Ruhrbarone 1: Das Magazin am Ende der Gutenberg-Galaxis…

Fertig. Nach monatelanger Vorbereitung, viel Arbeit und viel Spaß haben wir das erste Ruhrbarone-Magazin gerade in den Druck gegeben.

Warum ein Magazin? Die Gründe sind ganz einfach: Es gibt Geschichten, die muss man auf Papier lesen. Nicht die kurzen, schnellen Meldungen, sondern die lange Stücke, wie die Texte der Wattenscheider Schule. Oder große Bildstrecken. All das gehört gedruckt. Und so etwas wollen wir lesen.

Weil kein anderer im Ruhrgebiet ein Magazin herausgibt, wie wir uns das vorstellen, haben wir es selbst gemacht. Das ist ein Wagnis. Das Ruhrgebiet ist keine Region, in der Qualität hoch geschätzt wird. Medien dürfen hier nicht viel kosten. Daran leiden Journalisten und Verleger hierzulande seit Jahrzehnten.

Wir haben es trotzdem gemacht: Ein Magazin wie ein Buch, opulent und zu einem vernünftigen Preis. Wir wollen wenigstens versuchen, einen Teil der Kosten einzuspielen. Verdienen werden wir damit sicher nichts.

Wir wollten etwas Schönes machen. Das erste Ruhrbarone-Magazin. Inhaltlich bietet es alles, was die Ruhrbarone ausmacht: Investigative Reportagen, Interviews aber auch schräge und ungewöhnliche Geschichten: zum Beispiel überraschende Hintergründe zur Linkspartei. Etwas zu Bodo Hombachs Sicht auf die Ruhrstadt. Oder die kostspielige Suche nach der Liebe des Lebens. Natürlich ist auch Jamiri dabei: er wünscht sich eine neue Facebook-Funktion.

Wir haben  Vielen  zu danken, die das Heft mit ihrer Unterstützung möglich gemacht haben: Ludger Claßen vom Klartext-Verlag etwa, der das verlegerische Risiko eingegangen ist, unser Heft zu produzieren, Denise Franke danken wir für das Design, allen Autoren und Fotografen für ihre Texte und Bilder – und Euch als Lesern dafür, dass Ihr uns in den vergangenen Jahren begleitet, kritisiert und angefeuert habt.

Als Dank für alle, machen wir am kommenden Mittwoch ab 20:00 Uhr eine Release-Party im Bochumer Freibad, in der Nähe des Schauspielhauses. Jeder ist willkommen. 🙂

Das Heft erscheint am kommenden Donnerstag und kann im ausgewählten Zeitschriftenhandel gekauft werden. 120 fast werbefreie Seiten kosten 8,95 Euro.

Hier gibt es einen Link zur Online-Bestellung beim Klartext-Verlag. der Link zum Amazon-Shop folgt, sobald wir ihn haben.

Stefan Laurin   David Schraven

NRW 2010: Die verlogene Wahl

In einem Monat wählt NRW. Es ist die wichtigste Wahl des Jahres und sie wird Auswirkungen auf die Bundespolitik haben. Doch um die Beantwortung der wirklich wichtigen Fragen  drücken sich die Parteien.

Es ist ein Wahlkampf wie jeder andere. Die Versprechen und Parolen der Parteien sind austauschbar und seit Jahren die gleichen. Auch die politischen Konstellationen die antreten erinnern an die 80er und 90er Jahre. Schwarz-Gelb gegen Rot-Grün. Alles wie immer. Und das ist nichts anderes als der Versuch uns Wähler für dumm zu verkaufen, denn nichts ist wie immer.

Die Wirtschaftskrise hat längst die öffentlichen Haushalte erreicht. Das alle sparen wollen oder neue, natürlich viel gerechtere, Einnahmequellen erschließen wollen, reicht mir als Wähler nicht zu Orientierung. Denn das was da an Finanznot auf uns zukommt hat eine neue Dimension. Die Wahl sollte mir auch die Möglichkeit geben, zwischen ganz konkreten Sparkonzepten zu wählen. Das Rüttgersche „Alles kommt auf den Prüfstand“ ist mir zu nebolös.

