Mehr Mitmachen in der Lokalpolitik – das Netz macht’s möglich

Lokales Wissen ist unschlagbar. Die sozialistischen Staaten sind kollabiert, weil die oben nicht wussten, was unten passierte. Es fehlte das lokale Wissen, mit dem in Demokratien Lösungen vor Ort gefunden werden. Stattdessen wurde alles in Moskau oder Berlin verplant.

Ich freue mich immer, lokales Wissen zu entdecken. In der Politik, aber auch im eigenen Geldbeutel, oder auf der Zunge. Hier kenne ich mindestens sechs Techniken, mit denen Taxifahrer Ausländer über den Tisch ziehen. Es brauchte Wochen und viele Fahrten, um die Methoden zu verstehen.

Apfelsaft schlecht geworden? Wegkippen. Hab ich gedacht, bis ich mal zeitweise in Frankfurt gelebt habe. Da wird das einfach getrunken, bembelweise.

Nur wie nutzt man dieses lokale Wissen für politische Entscheidungsprozesse? Soziale Medien im Internet könnten das auf die nächste Stufe heben. Indem mapping oder crowd surfing mit Foren kombiniert wird, zum Beispiel.

Inspiriert von ähnlichen Projekten vor allem in den USA und Großbritannien, aber auch in Afrika, hat der Kollege Kreutz in Frankfurt ein entsprechendes Projekt gestartet: frankfurt-gestalten.de. Die Protokolle der Stadtverordnetenversammlungen waren im Parlis-System der Stadt immer schon abrufbar. Öde Lokalpolitik noch öder aufbereitet.

Auf frankfurt-gestalten werden diese Protokolle automatisch eingelesen und verschlagwortet. Auf einem Stadtplan kann nun jeder sehen, was in seiner Straße von Lokalpolitikern beschlossen und beraten wurde. Anschließend kann man drüber debattieren, Vorschläge unterbreiten etc.

Wer also an der Lurgiallee immer schon mal einen Zebrastreifen haben wollte, oder ein Haltestellenhäuschen an der Hynspergstraße, ist hier richtig.

Gibt es im Ruhrgebiet ähnliche Seiten der Lokalverwaltungen? Das Projekt ließe sich schnell auf andere Städte übertragen, wenn entsprechende Dokumente der Lokalpolitik irgendwo im Internet abgelegt werden. Dann geht es nur noch darum, sie internetgerecht aufzubereiten, um mehr Transparenz zu schaffen, und mehr Menschen zu beteiligen.

Natürlich geht es bei frankfurt-gestalten.de im Zweifelsfall eher um kleinbürgerliche Nachbarschaftsstreitereien als um politische Konzepte für die Stadt etc. Aber das könnte man ausbauen. Auf Landesebene könnte man zum Beispiel grafisch darstellen, mit welchen Regionen sich ein Parlament am meisten beschäftigt, und so Trends und Vernachlässigungen feststellen.

Die liberalen Staatsdiener – ein Leben bezahlt von Bürgern

Seit Tagen wabbert eine Debatte durch Deutschland. Die Liberalen wollen den Staat klein halten. Sie wollen die „spätrömische Dekadenz“ derer bekämpfen, die von der Allgemeinheit leben. Nun: den Staat beschneiden wollen sie, aber sich auch an ihm satt essen: Die vordersten liberalen Wahlkämpfer leben seit Jahrzehnten von Staatsknete.

pinkwart_pkAndreas Pinkwart, Vize-Bundesvorsitzender und Landesvorsitzender in NRW

„Privat vor Staat“ (täglicher Wahlkampfslogan des FDP-Landeschefs) und „Eigenvorsorge muss ich wieder lohnen“ – Pinkwart ging nach seinem BWL-Studium in Münster, Promotion in Bonn als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu FDP-Bundestagsfraktion, danach Dozent an der FH Düsseldorf für öffentliche Verwaltung, BWL-Professor an der Universität Siegen, das Beamtenverhältnis ruht zurzeit

