfälle“ und „Familien im Brennpunkt“.

Schlange und Joswig stehen neben dem Eingang an die Außenmauer gelehnt und rauchen. Die Anmeldung zur nächsten Runde des Castings beginnt in einer Viertelstunde.

Schlange drückt seine Kippe in einem der wettergegerbten Stehascher aus und steckt sich die nächste an. Mit zusammengekniffenen Augen blickt er zu Joswig. „Wie läuft normalerweise so n Casting ab?“

„Zunächst werden überhaupt mal die Fahrtkosten erstattet.“ Joswig zieht an seiner Kippe und fixiert seinen Berlingo auf dem Parkplatz. Spritverbrauch gut neun Liter auf 100 Kilometern. Er stößt den Qualm in die dünnen Regenfäden. „Dann wird halt vorgespielt. Normalerweise gibt s vorab das Drehbuch und die Texte der Szenen, die du lernen sollst. Hier hätt ich gedacht, dass du dich nur vorstellen musst. Keine Ahnung, was kommt.“

„Hmm.“ Schlange nickt nachdenklich.

„Mach dir keinen Kopf. Alle Caster sind immer extrem freundlich. Das ist der Job. Niemand wird dich zur Sau machen. Alles läuft nach dem Prinzip: Don’t call us, we call you.“

Die freundlichsten Caster von allen rufen nicht einmal an, um abzusagen.

Das einzige Mal, dass die beiden gemeinsam vor der Kamera standen, war 2007. In der Jury eines vierstündigen Kurzfilmspecials, live im Offenen Kanal Dortmund. Joswig als arrivierter Schauspieler (Tatort, Das weiße Rauschen, 23 – Nichts ist so, wie es scheint, St. Angela, Alles was zählt), Schlange als damaliger BILD-Reporter und selbsternannter Wellness-Experte. Wellness-Experte? Zum Glück hielt sich die Einschaltquote in Grenzen. Schlange war dem Druck der Show nicht gewachsen und leerte während der Live-Sendung eine Flasche Scotch. Anstößige Pöbeleien waren die Folge: „Lass uns seine rechte Hand brechen.“ (Schlange zu Thilo Gosejohann)

Schlange beobachtet die sich kräuselnden Pfützen auf dem Parkplatz und atmet durch. Ruhig bleiben. Trinken ist heute keine Lösung und der Whiskey an der Hotelbar eh zu teuer.


SZENENWECHSEL: Anmeldung Casting, erster Stock Hotel Bredeney

Erzählerstimme aus dem Off (Idealbesetzung Christian Brückner, Synchronsprecher von Robert De Niro): Sollen Dir die Massen zu Füßen liegen, musst Du etwas wagen. Jede Casting-Show kann Dir die Tür öffnen. Was soll schon passieren? Selbst der Depp der Nation bekommt seine 15 Minuten warholschen Ruhm. Psychosen inklusive. Das Prinzip ist einfach. Willst Du das Publikum packen, finde den kleinsten gemeinsamen Nenner. In allen Menschen herrschen Triebe und Instinkte. Menschen verlangen nach Blut – egal in welchem Jahrhundert. Werde ihr Star, ein Gladiator mit Ed Hardy-Hemd. Beweise Deine Eier und steige in die Arena.


Die Treppe zur ersten Etage fühlt sich lang an. Jeder Schritt kostet Kraft. Gefühlte tausend Stufen bis zum Olymp der Götter. Blauer Teppich von goldenen Messingleisten gehalten. Die ersten Teilnehmer sitzen bereits auf den unteren Stufen an das Geländer gelehnt, gelbe Zettel mit Nummern an die Brust geheftet und lesen mit stummen Lippen Texte von weißen Blättern. Kleine Mädchen, die die Zwanzig noch nicht erreicht haben. Das Papier zittert vor Anspannung in ihren Händen.

Vom Casting-Bereich drängen Laute die Treppe hinab. Treiben, Geknister, Schritte und Türen. Lärm, den geschäftige und gestresste Menschen machen. Geräusper, Geschniefe, Klacken und Knarren. Alle erdenklichen Geräusche – nur keine Stimmen.