Aber aus Angst vor der Wut der Wähler halten sich alle bedeckt. Auch die Bundesregierung, die vor der NRW-Wahl kaum ihre Spar- und Steuerpläne offen legen wird. Das ist ein Wahlbetrug, an dem sich alle Parteien beteiligen. OK, die Linke hat ein Zahlenwerk vorgelegt, aber das ist so fantastisch, dass es nicht verdient, ernst genommen zu werden.

Ich will wissen, ob der Bund die Autobahnen privatisieren will oder eine PKW-Maut einführen möchte. Welche Subventionen werden gekürzt? Geht es an die Sozialleistungen?

Ich will wissen, welche Stellen in der Landesverwaltung wegfallen, welche Leistungen es nicht mehr geben soll, um mich zwischen den Übeln entscheiden zu können. Denn besonders fröhlich werden die kommenden Jahre nicht. Neben den Krisenfolgen sind da ja noch die Schuldenbremse und die Pensionslasten. Es wird wirklich hart werden.

Und ich will Klarheit darüber wer mit wem koalieren will. Ich will nicht zwischen den Zeilen lesen müssen. Es ist ein albernes Theater so zu tun, als ob wir die Wahl zwischen Schwarz-Gelb oder Rot-Grün hätten. Die Linkspartei hat gute Chancen in den Landtag einzuziehen. Wird Kraft es mit dieser Chaotentruppe machen? Wollen die Grünen mit der CDU? Eine große Koalition ist nicht die unwahrscheinlichste Kombination. Niemand redet darüber.

Ich habe keine Lust auf die ewig gleichen Spielchen und einen Wahlkampf, bei dem die Parteien versuchen, mich für dumm zu verkaufen. Dafür ist die Situation  nach der schwersten Wirtschaftskrise seit den 20er Jahren zu ernst.

Werbung

Der Ruhrpilot

Internet: Briten beschließen Netzsperren…Zeit

NRW: Rechte Parteien schüren Ängste…Welt

NRW II: DGB-Chef Schneider soll neuer Arbeitsminister werden…Der Westen

NRW III: Regierungschef auf Imagesuche…Welt

NRW IV: van Dinthers Wahlkampfhelfer Lars Lubisch hat eine extrem rechte Vergangenheit…Wir in NRW

NRW VI: Vorsicht Wahlkampfmusik…Pottblog

Ruhr2010: Designkioske starten…Recklinghäuser Zeitung

Debatte: Die dritte Säule des Liberalismus…Weissgarnix

Ex-OB Drescher will Städten die Grundstücke abkaufen

Als Oberbürgermeister von Oberhausen konnte Burkhard Drescher wertvolle Erfahrungen beim Schuldenaufbau sammeln. Nun will er den Städten angeblich helfen, ihre Schulden abzubauen. Mit einem Erbpachtmodell.

Die Städte stehen vor dem finanziellen Kollaps und suchen händeringend nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten: Ob Katzen-, Kultur- oder Sex-Steuer, keine Idee ist zu absurd um nicht ernsthaft geprüft und diskutiert zu werden.

Mit einer neuen Idee will nun der ehemalige Oberhausener OB und Gagfah-Chef Burkhard Drescher den Städten zu Geld verhelfen. Er versucht im Auftrag von Continuum Capital  den Städten ihre Grundstücke abzukaufen: „Neue Wege mit einem bewährten Instrument“, heißt es in einem Rundbrief von Dreschers Consulting-Firma BDC.

