Nach Gastautoren von Grünen, SPD und Linkspartei nun ein Text aus der CDU. Christian Hallmann (links) Stellvertretender Vorsitzender der Jungen Union Dortmund und Fabio Borggreve, Kreisgeschäftsführer der Jungen Union Dortmund über die Zukunft des Sozialstaates.
„Wir müssen den Sozialstaat nach dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit neu erfinden“. Guido Westerwelle (FDP):
Die von Westerwelle angestoßene Debatte über das Arbeitslosengeld II sog. „Hartz IV“ offenbart vor allem Eines: Deutschland muss neue Lösungen für alte Probleme finden und darf dabei keinen seiner Bürger im Stich lassen. Das gilt sowohl für die Ärmsten der Armen als auch für die Leistungsträger dieser Gesellschaft. In der Debatte haben sich offensichtlich zwei Lager gebildet: Die Einen fordern einen allumfassenden Wohlfahrtsstaat, der die Bürger unabhängig von ihrem eigenen Beitrag finanziell umsorgt und sehen sich durch das Hartz IV Urteil des Bundesverfassungsgericht bestätigt. Die Anderen fordern eine radikale Umkehr zum Prinzip der Leistungsgerechtigkeit und wollen den Missbrauch staatlicher Hilfe mit aller Härte sanktionieren. Vorschläge kommen aus allen Richtungen, doch dringen sie leider selten zum Kern des „sozialstaatlichen Dilemmas“ vor.
An dieser Stelle soll nun einmal versucht werden, einige neue Lösungsansätze zu präsentieren, ohne dabei in die bekannten klischeehaften Muster zu verfallen.
Das oberste Ziel der Vorschläge ist es, das offensichtlich aufgeblähte Sozialsystem zu entlasten. Hierfür bedarf es jedoch einer umfangreichen Betrachtung, weil viele Faktoren mit hineinspielen, die bei einem pauschalen Blick nicht gesehen werden:
Ohne eine Arbeitsmarktreform kann es keine Entlastung der Staatskasse geben.
Die Position der Industrienation Deutschland als reiner Produktionsstandort hat sich seit den 70er-Jahren dramatisch verändert. Die Produktionsstätten der Welt haben sich wegen der vielfach geringeren Lohnkosten zum größten Teil von den westlichen Industrieländern in den asiatischen Raum verlagert. Eine steigende Arbeitslosigkeit im Produktionssektor war die Folge. Hiervon hat sich Deutschland bis heute nicht erholt. Seit dem Jahre 1992 unterschritt die Arbeitslosenquote nicht mehr die 7 Prozent-Marke. Hinzu kommt, dass die Dunkelziffer aufgrund der statistischen Korrekturmöglichkeiten weitaus höher liegt. Letztendlich belasten die Kosten für das soziale Sicherungssystem den Bundeshaushalt überdurchschnittlich stark.
Die staatlichen Ausgaben können nur gesenkt werden, wenn die Arbeitslosigkeit zielgerichtet bekämpft wird. Dazu braucht es ein ausgereiftes Wachstumsmodell der klassischen Wirtschaftslehre. Nur mit einer Bildungsoffensive kann man eine Wachstumssteigerung erreichen. Bereits Abraham Lincoln sagte, dass Investitionen in Bildung den besten Zins geben. Die Investition in Bildung führt zu einem entscheidenden Effekt. Die benötigten Fachkräfte für den Arbeitsmarkt werden qualifizierter ausgebildet und steigern die Produktivität von allen Unternehmen und Dienstleistern. Am Ende steht der Wirtschaftsstandort Deutschland mit einer hohen Produktivität und einem starken Wirtschaftswachstum.
Parallel dazu ist ein Schwerpunkt der Investitionen in Forschung und Entwicklung notwendig, um einen Technologievorsprung zu erzielen. Dies bietet zusätzlichen Raum für die Entstehung neuer Arbeitsplätze und transformiert Deutschland in eine Wissensgesellschaft. Durch seine hohe Innovationskraft bleibt Deutschland als Standort weltweit konkurrenzfähig.
Unter diesen Rahmenbedingungen entsteht eine höhere Arbeitsnachfrage, die vom Arbeitsmarkt gedeckt werden muss. Die Arbeitslosigkeit sinkt und die Einzahlungen in das Sozialsystem steigen.
Die Schlussfolgerung lautet: „Wohlstand und Wirtschaftskraft durch Wachstum und Innovationen“.
Gute Bildung schafft Wohlstand für Alle.
Eine Bildungsoffensive in Deutschland setzt ein Bildungssystem voraus, das dies leisten kann. Die ideologisch motivierte Reformwut hat jedoch zu einem ineffektiven und ungerechten Schul- / Bildungssystem geführt. Das Nebeneinander von Gesamtschulen und dem dreigliedrigen Schulsystem, mit dem eine konsequente Entwertung der jeweiligen Abschlüsse einherging, hat die Hauptschule zu einem Sammelbecken für Perspektivlose gemacht. Indem man sich lange den internationalen Standards im Bereich Bildung verwehrte, provozierte man die alarmierenden Ergebnisse der Pisa-Studie.