Schlange und Joswig sehen, als sie die letzten Stufen nehmen, die gesamte erste Etage als Anmeldung geschmückt. Fast vierzig Teilnehmer drängen sich um kleine Stehtische, die feierlich mit weißen Tüchern bespannt wurden, und versuchen filmpool-Praktikantinnen ihre Anmeldebögen in die Hand zu drücken. Andere stehen an den Wänden, sitzen in einer kleinen Sofaecke, füllen Bögen aus, lernen still Texte, sortieren ihre Bewerbungsfotos oder laufen durch den Raum. Die Szene wirkt, als hätte jemand versucht dem Sommerschlussverkauf bei Karstadt den Flair von Cannes zu verleihen.

Den Großteil der Bewerber stellen Mädchen zwischen 16 und 20 mit deutscher oder slawischer Herkunft, dann ein paar MILFs (Abk.: Moms I’d like to fuck) mit oder ohne Ehemänner und vereinzelte Frauen jenseits der Sechzig – alle ohne Gatten. Grüppchen von stylischen Burschen mit Migrationshintergrund in den Ecken, daneben Informatik-Studenten, Casting-Freaks a la DSDS – die Quoten-Garanten für den Vorentscheid. Dann noch kernige Handwerker und Typen in Designeranzügen, Zahnärzte und Steuerprüfer. Die Anklagebank, der gesamte Zeugenstand einer Gerichtsshow plus Publikum in einen Raum gezwängt. Das Klischee von der mediengeilen Unterschicht trifft es nicht. Jeder, der seinem Narzissmus unreflektiert erliegt, wird hier mit offenen Armen empfangen. Vor dem Gesetz sind alle gleich.

Joswig geht zur Toilette. Die Tür des Damenklos gleicht der Schwingtür eines überfüllten Goldgräbersaloons. Ein Teenie wechselt den nächsten ab und kommt mit einer neuen Schicht Make Up und Lidschatten zurück. Es ist nicht alles Gold, was glänzt.

Neben einer dicken 20-Jährigen schafft es Schlange auf die Couch und zieht seinen ausgedruckten Bewerbungsbogen aus der Tasche, der von filmpool gemailt wurde. Seine Bewerbungsfotos (zwei Profilbilder, eine Ganzkörperaufnahme) als Unterlage fängt er an auszufüllen: Name, Adresse, Telefon, E-Mail. Mit starrem, verbissenem Blick liest die Grazie neben ihm ihre Rollenanweisungen. Das Blatt wirft Falten zwischen den verkrampften Fingern. Ihr riesiger Brustkorb hebt und senkt sich hektisch. Puls 180. Gewicht ebenso. Anscheinend entscheidet das Casting über Leben und Tod.

Schlange füllt weiter aus: Nationalität, Familienstand, Kinder. Haarfarbe, Körper-, Schuh- und Kleidergröße. Die Tür des Männerklos öffnet sich und Joswig kommt zur Sofaecke. Er schaut einem Typen Mitte vierzig über die Schultern, der gerade seine Unterlagen sortiert. In dem freien Kästchen für Beruf auf seinem Zettel steht Bauarbeiter. Die Bewerbungsbilder zeigen ihn in einem mit bunten Tüchern abgehängten Fotostudio, oben ohne, unter dem Arm einen Motorradhelm geklemmt. Möchtegern-Schauspieler, die von Möchtegern-Fotografen für ein Möchtegern-Casting abgelichtet werden. Klar, alle möchten gern.

filmstreifen_vari_gelb3Joswig nimmt Schlanges Tasche von einem Sessel, setzt sich und macht Notizen in sein kleines Büchlein. Das Mädel auf der Couch schreckt auf. Sie beugt sich nach vorn und flüstert.

„Wie, müssen wir hier auch irgendetwas aufschreiben?“

Joswig nuschelt zurück: „Nö, nö, … das mach ich nur so für mich.“

„Oh, gut.“ Die Grazie lässt sich erleichtert in die Couch zurückfallen, und Schlange rutscht mit seinem Stift über die halbe Seite.

Er füllt weitere Kästchen: Piercings Wo? Tatoos Wo? Narben Wo? Führerschein Welche? Nie war es so einfach ins Fernsehen zu kommen. Im Anmelderaum tummeln sich die Gesichter einer Einkaufsstraße. Menschen jeder Sparte und Herkunft. Träume beschränken sich nicht nur auf das gern verpönte Prekariat. Die Verzweiflung und Selbstüberschätzung, sich solchen Formaten auszuliefern, sind nicht an den IQ gekoppelt. Jeder hat das Recht auf Ruhm. Phobiker der Bedeutungslosigkeit gibt es in allen Kasten.