„Kommunen und kommunale Gesellschaften erhalten das Angebot, ihre Grundstücke zu verkaufen, sich für 99 Jahre das Erbbaurecht zu sichern und trotzdem Eigentümer der Gebäude zu bleiben. Die so gewonnene Liquidität kann für Investitionen oder zur Überbrückung der Haushaltskrise genutzt werden. Das Instrument Erbbaurecht wird seit vielen Jahrzehnten von Kommunen und Kirchen genutzt. Continuum Capital startet gemeinsam mit BDC eine Initiative, um dieses erprobte Finanzinstrument für Kommunen nutzbar zu machen.“

Das Modell ist im Kern ein Sale Lease Back Geschäft. Für eine kurzfristige Steigerung der   Liquidität gehen die Städte eine langfristige finanzielle Belastung ein. Zudem werden gerade die Städte über diesen langen Zeitraum nicht nur im Ruhrgebiet schrumpfen. Für die Kommunen würde es Sinn machen, sich von überflüssigen Liegenschaften komplett zu trennen. Und das ohne eine Belastung durch Erbpachtzahlungen.

Ein weiteres Problem ist der Partner Continuum Capital (CC): Das Unternehmen wurde erst 2009 gegründet – nicht gerade der ideale Partner für Geschäfte die über mehrere Generationen laufen. CC sammelt seit seiner Gründung Prominente. So ist der ehemalige Eurohypo-Chef, Bernd Knobloch,  Mitgesellschafter. Ebenfalls mit  dabei: Michael Jung, ehemaliger Vorstandssprecher und Finanzvorstand von Vivacon. Einem Unternehmen mit großen Problemen.

Dreschers Auftrag scheint klar zu sein: Seine politischen Verbindungen sollen helfen die Herzen der Kommunalpolitiker zu öffnen. Mal schauen, welche klamme Stadt als erste Kommune schwach wird.

Springer & Jacoby: Die mit den rammelnden Karnickeln sind pleite

Am Dienstag hat die Hamburger Werbeagentur Springer & Jacoby Insolvenz angemeldet. Im Ruhrgebiet sorgte sie mit der RVR-Kampagne „Der Pott kocht“ für Aufsehen.

DJs in ehemaligen Zechen, die rammelnden Karnickel – mit der Springer & Jacoby Kampagne „Der Pott kocht“ ging der RVR 1998 in der Regionalwerbung neue Wege.

Die Pott-Kampagne sollte dem Ruhrgebiet ein frisches Image geben, Selbstbewusstsein zeigen und löste die legendäre Kampagne „Das Ruhrgebiet – Ein starkes Stück Deutschland“ der Düsseldorfer Agentur Butter ab. Statt „Das gibt es auch hier“ war nun das Motto „Das gibt es nur hier“. Die Kampagne sollte auch auf das Finale der Internationalen Bauausstellung 1999 hinweisen.

Im Ruhrgebiet sorgte die Arbeit von  Springer & Jacoby für Aufregung. Pott – das wollte man ja nicht mehr sein und nun wurde mit genau diesem Wort auch noch geworben. Ich fand die Pott-Kampagne damals gut. Sie war unkonventionell und provokativ. Was  niemand ahnte: Es sollte die letzte Werbekampagne für das Ruhrgebiet sein. Der KVR und sein Nachfolger, der RVR, haben sich längst aus dem Regionalmarketing verabschiedet, dass im Ruhrgebiet mit Butter-Kampagne miterfunden wurde. Man setzte auf die PR-Wirkung von Projekten wie die Kulturhauptstadt. Da man aber auch für Ruhr2010 keine Nachfolgeprojekt hat, wird das Revier ab 2011 in ein Kommunkationsloch fallen.