Bei den Hauptschulen hat diese Entwicklung zusammen mit einer Verschärfung der sozialen Verhältnisse zu dramatischen Ergebnissen geführt, die allwöchentlich die Boulevardblätter zieren. Kriminalität wird oft von Betroffenen genannt, um der Arbeitslosigkeit und der Bedürftigkeit entfliehen.
Zudem könnten die Verhältnisse in den Bundesländern ungerechter nicht sein. Die südlichen Bundesländer erzielen aufgrund frühzeitig angezogener Leistungsanforderungen bessere Ergebnisse in den Vergleichsstudien.
Ähnlich desaströse Zustände zeigen sich an den deutschen Hochschulen. Eine dilettantisch umgesetzte Reform der einst wertigen und international anerkannten deutschen Abschlüsse hat zu einem Bildungschaos geführt. Die Proteste der Studenten sind berechtigt. Leider werden von den Verantwortlichen der Hochschulen nur zögerlich Konsequenzen gezogen.
Die hinterherhinkenden Bundesländer müssen die Widersprüche in ihren Schulsystemen abbauen. Die Anforderungen müssen erhöht und die Dauer der Schuljahre verkürzt werden, um dem internationalen Bildungswettbewerb stand zu halten. Gleichzeitig müssen mehr und besser ausgebildete Lehrer eingestellt werden. Außerdem muss das Konzept der vorschulischen Ausbildung im Kindergarten weiter und effektiv ausgebaut werden. Schließlich ist eine ganztägige Betreuung in der Schule zu ermöglichen, um vor allem Kindern aus sozialbenachteiligten Familien Zugang zu mehr Bildung im Anfangsstadium zu verschaffen. Kindern, die wegen ihrer Herkunft der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sind, kann durch interkulturelle Kindergärten (ausgewogener Anteil an deutschen und ausländischen Kindern in einem Kindergarten) und gezielte Sprachförderung im Kindesalter geholfen werden. Hier kann das Kölner-Modell Vorbild sein.
Die Einheitsschule stellt bei allen interessanten pädagogischen Erwägungen ein weiteres Experiment auf Kosten der Bildungssicherheit junger Menschen dar. An eine Einführung ist jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu denken, wenn nicht zuvor die Widersprüche und Probleme im bestehenden Schulsystem behoben werden.
Was die deutschen Universitäten und sonstigen Hochschulen anbelangt, muss eine weitere Straffung und Vereinheitlichung der Bachelor- und Masterabschlüsse von den jeweiligen Bundesländern eingefordert und unterstützt werden. Die Studiengebühren dürfen nicht abgeschafft werden. Stattdessen müssen finanzielle Nachteile von Studenten durch ein weitreichendes, effektives und gerechtes Stipendiensystem ersetzt werden. Wenn Bildung nicht umsonst ist, wird der Leistungsgedanke in den Mittelpunkt gestellt.
Eine geordnete Zuwanderung entlastet das Sozialsystem und erleichtert Integration.
Das Sozialsystem in Deutschland wird auch durch Zuwanderung beeinflusst. Die ideologisch überlagerte Diskussion um Deutschland als Einwanderungsland hat die Situation am Arbeitsmarkt zusätzlich verschlechtert. Anstatt ehrlich zu bekennen, dass man qualifizierte und arbeitsmarktorientierte Zuwanderung aufgrund der demographischen Entwicklung braucht, hat man nur eine ineffektive Kompromisslösung geschaffen: Das Zuwanderungsgesetz. Die damit verbundene Debatte über die sog. Einbürgerungstests hat einen unwichtigen Nebenkriegsschauplatz eröffnet, an dem sich nach wie vor die Gemüter erhitzen.
Wie eine vor wenigen Monaten veröffentlichte Studie des Bundesarbeitsministeriums zeigt, gibt es nach wie vor eine Einwanderung in das deutsche Sozialsystem. Das Familiennachzugsrecht spielt dabei eine entscheidende, von der Politik immer wieder ignorierte, Rolle. Eine echte juristisch praktikable Begrenzung wurde von der rot-grünen Regierung aus ideologischen Gründen abgelehnt. Das Ergebnis ist, dass die zweckentfremdete Nutzung des Familiennachzugsrechts in keiner Weise reduziert werden konnte. Andere EU-Länder wie Frankreich haben das Problem erkannt und mittlerweile entsprechende Begrenzungen auf den Weg gebracht. Amerika und Kanada haben einen Großteil ihrer ökonomischen Erfolgsgeschichte auf einer gezielt gesteuerten Einwanderungspolitik aufgebaut.
Das gesamte Zuwanderungsrecht muss unter dem Leitbild einer menschlich würdigen und ökonomisch sinnvollen Steuerung der Zuwanderung geregelt werden. Das sinnvolle und unkomplizierte kanadische Punktesystem bei der Einwanderung kann hierbei Vorbild sein. Hierbei werden Punkte in wichtigen Kriterien wie Alter, Bildungsstand, Sprachkenntnis u.v.m vergeben. Die Anzahl der Punkte entscheidet dann über die Zuwanderung.