Erste Fernseherfahrungen? Schlange: besagtes Kurzfilmspecial im Offenen Kanal, ohne Angabe von Details. Joswig zieht noch einige Folgen „Verbotene Liebe“ aus seinem Lebenslauf-Zylinder. Grandios. Besondere Merkmale und Talente? Joswig: Dialekt Ruhrpott. Schlange: Schnäuzer.

Als Schlange später einer blondinen Praktikantin an einem der Stehtische seinen Bogen in die Hand drückt, hakt sie beim Job nach.

„Oh, Student. Was studierst du denn?“

„Psycho.“

„Oh, cool.“

Die kleine Blondine trägt in dem freien Kästchen in Schlanges Anmeldebogen unter der Kategorie Beruf: „Psycho“ ein und drückt ihm zwei zusammengeheftete Zettel mit seinem Text in die Hand. Alles klar, Beruf Psycho.

„Du bist dann die Rolle „Bruder“. Ich hoffe, du kannst damit leben.“

„Hmm.“

„Super, dann warte hinten im Konferenzraum. Wir rufen dich da nachher auf.“

„Hab ich noch Zeit zu rauchen?“

„Sicher, kein Problem.“

Joswig bekommt die Rolle des Vaters. Spitze.

Er geht mit Schlange die Treppe runter, um vor dem Eingang zu rauchen und seine Rolle zu lernen.


Die Rolle

Vorgeschichte: Joswig lebt mit seiner Tochter Ramona (14) zusammen. Vor drei Jahren haben die beiden Ehefrau und Mutter bei einem tragischen Unfall verloren. Der Schmerz ist fast überwunden, alles scheint gut, wären da nicht die Nachbarn, Familie Breuer. Besonders Herr Breuer, ein geiler alter Sack, stellt der kleinen Ramona nach. Es kommt immer wieder zu lautstarken Auseinandersetzungen und Beschimpfungen („Flittchen!“, „So eine Lolita!“).

Am Tag der Tat beschließen Vater und Tochter die Wohnung zu renovieren und von den alten Möbeln zu befreien, um endlich mit der traumatischen Geschichte abschließen zu können. Joswig schickt Ramona in den Gartenschuppen, um Pinsel und Farben zu holen. Plötzlich hört er Schreie. Er rennt zur Laube, findet Herrn Breuer mit heruntergelassener Hose über Ramona – Blut läuft ihr aus Mund und Nase – und erschlägt ihn kurzerhand mit einem Spaten. Die Leiche, die er im Komposthaufen der Breuers versteckt, findet zwei Tage später ihr Dackel. Die Ermittlungen der Polizei beginnen.

(Schlange annähernd gleiche Geschichte: Ramona ist die kleine Schwester, beide Eltern sind tragisch ums Leben gekommen, Nachbarschaftsterror, Renovieraktion und Spatenmord)

Die Szene (grobe Dialoge vorgegeben): Vorladung bei der Polizei, cool und gelassen dem Kommissar das Verhältnis zu den Breuers schildern, Alibi für den Tatabend: fernsehgucken, bei Nachfrage erstmals laut werden, weil man sich angegriffen fühlt, plötzlich redet Frau Breuer dazwischen, die zufällig bei der Vernehmung anwesend ist, pöbelt rum, ebenfalls laut werden, zurückpöbeln, dann Foto von Ramona zeigen, die seit der Vergewaltigung traumatisiert im Krankenhaus liegt, Zusammenbruch und Geständnis (im Idealfall unter Tränen).


Als Schlange und Joswig wieder die Casting-Etage des Bredeney-Hotels betreten, ist von dem hektischen Treiben nichts mehr zu sehen. Der Anmeldebereich leergefegt, ein verlassener Saloon, Tumbleweed rollt vor der Schwingtür des Damenklos. Das ganze Casting-Volk sitzt an zusammengeschobenen Tischen im Konferenzraum. Die beiden gehen an ihnen vorbei und setzen sich in die hintere Ecke.