Werbung

Der Ruhrpilot

Kultur: 25 Jahre Intershop…Der Westen

Urlaub: Die Strände des Reviers…Spiegel

Opel: GM bittet um Subventionen…Zeit

NRW: Die letzte Hoffnung der SPD…taz

NRW II: Rot und Grün flüchten in Retro-Phantasie…Spiegel

NRW III: Linke bietet SPD Koalition an…RP Online

Fußball: BvB-Fans wollen in Mainz schweigen…Der Westen

Ruhr2010: Street-Artisten in Bochum…Ruhr Nachrichten

Medien: WAZ-Werbeblätter locken Bürgerblogger…Zoom

Debatte: Täterrhetorik….Frontmotor


Jugend Kultur Zentren – Teil 8: Zeche Carl, Essen


Diese Reihe – die letzte Folge ist hier – beschäftigt sich mit den Entwicklungen in der hiesigen Soziokultur. Diesmal geht es im Gespräch mit Kornelia Vossebein, seit einem guten halben Jahr neue Geschäftsführerin der Zeche Carl, auch, aber nicht nur, um mögliche Neubeginne und die Balance zwischen Tradition und Modernisierung.

Jens Kobler ? (auch Fotos): Zur Einführung vielleicht ein paar kurze Worte zur Geschichte der Zeche Carl aber auch die Frage, wie Du hier die Veränderungen erlebt hast: Was ist neu hier seit einem halben Jahr, was ist geblieben und wie bist du hierher gekommen?

Kornelia Vossebein !: Die Zeche ist ja relativ früh entstanden, als Altenessener Bürgerinnen und Bürger sowie die evangelische Kirche auch über Aufrufe in der Zeitung das Gebäude für sich umgenutzt und auch umgebaut haben. Carl ist insofern ein absoluter Prototyp für Orte wie Zeche Zollverein etc.: „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ gab es hier mit als erstes. 1979 wurde der betreibende Verein gegründet, und bald wurde man durch Veranstaltungen und politische und Stadtteilarbeit überregional bekannt.
Ich selbst komme ursprünglich aus Bielefeld und habe dann erst das Ende des Prozesses der Umwandlung in eine gemeinnützige GmbH im letzten Jahr mitbekommen. Zuvor gab es einen Verein mit einem geschäftsführenden Vorstand. Der Betriebskostenzuschuss von der Stadt und die Aufgabe, ein Soziokulturelles Zentrum zu betreiben, das auch niedrig schwellige Angebote und Stadtteilarbeit macht, sind geblieben.

?: Es gab ja offensichtlich auch Vorbehalte gegenüber der Geschäftsführung des Vereins, viele Verhandlungen und schließlich eine Ausschreibung, aufgrund derer du jetzt hier bist.

!: Die vollzogene Insolvenz hatte bedeutet, dass die 22 Angestellten in eine Transfergesellschaft gekommen sind. Die Stadt hat also einen irren Aufwand betrieben, um Carl zu erhalten, wozu auch gehörte, dass sich um Weiterbildung für ehemalige Mitarbeiter gekümmert wurde, während klar gemacht wurde, dass es hier weiter gehen sollte, aber mit einer anderen Betreiberstruktur, die mehr Transparenz gewährleisten und eine weitere Insolvenz für die Zukunft verhindern sollte. Die Reinigungskräfte, der Haustechniker, einige andere und viele Fremdveranstalter sind geblieben, aber die ehemalige Personaldecke allein hatte damals den Betriebskostenzuschuss schon überstiegen – das war einer der Sargnägel des Vereins. Schon in der Interimszeit wurde also geprüft, welche Struktur hier funktionieren würde, und dann gab es im April eine Ausschreibung über die Geschäftsführung. Ich kam aus dem vollen Lauf aus meiner neunjährigen Tätigkeit für den Bunker Ulmenwall in Bielefeld und wurde irgendwann angesprochen vom Leiter der LAG Soziokultur, dass sich da auf Carl etwas tut. Im Mai kam dann die Berufung, jetzt bin ich hier.

?: Kamen dann direkt die Technopartyveranstalter, die hier die Tür eingerannt haben? Oder wie gestaltete sich die erste Zeit?