Wer über den spätrömisch-dekadenten Sozialstaat schimpft, muss noch längst kein Staatsverächter sein. Die erste Garde der nordrhein-westfälischen Wahlkämpfer lebt seit Jahrzehnten von öffentlichen Gehältern. Zum Beispiel auch der Landesvorsitzende Andreas Pinkwart, der im jetzigen Wahlkampf beinahe minütlich ein „Privat-vor-Staat“-Bekenntnis ablegt. Der Wirtschaftsprofessor hat nach seinem Abitur allerdings nie von oder mit der Privatwirtschaft gelebt. Nach seiner Promotion in Bonn war er im Bundestag angestellt, anschließend legte er eine Karriere an verschiedenen Unis hin, bis er als Professor in Siegen lebenslang verbeamtet wurde. Zurzeit ruht das Verhältnis – das lässt ihm Zeit, für geringere Staatsausgaben an Arbeitslose ans Mikro zu treten oder dafür zu plädieren, dass sich die „Eigenvorsorge wieder lohnen muss“ – für Menschen, die keine staatliche Pension erhalten wie er.

Pinkwart selbst sieht in seiner eigenen Staatsnähe keinen Widerspruch zur liberalen Ideologie. Und entdeckt über seine Biographie die Schönheit des Staates wieder. „Die FDP bekennt sich seit jeher zu einem starken Staat, der sich auf seine Kernaufgaben wie Bildung und Forschung konzentriert“, sagte mir Pinkwart vor einigen Tagen. Nur so könne ein leistungsstarker öffentlicher Dienst gewährleistet sein.

foto_clindner1Christian Lindner, Generalsekretär der Bundes- und (noch) der NRW-FDP

„Der Staat ist ein teurer Schwächling“ (6. Januar 2010) – Lindner gründete nach seinem Politikstudium ein Internetunternehmen, das nach wenigen Monaten pleite ging, seitdem finanziert er sich durch Abgeordnetengehälter, seit 2000 Landtagsabgeordneter, seit 2004 Generalsekretär der NRW-FDP, seit 2009 Bundestagsabgeordneter

Starker Staat? Beim Generalsekretär der Bundes- und nordrhein-westfälischen FDP, Christian Lindner, findet sich dieses Begriffspaar nicht. „Der Staat ist ein teurer Schwächling“ sagte er Anfang Januar in einem Interview. Zum Glück ist er aber stark genug, Lindners Bezüge zu zahlen: Der 31-Jährige ist seit knapp einem Jahrzehnt Abgeordneter. Einen kurzen Ausflug in die Internetbranche brachte ihm eine Pleite ein, seitdem ist der Lohn aus Steuergeldern sein Lebensunterhalt. Und findet das auch moralisch opportun. „Ich habe Anerkennung und Wertschätzung für Menschen, die ihre persönliche Leistungsfähigkeit in den nicht immer einfachen Dienst für unser Gemeinwesen stellen“, sagte er.

wolfgrIngo Wolf, FDP-Innenminister in NRW

„Der Staat regelt derzeit zu viel und gängelt die Bürger“ (Januar 2010) – Wolf ging nach Jura-Studium und Promotion in Köln, als Zivilrichter ans Landgericht Aachen, danach Stadtdirektor in Euskirchen, Polizeidirektor in Euskirchen, seit 2005 Innenminister in NRW

Für das Gemeinwesen arbeiten auch der NRW-Innenminister Ingo Wolf und Fraktionschef Gerhard Papke, zumindest formal. Der eine findet den Staat übermächtig, der andere möchte nur diejeniegen Arbeitsplätze erhalten, die „wettbewerbsfähig“ sind. Dem freien Wettbewerb mussten sie sich allerdings nie stellen. Wolf hat nach seinem Jurastudium eine klassische Laufbahn im öffentlichen Dienst bis zum Oberkreisdirektor absolviert, Papke verdiente sein Geld immer in der Partei oder öffentlich subventionierten parteinahen Stiftungen. Keine Fraktion im Düsseldorfer Landtag ist so staatstragend wie die liberale Gruppe.

papkeGerhard Papke, FDP-Fraktionschef im Düsseldorfer Landtag

„Das Ziel ist: Runter mit den Staatsausgaben“, „Die FDP möchte Arbeitsplätze erhalten – aber nur die wettbewerbsfähigen“ und „Notwendig ist weniger Staat und mehr unternehmerisches Handeln“ – Papke ging nach dem Wirtschaftsstudium an der Ruhr-Uni Bochum, als Referent zur staatlich geförderten „Friedrich-Naumann-Stiftung“, danach Referent für die FDP-Bundestagsfraktion, seit 2000 NRW-Landtagsabgeordneter

Alle Fotos von den jeweiligen Werbe-Internetauftritten der Politiker. Die Fotos sind entsprechend zu den Quellen verlinkt. Bitte jeweils auf die Namen klicken.