Es ist die Stimmung vor dem Highnoon, das Duell zwischen Hoffnung und Castingagent. Totenstille. Joswig blickt in die gesenkten Gesichter. Verzweiflung und Anspannung stehen in jedes geschrieben. Bei Film- und Fernseh-Castings, wenn echte Schauspieler ihre Rolle bereits gelernt haben, mündet dieser Druck in Übersprungshandlungen, in wilder Status-Buhlerei. Mein Haus, mein Auto, meine Setcard. Hier ist es anders. Die Verzweiflung lässt sich säuerlich in der Luft schmecken. Schweigen. Für diese Menschen geht es um ihre einzige Tür zum Glück. Schlange schweift ab und denkt an Whisky.

Um kurz nach drei erscheinen zwei Casting-Assistentinnen, dieses Mal brünett, und rufen die ersten Gruppen auf, jeweils acht Namen. Schlange und Joswig haben Glück, sie landen in derselben Gruppe und gehen gemeinsam mit sechs Frauen zu ihrem Casting. Hähne im Korb. Die Stunde der Entscheidung steht bevor.


SZENENWECHSEL: Der Keller des Hotels Bredeney, Raum III

Erzählerstimme aus dem Off (konspirativ-verführerischer Tonfall): Kaufe ein Los zum Glück. Trau Dich. Hoffnung ist der Motor unserer Gesellschaft. Halte dem Esel eine Möhre vor, und er wird Deinen Karren den Berg hochziehen. Es war schon immer so. Die katholische Kirche verspricht Dir seit Jahrtausenden das Paradies nach einem Leben als Sünder. Es geht auch einfacher. Ich gebe Dir einen Traum für Dein Dasein ohne Perspektiven. Zucker, Baby. Casting-Shows sind das Lottospiel für die hoffnungslose Jugend. Wozu brauchst Du einen Schulabschluss, wenn Du Superstar bist? Vergiss die Realität und nimm meine Hand.


Es ist ein länglicher Raum, vier mal acht Meter. Zehn Stühle säumen rechts und links die Seitenwände, gepolstert wie im Wartezimmer. Am Ende des Zimmers steht ein Tisch mit einer Videokamera und einem Monitor, dahinter zwei weitere Stühle. Schlange und Joswig setzen sich auf die beiden hinteren Plätze neben der Tür. Die Damen füllen die Sitze bis zum Tisch.

Die brünette Casting-Assistentin setzt sich hinter den Monitor, als ein langer, hagerer Kerl den Raum betritt und zwischen den Stuhlreihen stehen bleibt. Weißgraue Haare, fescher Borstenschnitt, Brille, schwarzes Künstlerhemd und grau-verwaschene Jeans. Er legt die Hände ineinander.

„Hi, ich bin der Rainer.“ Er grinst. „Und ich würd sagen, wir bleiben alle beim Du.“ Zustimmendes Raunen. Joswig guckt Schlange an. Das Arbeits-Du. Klar, wer hat schon Bock sich ständig neue Namen zu merken.

Rainer fährt fort. Betont locker, betont sympathisch, betont souverän. Niemand müsse hier nervös sein, jeder wolle ins Fernsehen.

Er lächelt wieder. „Eins ist aber total wichtig: Versucht nicht zu schauspielern, seid ihr selbst. Wir suchen Charaktere. Wenn normale Menschen eine Rolle spielen, wirkt es immer wie Bauerntheater.“ Rainer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten für das Business kaputtgemacht, das sieht man. Leptosomer Typ, ausgemergelt, Raucher, Furchen im Gesicht. Er geht auf und ab und spielt das Verhör kurz durch, zeigt auf die Teilnehmerinnen, stellt Fragen aus dem Skript. Die Antworten kommen wie aus der Pistole geschossen. Die Damen sind auf das Duell vorbereitet. Sie haben fern gesehen. Hier wird gespielt, was man in Gerichtsshows und Dokusoaps gesehen hat. Affektierte Gefühle. Professionelle Amateurhaftigkeit. Doppelte Zerrbilder.

Nach dem Probe-Geständnis setzt sich Rainer mit einer Arschbacke auf den Tisch.

„Und falls ihr mal irgendetwas vergessen solltet oder euch bei einer Stelle verhaspelt, haben wir dann noch diese Emotionsmarker.“ Er hält verschiedene Blätter hoch, auf denen Worte stehen: patziger, trauriger, lauter, Foto, Geständnis. Das Sicherheitsnetz für hölzerne oder zu ambitionierte Schauspieltalente. Rainer geht hinter den Tisch. Die Aufnahmen können beginnen.