!: Die sogenannte Interimsphase, also die Zeit vom Konkurs bis zum Neustart war ziemlich lang. Es gab zehn Monate lang ein leitungsloses Haus, das aber aus bestimmten Gründen nie ganz geschlossen sein sollte. Man hat also Hilfskonstrukte gefunden, damit zumindest die Kurse weiterlaufen und die Fremdveranstalter ihre Partys machen konnten. Für so ein Zentrum ist das aber natürlich ein Schock! Und auch ein ziemlich schweres Erbe, denn du hast hier die Zeit vor der Insolvenz, aus der so diese Schwingung „Hier sieht’s nicht gut aus!“ immer noch herüberschwappte und eine – sagen wir einmal – negative Presse, die sicherlich einen Imageschaden bewirkt hat. Und es gab die Interimszeit mit Leuten, die nur das Organisatorische gewährleisten sollten. Aber letztlich gab es in dieser langen Interimszeit keine handelnden Personen und keine echten Handlungsmöglichkeiten. Egal wo man da eine Schuld suchen mag, alleine dadurch haben dieser Schock und diese Verunsicherung stark nachgewirkt. Bei Partyveranstaltungen waren dann nicht mehr 1000 Leute da, sondern nur noch 500. Und selbstverständlich ist Carl in dieser Zeit auf der Karte vieler Veranstaltungsagenturen ganz einfach verschwunden. Der Neustart wiederum bedeutete also nicht, dass man im August die Türen wieder aufschließt und alles ist gut. Sondern man muss viele vertrauensbildende Maßnahmen ergreifen, neue Konzepte entwickeln, aber auch herausfiltern, was gut war an Carl vorher. Denn inhaltlich ist Carl ja bestimmt nicht gescheitert. Also gab es viele, viele Gespräche, auch Beschwerden, wo viele Emotionen kanalisiert werden mussten.

?: Das ist ja auch recht typisch, fast wie bei einem Systemwechsel, so á la „So schlimm können die vorher gar nicht gewesen sein – die waren doch immer nett zu mir“ und „Die Neue ist aber fremd!“. Sind denn auch Gruppen abgesprungen aus einer Art Solidarität mit dem Verein oder den Angestellten und haben dem Stadtteil die kalte Schulter gezeigt? Und wenn hier jetzt nicht gerade eine ganz andere Politik betrieben wird, dann müsste es sich doch hoffentlich irgendwann einmal legen mit dem Fremdeln, oder? Vielleicht eine gute Gelegenheit, jetzt mal auf das aktuelle Programm einzugehen.

!: Ich denke, wir haben viele Partner, auch politische Gruppen wieder gewonnen. Klar ist aber auch, dass Carl z.B. kein parteienspezifisches Ding sein soll. Carl soll ein Diskussionsort sein, an dem sich alle möglichen Fraktionen ansiedeln. An einem Wochenende im Herbst, als ich hier noch recht neu war, gab es eine Vermietung an die Junge Union, und am nächsten Tag waren die Linken da – und so will ich das haben.

?: Kurzer Einwurf: Nach einer Runde im FZW sagte ich noch letztens: Wie kann man sich überhaupt nur auf eine Partei verlassen, geschweige denn auf die SPD unter Langemeyer? Da dreht sich ganz schnell das Blatt, und plötzlich hat man SPD und CDU gegen sich, wenn man nicht aufpasst. Aber gut.

!: In Bezug auf andere Bereiche: Das Kursprogramm wird wieder ausgeweitet, von Selbstverteidigung für Kinder bis zu Yoga für ältere Frauen. Allgemein sind viele geblieben, und manche schnuppern jetzt wieder. Und es ist ja auch wichtig, dass Carl ein Ort ist, an dem man sich wohlfühlen kann. Ich bin eher eine, der vieles nicht schnell genug gehen kann, aber unser Wirt hier sagte letztens: „Als wir hier angefangen haben, war Carl tot.“ Und er hat recht, ich habe das immer „die Glocke der Depression“ genannt. Es muss noch viel mehr Leben kommen, das ist klar, aber ich habe den Eindruck, Carl kommt wieder. Und das muss mit den Menschen vor Ort passieren – was ein anderer Kulturbegriff als der einer Philharmonie z.B. ist, der es ziemlich egal ist, in welchem Stadtteil sie steht.