Ruhrpilot – Das Navigationssystem für das Ruhrgebiet

Ruhr2010: Loveparade gesichert…Der Westen

NRW: Rent a Rüttgers…Spiegel

Städte: Essener Signal…Recklinghäuser Zeitung

Geburtstag: Aldi-Gründer wird vielleicht 90…FAZ

Ruhr2010 II: Design-Kioske…Der Westen

JPMorgan: 2Big2Fail…Frontmotor

Digital: ZugErschwG: Warum ein Aufhebungsgesetz so wichtig ist…Netzpolitik

Ruhr2010 III: La cultura del Ruhr…Hometown Glory

SPD: Gabriel im Interview…Der Westen

SPD II: Für Kraft geht es um die Wurst…Wir in NRW

Müntefering: Comeback im Sauerland…Zoom

Ruhr2010 IV: Bochumer Programmbuch…Ruhr Nachrichten

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SPD: Supercooler Gesprächskreis Netzpolitik

spd_waehlenIm vergangenen Sommer war die SPD noch in der Regierung. Da hat sie zusammen mit der CDU die Netzsperren durchgesetzt. Nun hat sie den Oppositionsmodus eingeschaltet und installiert den Gesprächskreis Netzpolitik. Und wir dürfen uns was wünschen.

Jetzt, wo die SPD in der Opposition und die Politik billig ist, haben die Sozialdemokraten die Netzpolitik wieder entdeckt. Ein Gesprächskreis Netzpolitik soll die Partei beraten, den alten Online-Beirat ersetzen und für Credibility sorgen. Gesetzte Mitglieder: Sascha Lobo, der immer dabei ist und vor allem überall. Nico Lumma, der ein eher langweiliges Blog macht (10 Twitter-Tipps), sich aber beschwert, das Blogs langweilig sind und natürlich Brigitte „Was sind jetzt nochmal Browser?“  Zypries. Die war als Bundesministerin eine Anhängerin der Netzsperren, und ist stolze Trägerin des Big Brother Awards – verliehen für ihren Gesetzesentwurf zur Vorratsdatenspeicherung. Klar, ein paar, die schon damals mopperten, gehören auch zu dem Gesprächskreis: Thorsten Schäfer-Gümbel oder Björn Böhning.

Aber es gibt einen guten Grund, warum ich glaube dass der Gesprächskreis nicht viel mehr als eine ziemlich plumpe PR-Aktion ist und dieser Grund hat zwei Namen: Steffen Reiche und Wolfgang Wodarg. Die gehörten zusammen mit Tauss zu den drei SPD-Abgeordneten, die gegen die Netzsperren stimmten.  Reiche  und Wodarg, sind  heute nicht mehr im Bundestag – Tauss ist auch nicht mehr in der SPD. Er hat nach Kinderporno-Vorwürfen und der Zustimmung der SPD zu den Netzsperren die Partei verlassen und ist mittlerweile in der Piratenpartei.

Hätten die Sozialdemokraten Reiche oder statt Zypries in diesen Beirat gesetzt, es wäre ein Zeichen gewesen. Immerhin, der Mann hat ein Rückgrat. Haben sie aber nicht. Weil dieser Gesprächskreis nicht anderes machen soll, als der SPD dabei helfen, gut auszusehen. Und dabei sollen wir alle helfen:   Heute noch haben wir die Möglichkeit als „Community“, drei Personen vorzuschlagen, die in dem Kreis mitmachen dürfen. Damit es noch besser aussieht – so mit „wir sind ein Teil der Generation C64/Atari/VC20 oder irgendein anderer, alter, schangeliger Rechner.“ OK. Wenn man mich fragt, antworte ich: Meine Vorschläge für den SPD-Gesprächskreis lauten Wolfgang Schäuble, Ursula von der Leyen und Stephanie zu Guttenberg.

Ich habe auf vorwärts.de auch noch kommentiert, nachdem ich dort meine drei Helden vorgeschlagen hatte. Nichts wildes: Nur dass ich die  drei vorgeschlagen habe und finde, dass wenn die dabei sind, zusammen wächst was zusammen gehört. War wohl für die Genossen etwas zu viel. Der Kommentar wurde erst nicht freigeschaltet. Mittlerweile ist er es – meckern hilft ja manchmal. Ach, die Spezialdemokraten sind schon supercool im Netz unterwegs.