Stille. Rainers Blick wandert über die acht besetzten Stühle. Die meisten Augen richten sich zu Boden. Niemand will anfangen. Acht angehende Superstars und keiner will vor die Kamera. Rainer schnauft.

Ursula, die Älteste der Casting-Gruppe, steht auf.

„Na ja, dann mach ich das mal.“ Die brünette Casting-Schnecke hinter dem Monitor drückt ihr einen Zettel mit ihrem Namen in die Hand. Ursula stellt sich 50 Zentimeter vor ein weißes Kreuz, das mit Klebeband auf den Boden gezogen ist, und fängt an zu erzählen.

„Halt, halt, halt.“ Rainer bremst ihren Enthusiasmus aus. „Ganz langsam. Erst einmal stellst du dich auf das Kreuz und hältst dein Namensschild hoch. Wenn ich dir ein Zeichen gebe, lässt du es dann zu Boden fallen. Dann drehst du dich langsam nach links und anschließend nach rechts, damit wir dich im Profil aufnehmen können. Und dann, Ursula, gehst du kurz die Liste mit Stichpunkten durch, die hier vorne am Tisch klebt. Alles klar?“

Ursula nickt. Auf dem Zettel am Tisch steht: Name, Castingnummer, Alter, Wohnort, Beruf, Hobbys.

Ursula hebt ihren Zettel hoch vor die Brust. In ihren schwarz gefärbten Haaren steckt eine kleine Spange. Sie lässt das Namensschild fallen und zeigt sich im Profil. Ursula lächelt verschmitzt. Ihren roten Lippenstift hat sie tief in die Runzeln um ihren Mund gedrückt.

Ursula ist 76, hat vor drei Jahren angefangen, sich englische Brieffreunde zu suchen, um die Sprache wieder aufzufrischen und mitmachen tut sie beim Casting, weil sie mal hinter die Kulissen schauen will. Ursula ist cool, meistert ihre Vernehmung und das Geständnis ohne große Patzer und setzt sich wieder.

Rainer beginnt in die Hände zu klatschen, die anderen stimmen mit ein. Ursula bekommt ihren ersten Applaus als Schauspielerin. Der Applaus wird zum Ritual. Jeder bekommt seinen Applaus. Niemand muss nervös sein. Klatschen um des Klatschens Willen.

Joswig atmet schwer durch. Bei normalen Castings applaudiert niemand. Man ist Profi. Wer feuert schon seinen Konkurrenten an?

Die nächsten Mutigen stellen sich auf das Kreuz – mal mehr, mal weniger nervös. Eine 22-jährige, vollschlanke Bankkauffrau, die jetzt auf Grundschullehrerin umsattelt, zwei 17-jährige Freundinnen, denen beim Stichwort Hobby nur ihr jeweiliger Schatz einfällt, und eine Krankenpflegerin Anfang Zwanzig ohne besondere Merkmale. Neben Schlange drückt sich noch eine verschüchterte Schülerin in den Stuhl – gerade 16 und damit im Mindestalter für dieses Casting. Vier von acht Teilnehmern kommen aus Wattenscheid – entweder ein Indikator für die enorme Leistungsdichte oder ein Gradmesser für die vorherrschende Verzweiflung im Ort.

Schlange hat die rechte Hand leicht geballt, sein Daumen knibbelt im Nagelbett des Mittelfingers. Mit jeder Kandidatin, die sich vor ihm auf das Kreuz stellt, wächst der Druck. Für jemanden, der den Kamerakasper nicht beruflich macht, ist es ein unangenehmer Gedanke, dass jede flüchtige Bewegung, jedes unüberlegte Wort, jede Zuckung oder Grimasse für die Ewigkeit auf Film gebannt wird.

Hier ist es nur eine popelige Videokamera, ein kackenfreundlicher Caster und sieben Mann als Publikum, die alle im selben Boot sitzen. Wie müssen sich erst die Kandidaten bei DSDS fühlen? Auf sie wartet der mediale Pranger und ein Bohlen, der für die Quote Ärsche aufreißen muss. An den Bildschirmen Millionen Fremdschäm-Fetischisten, die nach nichts Anderem geifern als Blut und zerfetzte Existenzen. Wer das riskiert, hat entweder den Bezug zur Realität komplett verloren oder echte Eier in der Buchse. Manchmal sogar beides.