Man würde damit auch den in Deutschland lebenden Migranten endlich Ruhe verschaffen, weil die von den rechten Parteien polemisierte Überfremdungsangst unbegründet würde. Es muss der Öffentlichkeit deutlich gemacht werden, dass diese Thematik von existenzieller Bedeutung für Deutschland ist.
Familienpolitik in Deutschland muss die Steigerung der Geburtenrate als oberstes Ziel definieren.
Wer Zuwanderung steuert muss auch den Nachwuchs von Arbeitskräften in seinem Land im Auge behalten. Durch die sinkende Geburtenrate und die älter werdende Bevölkerung ergibt sich ein nie zuvor dagewesener demographischer Wandel in Deutschland. Weniger Erwerbspersonen könnten das Arbeitsvolumen zukünftig nicht mehr bewältigen. Wird weniger erwirtschaftet, steht auch dem Sozialsystem weniger Einnahmen zur Verfügung. Bei einer steigenden Anzahl von älteren und bedürftigen Menschen kommt dieser Entwicklung eine hohe soziale Sprengkraft zu.
Die Familienpolitik muss Deutschland deshalb endlich wieder kinderfreundlich machen. Es ist nicht hinnehmbar, dass ein Kind in Deutschland mit Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg gleichgesetzt wird. Die Betreuungsplätze müssen massiv und öffentlichkeitswirksam ausgebaut werden. Wir müssen wechseln von einer staatlichen Zuschusspolitik hin zu einer steuerlichen Entlastungspolitik. Vor allem berufstätige Familien müssen massiv steuerlich entlastet und dadurch belohnt werden. Für Bedürftige muss es nach wie vor Zuschüsse geben. Nur so kann ein breiter Ansatz für eine Steigerung der Geburtenrate in Deutschland gesetzt werden. Auch wenn eine Mehrausgabe benötigt wird, so ist sie für Deutschlands Zukunft unverzichtbar.
Hartz IV-Missbrauch findet täglich in Deutschland statt und schadet der großen Mehrheit der redlichen Arbeitslosen.
Der nicht zu unterschätzende Missbrauch von Hartz IV-Leistungen schädigt den Staat, die Bedürftigen und die Arbeitsmoral der gesamten Nation. Der Missbrauch kann schon wegen der Überlastung der zuständigen Sachbearbeiter in den Arbeitsämtern nicht ausreichend bekämpft werden. Eine in ihrer Anzahl nicht zu unterschätzende Minderheit nimmt für sich ein Recht auf „bezahltes Nichtstun“ in Anspruch. Außerdem zeigen die Kriminalstatistiken eine erhebliche Anzahl von Straftaten, bei denen zu Unrecht Hartz IV Leistungen erschlichen wurden.
Die bereits verfügbaren Sanktionsmittel müssen endlich strikter angewandt werden. Bei Arbeitsunwilligkeit ist eine drastische Kürzung oder eine Streichung der Bezüge nur konsequent. Zusätzlich sind auch Modelle der Ersatzbeschäftigung in Betracht zu ziehen. Hier muss jedoch im Einzelfall geprüft werden, welche Tätigkeiten sinnvoll sind und die Privatwirtschaft nicht schädigen. Die Priorität hat jedoch auf dem Wiedereinstieg in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zu liegen.
Hierbei ist es vor allem notwendig eine Gesamtanalyse der Beschäftigungsperspektiven vorzunehmen, bevor Umschulungsmaßnahmen angeboten werden.
Wer den Sozialstaat retten will, muss ihn reformieren
Es zeigt sich, dass der Missbrauch von Hartz IV, wie er von Westerwelle und anderen angeprangert wird, bei weitem nicht das größte Problem unseres Sozialstaats ist. Vielmehr wird das einst fortschrittliche Modell unseres Sozialsystems durch die modernen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in seiner Existenz bedroht. Hierbei greifen die oben genannten Missstände vielfach ineinander und verschärfen das Dilemma des Sozialstaats zusätzlich. Wer den Sozialstaat wirklich retten will, sollte die Bevölkerung endlich auf die notwendige Reform des gesamten Systems vorbereiten. Erst wenn die negativen Effekte in den Bereichen Arbeitsmarkt, Bildung, Zuwanderung, Familienpolitik und Hartz IV-Missbrauch ernsthaft bekämpft werden, kann man auch wieder eine ehrliche Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland aufbauen. Der Weg zu mehr Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wird eben nicht durch Klientelbevorzugung und Steuererhöhungen geebnet. Vielmehr muss der Staat die Voraussetzungen für eine echte Chancengleichheit in allen der oben angesprochenen Bereiche schaffen. Wenn er sich den oben angesprochenen Reformen noch weitere zehn Jahre verweigert, wird der Sozialstaat – im Gegensatz zu heute – nicht mehr zu retten sein.
Christian Hallmann & Fabio Borggreve