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ruhr2010losRuhr2010: Rubbell los mit dem Rubbelllos…Hometown Glory

NRW: CDU-Wüst sieht wenig Gemeinsamkeiten mit den Grünen…Zeit

NRW II: NPD macht auf Pro NRW…taz

Nazis: Von Dresden lernen…Bo Alternativ

Loveparade: Jetzt mit ohne Duisburger Geld…Der Westen

Online: Jugendmedienschutz-Staatsvertrag 3.0: War doch nicht so gemeint!…Netzpolitik

Steuer-CD: 572 Selbstanzeigen in NRW…RP Online

Dortmund: Stüdemann zum Kämmerer gewählt…Ruhr Nachrichten

Wirtschaft: Schlaue Füchse, die Metaller…Weissgarnix

Ruhr2010: Hans Werner Henze – Rosen und Revolutionen…xtranews

Wirtschaft II: Let the Greeks ruin themselves…Economist

Umland: Langweilige Linke…Zoom

IT: 20 Jahre Photoshop…Welt

Überraschende Wende im Uhlenberg-Untersuchungsauschuss

Gerade erst hat der Uhlenberg-Untersuchungsausschuss im NRW-Landtag die Zeugenbefragung abgeschlossen, da wollen die Parlamentarier erneut zusammenkommen und die Befragung wieder aufnehmen. Der Grund: Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat den Wuppertaler Oberstaatsanwalt Alfons Grevener dazu verurteilt, vor den Parlamentariern über das Ermittlungsverfahren gegen Harald F. auszusagen.

Im ersten Anlauf hatte Grevener die Aussage mit dem Hinweis verweigert, er könne sich eventuell selber belasten. Diese Begründung lehnte das Oberlandesgericht ab. Es verurteilte Grevener zur Zahlung eines Ordnungsgeldes wegen Mißachtung des Untersuchungsausschusses. Dumm gelaufen.

Grevener soll vor allem etwas zu der Rolle und dem Verhalten von Oberstaatsanwalt Ralf Meyer sagen, der sich mit aller Gewalt auf das Verfahren gestürzt hatte und auch gegen den Widerstand der Generalstaatsanwaltschaft Spekulationen gegen den ehemaligen Abteilungsleiter des Umweltministeriums Harald F. nachhetzte. Meyer musste schließlich angewiesen werden, die absurdesten Vorwürfe fallen zu lassen.

Die Frage ist, ob Oberstaatsanwalt Grevener das aggresive Vorgehen Meyers unterstützte. Der Süddeutschen Zeitung hatte Grevener gesagt, es müsse zu einer Anklage kommen, sonst hätte sich die Staatsanwaltschaft der Verfolgung Unschuldiger strafbar gemacht.

Jetzt muss Grevener diesen Sachverhalt erklären.

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Sierau der unglückliche Wahlsieger von Dortmund

Er ist der wohl unglücklichste Wahlsieger im ganzen Land. Ulrich Sierau war für 24 Stunden unangefochtener Oberbürgermeister von Dortmund — bis plötzlich ein Millionenloch in der Stadtkasse auftauchte, von dem er nichts gewusst haben will. In drei Monaten wird wieder gewählt.

Ullrich Sierau sitzt zwischen seinen Umzugskartons und poltert. „Ich bin der glücklichste Mensch auf Erden.“ Die Mine des weißblonden Sozialdemokraten verzieht sich ironisch. Sierau kämpft seit zwei Jahren darum, Oberbürgermeister in Dortmund zu werden. Für einige kurze Nacht war er es auch – jetzt wird in drei Monaten wieder gewählt, wieder muss Sierau in den Fußgängerzonen der Ruhrgebietsstadt frieren und gegen die selben Kandidaten der anderen Parteien antreten. Denn in Dortmund ist das politische Chaos ausgebrochen. Hier findet für Bürgerinnen und Bürger eine bundesweite Premiere statt: Die Bürgermeisterwahl muss wiederholt werden. Zahlreiche Bürger und Parteigänger haben den Urnengang vom vergangenen August angefochten. Sie werfen Sierau Wahlbetrug vor, weil er und sein Vorgänger ein riesiges Haushaltsloch verschwiegen haben sollen. „Ich wurde in eine Scheiße gerissen, aus der ich nicht mehr raus kam,“ sagt Sierau im Ruhrgebiets-Hochdeutsch. Seine hellen Augen funkeln. Der bullige Körper ist angespannt.