Ab der dritten Vernehmung versucht Schlange dranzukommen. Als sechster steht er schließlich auf dem Kreuz.

Seine Hände zittern, als er den Zettel vor die Brust hält. Nach vorne schauen, dann zur Seite. Ein Gefühl wie bei Fahndungsfotos nach einer Festnahme. Das Prinzip ist ähnlich, nur die Kartei eine andere. Name, Castingnummer, Alter, Beruf und so weiter. Dann ein Monolog übers Lesen, Kochen, die Musik und das Pimpern. Anschließend die Vernehmungsszene. Am Anfang etwas unsicher bekommt das Rollenspiel mit der Zeit Dynamik. Schlange geht in der Rolle des fürsorglichen Bruders auf. Wären da nicht die ständigen Fäkal-Ausdrücke, ein ganz anständiger Auftritt. Schlange bekommt Applaus und setzt sich erleichtert.

Zu guter letzt: Auftritt Herr Joswig. Das Kreuz am Boden ist fast völlig mit fallengelassenen Namensschildern bedeckt. Er schiebt sie mit dem Fuß lässig zur Seite und räuspert sich. Die Fahndungsfotos werden im sicheren Stand gemeistert. Ist schließlich nicht das erste Mal. Nach vorne schauen, dann zur Seite. Anschließend die Stichwortliste abhaken. Bei Joswigs Beruf „Dekorateur“ entfleuchen den Damen kleine „Ahhs“ und „Ohhs“. Als sie verklungen sind, folgt ein Monolog über die Leidenschaft zu kochen. „Gastrosexualität ist die neue Metrosexualität.“ Nachdem Joswig noch den Satz „Und scharfe Messer sind purer Sex.“ nachlegt, liegen ihm die Frauen zu Füßen. Das Publikum ist vorbereitet, er beginnt mit seinem Rollenspiel. Souverän und gelassen. Erst reflektieren, wirken lassen, dann reagieren. „Abnehmen“ nennt man so etwas in der Schauspielschule. Joswig bekommt es sogar hin, während des Streitgespräches, einen Seitenhieb auf das schwachsinnige Skript zu liefern: „Beide Streitparteien in einem Polizeiverhör? Was für Drehbuchschreiber haben sich denn so einen Mist ausgedacht?“ Anschließend das Geständnis mit zitternden Lippen. Applaus.

Das Casting ist beendet und Rainer tritt hinter dem Tisch hervor. Sein Brustkorb füllt sich mit Luft.

„Wir werden jeden von euch in die Kartei aufnehmen.“

Was für eine Überraschung! Diese Entscheidung zeugt von echter Qualität. Wie sollte man auch die Maschinerie sonst am Laufen halten, diese Masse an Nachmittagsformaten mit Schwenkfutter beliefern, wenn man nach schauspielerischer Leistung selektieren würde? Natürlich wird alles genommen, schließlich wird auch alles im Brennofen des Trash-TVs verfeuert.

Rainer blickt in ein halbes Dutzend erleichterter Gesichter.

„Gibt es hier jemanden, der eine bestimmte Rolle nicht spielen würde?“ Keiner meldet sich. Gutes Material für die Casting-Kartei also. Frische Gesichter, die sich verbrennen lassen: formbare Massenmörder, potentielle Pädophile und willige Hartz IV-Empfänger.

Alles für den einen Fernsehauftritt. Egal, wie das Leben danach weitergeht? Joswig wurde im Supermarkt von kleinen Gören angepöbelt, als er den Junkie bei AWZ (Alles was zählt) gab. Als er als Mörder im TV zu sehen war, ergriff ein Typ vor Saturn die Flucht. Nicht Jeder liest das Kleingedruckte im Abspann. Das Programm wird unreflektiert gefressen, die Schamgrenze franst stetig aus. Fernsehhörigkeit auf beiden Seiten. Angebot und Nachfrage. Quote schlägt Qualität. Das Publikum bekommt das Fernsehen, das es verdient. Brot und Spiele des 21. Jahrhunderts.