?: Ich habe so etwas letztens mal „Drive-In-Mentalität“ genannt: Hinfahren, Einparken, Konsumieren, Ausparken, Wegfahren.

!: Ja, das ist hier schon eine andere Konzeption. Natürlich kommt so etwas hier zu Highlight-Konzerten auch vor, und Carl ist ja nicht für seine Stadtteilarbeit überregional bekannt geworden. Auch diese Konzerte will man ja, aber es geht großteils eher um die Menschen, die etwas von Carl persönlich wollen, sozusagen. Aber wo wir dabei sind: Früher gab es zwei Stellen für Konzerte und eine halbe für Kabarett. Ich arbeite mehr mit Veranstaltern oder Kuratoren und buche zum Teil auch selbst. Geschäftsführung war auch in Bielefeld für mich nicht nur Buchhaltung, und das ist auch wichtig für meine persönliche Motivation. Ich mache das ja nicht, weil ich gerne vor Statistiken sitze oder Bilanzen mache. Es geht um ein Programm,…

?: ,… und um einen Charakter wohl. Von typischer „Ältere Jungs“-Warte wurde mir oft gesagt: „Die bei Carl machen nicht genug Punk und Heavy Metal. Die Leute sind jetzt alle weg. Wenn sie die nicht zurückholen, können die das gleich vergessen.“ Was natürlich eine etwas eingeschränkte, leicht machohafte und vielleicht sogar konservativ-reaktionäre Haltung sein kann.

!: Mir geht es schon darum, auch im musikalischen Bereich eine gewisse Vielfalt hier wiederzuhaben. Die ehemalige Entwicklung zum Punk-, Metal-, Gothic-Schuppen war ja historisch gesehen relativ neu. Nichts gegen diese, aber das ist nur eine Programmfarbe von vielen. Klar ist auch, dass man einen langen Atem braucht, um eine neue Stilistik einzuführen.

?: Es könnte ja womöglich ein Gewinn sein, sich neu auf Carl einzulassen, weil ja Veränderungen nicht immer schlecht sein müssen…

!: ,… und mit den Konsequenzen muss man dann leben. Wenn also Leute sagen, dass hier nur noch drei, vier Mal im Jahr was für sie ist und sie deshalb nicht mehr kommen, dann muss ich sagen: „Schade, dann habt Ihr Carl nicht verstanden.“ Andersherum ist es fast wichtiger: Diejenigen, die erst einmal merken müssen, dass hier nicht nur Punk und Heavy Metal ist. Die müssen wir gewinnen. Viele sagen auch, dass man hier jetzt wieder hingehen kann, weil es sauberer ist, die Gastronomie besser aussieht, usw. Das Team hat das Haus quasi lieb. Wir schätzen das Equipment, lassen Fremdplakatierungen halt nur bedingt zu und halten alles in Ordnung. Das ist eben nicht spießig, das ist eher modern und zukunftsträchtig. In einem Haus, das nur eine Stilistik fährt, ist es natürlich einfacher, ein Image zu bilden. Carl soll aber vielfältig sein, aufgestellt sein für Menschen von Kindern bis zu Senioren. Das Seniorencafé boomt schon wieder. Und es ist mir auch wichtig, dass sich hier Menschen ausprobieren können, von Selbsthilfegruppen bis hin zu Kreativkursen. Idealiter hätte ich gerne eine Kreativszene, die sich hier wieder neu und anders ansiedelt.