In Sieraus Story ist er das Opfer. Am Tag nach seinem fulminanten Sieg in der viel beschworenen Herzkammer der Sozialdemokratie musste der Stadtplaner im Radio anhören, wie sein Vorgänger Gerhard Langemeyer mit knappen Sätzen sein Grab schaufelte: Genosse Langemeyer verkündete auf einer Pressekonferenz einen Nothaushalt für die drittgrößte Stadt in Nordrhein-Westfalen. Langemeyer und die inzwischen strafversetzte Kämmerin kannten die klaffende Lücke im Haushalt, Sierau will von ihr nichts gewusst haben. „Das war ein Komplott des Wegguckens,“ sagt er heute. Der gestandene Genosse, durch alle Parteiebenen gewandert und in einer Kampfkandidatur zum OB-Kandidaten erklärt, ringt um Fassung, die Fäuste ballen sich neben der Kaffeetasse.

Aber Sieraus Story wollte im Rathaus kaum jemand glauben. Die Parteien, auch die jahrelang mit der SPD koalierenden Grünen, forderten seinen Rücktritt. Nach Wochen lenkt Sierau ein und verficht seitdem selbst eine Wahlwiederholung. Seit Mitte Januar wird Dortmund von dem dienstältesten Ratsherren, auch einem Genossen, regiert und Sierau residiert wieder in seinem alten geräumigen Büro als Planungsdezernent. Von der anderen Flurseite kann der 52-Jährige die Türme des historischen Rathauses sehen, in dem er für einen Tag als strahlender Regent und für viele Wochen als angefeindeter „Wahlschwindler“ saß.

Seitdem herrscht im Rathaus Anarchie. Feste Mehrheiten gibt es nicht mehr, für jede Sachfrage werden neue Koalitionen geschmiedet. Für eine ehemalige Industriestadt, in der die SPD seit Jahrzehnten regiert, ein Novum. Für die CDU ebenso, sie hatten jahrelang kaum eine Stimme in der Arbeiterstadt. „Das ist hier Demokratie in Vollendung“, frohlockt der Geschäftsführer der CDU-Fraktion, Manfred Jostes. Um jede Entscheidung werde parteiunabhängig gerungen. So wurden in einer großen schwarz-roten Koalition das Sozialticket, ein verbilligtes Busticket für Hartz-IV-Empfänger und Herzensprojekt der Grünen, wieder abgeschafft. Der Vertreter von Sierau wurde hingegen in einem Jamaika-Bündnis gewählt. Der erneute CDU-Kandidat Joachim Pohlmann unterlag vergangenen August deutlich. Aber diesmal wird es wohl ein knappes Rennen. Oder eher ein langsamer Zieleinlauf. Keine der Parteien hat noch die Kraft, einen langen Wahlkampf hinzulegen. „Wir sind finanziell und personell ausgepowert“, sagt Jostes.

Ihre Energien verschwenden die Parteien schon seit Monaten im täglichen Kleinkrieg. Protokolle von längst vergangenen Gesprächen werden herangezogen um zu belegen, wer etwas von dem Schuldenberg der Stadt gewusst haben könnte. Warum die Pleite überhaupt verschwiegen wurde kann aber niemand erklären. Im Ruhrgebiet ist nahezu jede Stadt bankrott, die SPD-Bürgermeister von Oberhausen und Gelsenkirchen, den beiden ärmsten Kommunen im Pott, haben glänzende Wahlergebnisse eingefahren. Und dass es Dortmund nicht viel besser gehen kann war auch jedem klar. „Mir wurde mulmig, als die Kämmerin mich dann unterrichtet hat“, sagt Sierau. Er verstehe selbst nicht, wie das Loch seiner Kenntnis entging. „Ich höre sonst hier das Gras wachsen“, sagt er und zeigt aus seinem Fenster auf die Innenstadt, als gehörte sie ihm.