Rainer klatscht in die Hände. „Super. Ein Redakteur wird sich dann mit euch in Verbindung setzen. Vielleicht nicht sofort, aber in jedem Fall. Bevor ihr geht, lasst euch bitte noch einmal hier an der Wand fotografieren, und ansonsten wünsch ich euch einen schönen Abend und eine gute Heimreise.“


EPILOG: Der Keller des Hotels Bredeney, das Raucherzimmer direkt neben Raum III

Erzählerstimme aus dem Off (männlich und doch zuckersüß): Im Evangelium des Johannes, Kapitel 8, Vers 7 sagt Jesus zu den Pharisäern „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Bist Du wirklich vor der Verlockung des Ruhmes gefeit? Wie würdest Du reagieren, wenn Dir jemand ein Angebot macht? Unzählige Augen auf Dich gerichtet, Bewunderer, Fans und endlich das Gefühl jemand Wichtiges zu sein. Würdest Du Dir diese Tür wirklich verschließen?


Schlange und Joswig stecken sich im benachbarten Raucherraum eine Kippe an und packen ihre Sachen. Rainer kommt rein, lässt sich in einen Sessel fallen und kramt eine Zigarettenschachtel aus der Hemdtasche. Er lächelt die beiden geschafft an.

Schlange: „Und du ziehst dir jetzt seit heute Morgen diese Klamotte hier rein?“

Rainer nickt und bläst eine Qualmwolke in den Raum. „Ja, seit zehn Uhr. Ich musste allerdings schon morgens um sieben von Köln losfahren. Gestern dasselbe.“

„Scheiß Wochenende.“ Schlange ascht ab. „Und was bist du jetzt genau – Caster oder Regisseur?“

„Ach, weder noch. Ich hab immer mal wieder Projekte mit filmpool gemacht. Zurzeit halt dieses hier.“

castingblatterAlso auch nur ein kleiner Bauer auf dem Schachbrett. Keiner der Strippenzieher in diesem Spiel. Die Legebatterien der Billigunterhaltung werden von anderen befeuert. Nur echte Arschlöcher entwickeln Konzepte, die für Quote gezielt Existenzen zerstören. Für billigste Massenware. Günstige Eier aus Käfighaltung – gleichförmig und mit Blut verschmiert. Gewinn gegen Gewissen. Nur wahrhaftige Wichser können Trottel vor die Kamera ziehen und sie ihres letzten Funken Würde berauben, anstatt sie vor sich selbst zu schützen. Die armen Schweine, die vor laufender Kamera geschlachtet werden, haben einfach keine Wahl. Aufwertung durch Abwertung – ein Verkaufsgarant. Jeder braucht einen unter sich – ob Studienrat oder Bauarbeiter.

Wer schützt die Menschen, wenn die Macht der Medien ihren Horizont überfordert? Und warum schimpft niemand auf Legehennen, weil sie in einer Batterie sitzen? Weil sie keine Wahl haben. Der Rest ist offensichtlich, Produzenten und Erzeugnisse sind einfach scheiße. Prinzip: Masse statt Klasse. Die Gesellschaft rennt mit vollen Taschen in den Untergang. In welcher Batterie hockst du? Unser Rainer hier ist kein Macher – nur eben der Rainer mit dem schwarzen Künstlerhemd. Auch nur ein Opfer seiner Hoffnung.

Rainer inhaliert, hält seine Kippe zwischen Zeige- und Mittelfinger und tippt mit ihr zu Schlange und Joswig.

„Ich fand es übrigens sehr gut, wie ihr das gemacht habt. Es ist wirklich selten, dass Männer sich so emotional in eine Rolle fallen lassenkönnen. Ihr habt ein hohes Maß an Authentizität ausgestrahlt. Ich hoffe die Redakteure werden das auch so sehen.“


Das hoffen wir auch. Schließlich geht es im Leben immer nur um Groupies, Ruhm und Reichtum.

Man sieht sich in Hollywood, Ihre Wattenscheider Schule.


ABSPANN:

Keine drei Wochen später klingelt Schlanges Handy – das erste Angebot von filmpool, vier Drehtage.

Die Redakteurin: „Wir brauchen einen gutaussehenden Typen, der auch unsympathisch sein kann.“

Schlange: „Machbar. Gage?“

Sie: „360 Euro.“

Schlange sagt ab. Bei filmpool kostet deine Seele 90 Euro am Tag, deine Seele in einer Statistenrolle etwa 40. Dann doch lieber ein Kuss für 50.000 Dollar oder eine Flasche Scotch ohne Stress.