?: Klingt wie „bunt, aber nicht autonom“. Das führt ja auch zu Problemen wie z.B. einmal im Druckluft zwischen HipHop und Feministinnen und Schwulen oder zwischen Migranten und Feministinnen oder hedonistisch orientierten und Konsumverzicht übenden. Gibt es hier auch solche Reibungsflächen? Das ist ja auch eine Frage, wie viel Radikalität man zulässt.

!: Wir hatten mal Belegungen wie die Popolskis vor dem Glamourdome, und da war ich eher positiv überrascht, wie eher bürgerliches mit offensiv schwulem Publikum klargekommen ist. Und bald haben wir auch wieder drinnen ein Punkkonzert und draußen etwas eher Gutbürgerliches. Mal gucken, wie das dann funktioniert.

?: Das soll ja nun auch sicher die Funktion so eines Stadtteilzentrums sein, dass eben nicht Gettoisierung und Separatismus gefördert werden.

!: Wobei ich natürlich da schon Rücksichten nehme. Außerhalb eines sexistischen und rassistischen Bereichs muss Koexistenz aber ganz klar möglich sein, idealiter sogar Kooperation. Beim Fest am 1. Mai wird man das auch in diesem Jahr wieder sehen: Ein bunt gemischtes Publikum, diesmal aber auch mit zwei, drei Highlight-Konzerten.

?: Überhaupt war Carl ja schon immer viel mehr als die großen Säle. Wie steht es im Moment eigentlich um die Nachbarhäuser hier auf dem Gelände?

!: Das Ensemble Zeche Carl. Wie ich finde, eines der wärmsten und schönsten Zechengeländen. Natürlich ist das Casino unsere Hauptaufgabe, das ist klar. Der Malakow-Turm steht still und leer und ist baulich wieder bei der Immobilienwirtschaft. Was da umgebaut werden muss, das läuft gerade. Das Maschinenhaus war und ist an den Carl Stipendium Maschinenhaus Essen e.V. verpachtet, wo ab und an Vermietungen, Ausstellungen, Theaterstücke, Proben stattfinden. Im Badehaus sitzt nach wie vor der Offene Kanal, leider derzeit ohne Senderechte, und die Neue Essener Welle. Im ehemaligen Pförtnerhaus ist der Förderturm e.V. und macht Kinderbetreuung. Und so muss man das hier auch betrachten: Mal angenommen, in das Maschinenhaus käme ein Matratzenlager und ins Badehaus ein REWE: Das machte überhaupt keinen Sinn. Es muss sich hier inhaltlich gut ergänzen, und Synergien müssen sich ergeben.

?: Abschließend: Das Arbeiten in einem Stadtteil einer großen Stadt innerhalb einer sehr großen Städteballung ist sicher ein anderes als in Bielefeld. Welche Unterschiede sind dir da aufgefallen?

!: Ich kannte vorher schon z.B. den Bahnhof Langendreer oder auch das zakk sehr gut. Und in Essen gibt es ja ansonsten nur noch das Grend, aber dem gegenüber arbeitet Carl schon ganz anders. Man will also keine Konkurrenz sein zu anderen Zentren, sondern arbeitet eher an einem Profil, das auch eine Ergänzung zu anderen Angeboten bietet. In Bielefeld wiederum waren wir auch vernetzt mit Zentren wie dem domicil in Dortmund oder dem Stadtgarten in Köln. Außerdem ist Bielefeld übrigens auch in einer Haushaltssicherung. Generell sind die Vernetzungen hier natürlich anders als dort, aber bei knappem Geld muss man sich überall gleich rechtfertigen. Und dadurch dass ich nicht von hier bin, gehöre ich halt zu keiner Seilschaft und bin neutral. Da überwiegen dann die Vorteile, denke ich. All die Kontakte hier vor Ort herzustellen, das dauert schon seine Zeit. Aber so kann ich mir andererseits auch mein eigenes Bild machen.

?: Vielen Dank für den Einblick und weiterhin alles Gute!

www.zechecarl.de