Doch mit so hohen Schulden hat der kommende Rathauschef wenig Spielraum. Das dringend notwendige Sparen spielt trotzdem auch bei dieser Wahl wieder keine große Rolle. Wer buhlt schon mit einer Streichliste um die Gunst der Bürger? Dabei könnte Dortmund den gesamten Kulturetat streichen, die Stadt würde immer noch Miese machen. Und so wird über die Renovierung des maroden Hauptbahnhofes gestritten, der eigentlich schon zur Weltmeisterschaft 2006 umgebaut sein sollte oder über neue Jobs für die ehemalige Industriestadt. „Eine vernünftige Ratsarbeit ist nicht möglich“, sagt die grüne Fraktionssprecherin Ingrid Reuter genervt. „Dortmund dümpelt kopflos vor sich hin.“ Jeder suche sich täglich das aus, was ihm persönlich gerade am besten passt. Die Grünen müssen fürchten, nach Jahren an der Regierung auf die Oppositionsbank zu rücken. Jeden Tag könnten sich zwei Parteien überraschend zu einer Koalition zusammen schließen. Theoretisch würde es für Rot-Grün wieder reichen, aber die „Stimmung ist schlecht.“ Deshalb kungeln jetzt CDU und SPD immer öfter, zuletzt haben die Genossen einen Schwarzen an die Spitze der kommunalen Versorgungsbetriebe gehievt. Aber die Landtagswahl im Mai kann ohnehin wieder alles umwerfen. Sicherlich wird Düsseldorf sich dann ins Dortmunder Personenkarussel einmischen. Schließlich ist die SPD-Stadt symbolisch wichtig für beide Parteien. Und bislang ist völlig unklar, ob schwarz-gelb an Rhein und Ruhr weiterregieren kann.

Auch für Sierau ist die Wahl entscheidend. „Wenn ich nicht gewinne, bin ich politisch weg vom Fenster“, sagt er. Und fügt eilig hinzu, dass er aber natürlich gewählt würde. Die Bürger wüssten — er sei einer von ihnen. Und schließlich ginge es ihm ja hervorragend.

Die Geschichte erschien auch in der Frankfurter Rundschau

Wahlkampf: Zwei Pressemitteilungen in fünf Minuten

Ich habe gerade zwei Pressemitteilungen bekommen innerhalb von fünf Minuten. Die eine von der CDU, die andere von der SPD. Das ist nicht ungewöhnlich. Aber diese Pressemitteilungen beschreiben in meinen Augen wunderbar den Landtags-Wahlkampf, der uns bevorsteht, deswegen dokumentiere ich die mal.

Zunächst kam die Erklärung der SPD ins Büro geflattert. Hannelore Kraft begrüßt da den Tarifabschluss in der Metall- und Elektrobranche.

Der schnelle Abschluss in der nordrhein-westfälischen Metallbranche ist vorbildlich und ein gutes Signal, das auch über NRW hinaus Bedeutung hat. Beide Tarifparteien haben mit Augenmaß verhandelt und einen hoch innovativen Tarifabschluss vorgelegt. Die Sozialpartner haben damit in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise Verantwortung übernommen. Insbesondere der ‚Beschäftigungspakt zur Sicherung von Arbeitsplätzen‘ ist ein wichtiges Zeichen, das sowohl Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als auch den Unternehmen Planungssicherheit gibt.

Da steht nicht viel mehr, als erwartbares Wahlkampfgeblubber.

Die andere Mitteilung kam von Hendrik Wüst, Generalsekretär der CDU in NRW. Er schreibt:

Die Kreuze müssen hängen bleiben

Unser Land hat nicht nur eine christliche Tradition, sondern basiert auf christlichen Werten. Deswegen müssen die Kreuze in den Gerichten hängen bleiben. Wenn sich Andersgläubige gestört fühlen, muss dann halt mal der Hausmeister kommen und es abhängen. Aber grundsätzlich gilt: Wenn wir ein Staat mit christlichem Fundament sind, dann gehören Kreuze in die Gerichte.

Als hätten wir nicht andere Probleme. Auch hier Wahlkampfgeblubber. Und die Worte: christliche Tradition, christliche Werte und christliches Fundament. Begriffe, die Wüst für seine Partei besetzen will.

Spannend ist in meinen Augen die Ausrichtung der beiden Wahlkämpfer auf ihre eigene Klientel. Dieser Versuch die Katholischen katholischer zu machen. Wir werden davon sicher noch viel mehr erleben. Mich würde allerdings eher interessieren, was mit dem Land passieren soll. Als die Versuche, im eigenen Lager zu punkten.