————————————————————————————————————————-

WS Bloglist:


Werbung

Ruhrpilot – Das Navigationssystem für das Ruhrgebiet

muschelStudium: Börps…Muschelschubserin

Karneval: Pannekopp-Orden für Middelhoff…Ruhr Nachrichten

NRW: CDU auf Kuschelkurs…Ruhr Nachrichten

NRW II: FDP braucht Wende…RP Online

NRW III: FDP will mit Hartz punkten…Welt

NRW IV: Wahkampfrede für alle…Pottblog

Sekten: Keine Konto für Gelsenkirchener Maoisten…FTD

Ruhr2010: U auf Kosten der Kultur?…Der Westen

Kultur: Aus für Factory…Der Westen

Kultur II: Bier…Genussbereit

Computer: Twittern mit dem VC20…Kueperpunk

3 FÜR 7 – 3 ausgewählte Veranstaltungen der Woche

tinateubnerEs gibt erstaunlich viele Leute, die so tun, als seien sie total weltoffen und nicht auf typisch deutsche oder europäische Weise kulturell geprägt worden. Im positiven wird dann gesagt: Na klar, gerade wegen Aufklärung und Demokratie und so (die es ja nunmal irgendwie hier gibt), sei der Mensch hier ja so kritikfähig, anderen ja auch so ein bisschen überlegen und – na, klar – auch echt weltoffen. Im negativen Sinne könnte gesagt werden: Hierzulande wird sich in derartig vielen Facetten mit sich selbst beschäftigt, dass andere Kulturen erst dann erkannt werden, wenn sie sich als „das Fremde“ manifestieren. In diesem Sinne drei Mal typisch Hiesiges: „Was ist Heimat?“, Tina Teubner & Ben Süverkrüp, „TV Eye Labelfest“.

„Junge Fußballfans in Wort und Bild“ kommen bei „Was ist Heimat?“, einer Veranstaltung der Schalker Fan-Initiative in der Flora, zum Zuge. Diese moderne, Sport affine Variante einer Landschaftsjugend hat aber nun erstaunlicherweise genau nicht Hools und renitente Gelsen-Blockwarte zu Gast, sondern „jugendliche Mitglieder eines Gelsenkirchener Galatasaray-Fan-Clubs, die Band „The Herbs“ von Consol 4, Besucher des Schwul-Lesbischen Jugendzentrums „The Point“, Studierende am Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe bis hin zu jungen Menschen in der Jugendberufshilfe Stadt Gelsenkirchen“. Weil die ja noch lernen müssen, was Heimat heißt? Weil das, was die zum Thema sagen, total unverdächtig sein sollte, irgendwie rechts oder regionalistisch zu wirken? Der OB, ein paar Sportler und andere lokale (Polit-)Promis werden auch da sein und für hübsche Bilder posieren. Schade, dass niemand aus anderen Heimaten eingeladen ist.

Die spannenden, leicht durch den Kopf-Fleischwolf gedrechselten Tiefen und Untiefen tagtäglichen Beziehungsstresses sind mal wieder Thema bei Tina Teubner und Begleitung (Foto: Promo). Vielleicht endlich mal wieder ein ausverkauftes Katakomben Theater? Dort übrigens immer wieder angenehm: Die freundliche Distanz, mit der die zum Großteil Türkei stämmigen Betreiber sich all die immer wieder auf der Bühne ausgebreiteten, individuellen Zivilisationskrankheiten der Künstlerinnen und Künstler anschauen – auch wenn mal eine frischgebackene Trägerin des Deutschen Kleinkunstpreises 2010 (Sparte Chanson) anwesend ist – oder gerade dann?

Was macht Frank Popp? Er kümmert sich um sein Label TV Eye, aber nicht nur in Berlin, sondern auch regelmäßig nahezu an alter Wirkungsstätte, im Pretty Vacant nämlich. Der deutsch-britischen Freundschaft wird diesmal u.a. mit einem Gastspiel der Band The Bacchae gehuldigt, die Popkultur tendiert halt gern Richtung London, dieser ehernen Festung westlicher Lebensart und Botschafterin von Beat, Rock’n’Roll und so in alle Welt. Düsseldorf-London – eine für viele hier recht prägende Achse.

„Was ist Heimat?“ noch bis zum 23. Februar.
„Aus dem Tagebuch meines Mannes“ am Freitag um 20 Uhr.
„TV Eye Labelfest“ u.a. am Freitag ab 22 Uhr.