Peter Sloterdijk im Interview – „Daniel Jonah Goldhagens Einwürfe zum Völkermord sollte man freundlich ignorieren“

sloterdijk3Ich treffe Peter Sloterdijk an einem eisigen Samstagmorgen am Dortmunder Hauptbahnhof. Während wir auf den ICE nach Berlin warten, betreten die Spieler von Hertha BSC unter lautstarken Schmähgesängen jugendlicher BVB-Fans den Bahnsteig und sehen ob dieser Erniedrigung aus wie geprügelte Hunde. Interessiert folgt der Philosoph des „Trainingsplans“ und der „menschlichen Höchstleistungen“ diesem Schauspiel. Nach einem Gespräch über den politischen Islam, Antisemitismus und Goebbels Klumpfuß steige ich in Bielefeld aus und fahre, bestückt mit den Samstagsausgaben der FAZ, SZ, WELT und BILD aus der ersten Klasse, mit der Regionalbahn zurück nach Dortmund.

Herr Sloterdijk, was halten Sie vom Vorschlag des amerikanischen Politologen Daniel Jonah Goldhagen, ein Kopfgeld in Millionenhöhe auf die Anführer von Völkermorden auszusetzen?

Goldhagen würde mit seinem moralistischen Interventionismus immensen Schaden anrichten, sollte er politisch ernst genommen werden – was Gott sei Dank nicht geschehen wird. Das Beste, was man mit solchen Einwürfen anfangen kann, ist sie freundlich zu ignorieren. Die unvermeidliche Konsequenz seines Vorschlags wäre die Entstehung einer internationalen Moralmafia, die sich die Rolle des jüngsten Gerichts auf Erden anmaßt.

Was wäre ein besser geeignetes Vorgehen, um Völkermorde zu verhindern?

Allgemein gilt, dass Völkermorde dort stattfinden, wo es zu viele junge Männer gibt, die um Positionen kämpfen und die im Stellengitter ihrer Gesellschaft keine Anschlüsse finden. Daher weichen sie in terroristische Karrieren aus. Goldhagen selbst ist von seinem Temperament her einem Offizier in einer Jungmännerbrigade zu vergleichen, der einen spektakulären Einsatzort und eine glänzende Karrierechance sucht. Im übrigen gilt: Die adäquate Antwort auf Völkermorde ist maßvolle Populationspolitik, das heißt die Zurückführung von gefährlichen Geburtenüberschüssen auf zivilisierte Maßstäbe. Es ist eine Tatsache, das Genozidphänomene in einer Kultur mit zwei Geburten und weniger pro Frau nicht auftreten. Das zeigt die Perspektive auf, die man wählen muss, um aus der Misere herauszufinden. Nach dem Rückzug der Israelis aus dem Libanon wurde ein erneuter blutiger Bürgerkrieg prognostiziert, der aber wegen der niedrigen Geburtenrate im Land nicht stattfand. Es war ganz einfach niemand da, um so einen Krieg zu führen. Bei einer Geburtenrate von unter zwei Kindern pro Frau gibt es nicht genügend junge Männer, um sich in langen Kriegen gegenseitig abzuschlachten: Jeder einzelne wird für die normale Reproduktion gebraucht – und so soll es sein. Kriege werden immer mit den Überschüssigen geführt.

Goldhagen vertritt die These, dass die gefährlichste genozidale Bewegung der Gegenwart der politische Islam sei, der eine totalitäre Vision hat, wie Gesellschaften regiert werden sollten. Zu ihr gehört die Eliminierung all jener, die diese Vision nicht akzeptieren.

Goldhagen gehört nicht zu den Autoren, die man zitieren muss, wenn es um eine Erklärung des politischen Islam geht. Es gibt eine Reihe von ausgewiesenen Orientalisten wie Gilles Kepel oder Olivier Roy, die hierüber gesagt haben, was zu sagen ist. Die hysteroiden Projekte im Islam, auf die sich Goldhagen bezieht, repräsentieren nur eine kleine Minderheit, die sich durch apokalptische Ideen verführen läßt. Im übrigen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Goldhagen schriebe vor allem für ein deutsches Publikum und spekuliere auf den Erfolg, den seine Thesen nur hierzulande haben können.

Wie Goldhagen beschäftigen auch Sie sich in Ihrem neuen Buch mit totalitären Systemen. Bei Ihrer Erklärung des Nationalsozialismus spielt der Begriff des Krüppelexistentialismus eine zentrale Rolle.

Der Existentialismus ist im wesentlichen eine Philosophie für Verlierer. Bei der Formulierung der von mir Trotzexistentialismus genannten Philosophie spielte die Selbsterfahrung des behinderten Menschen die entscheidende Rolle. Nietzsche war ein typischer Vertreter des Behindertenexistentialismus, nicht zuletzt aufgrund seiner damals unerkennbaren und unbehandelbaren chronischen Krankheit. Vor solchem Hintergrund haben sich Kompensationstheorien entwickelt, aus denen bis heute viele Menschen Kraft ziehen, wenn sie sich in einer schwierigen Lage befinden. In den 1920er Jahren stellte sich heraus, dass Trotzphilosophien dieses Typs leicht von politischen Protestbewegungen unterwandert werden können.

Der Nationalsozialismus als pervertierte Form des Existentialismus?

Ja. Der Nationalsozialismus hat seine Anhänger aus einem Feld rekrutiert, die Dostojewski die Erniedrigten und Beleidigten genannt hat, obschon die Betroffenen sich selber lieber in Bildern von Stolzen und Starken erkennen wollten. Unter eklatanter Abwandlung der trotzphilosophischen Doktrinen legte die nationalsozialistische Bewegung ihren Akzent auf Gesundheit und Vitalität – dabei waren die Behinderungen der Nazi-Führer mit Händen zu greifen. Goebbels wurde in der zeitgenössischen Literatur als exemplarischer Vertreter des „Deformationskrüppeltums“ präsentiert. Adolf Hitler wäre als psychologischer Krüppel zu charakterisieren gewesen, ein Mensch, der völlig beziehungsunfähig war und sich nur durch hysteroide Entladungen bei Reden vor großer Menge Befriedigung verschaffen konnte. Um von Göring als personifiziertem Sucht-Krüppel mit schwerer Adipositas-Komponente zu schweigen. Auf der Ebene des Führungspersonals ist leicht nachzuweisen, dass der Nationalsozialismus eine sich selbst verleugnende Behindertenbewegung war.

Sie haben sich im Rahmen Ihres Werkes intensiv mit jüdischen Denkern beschäftigt. Welche waren für Sie besonders prägend?

Um diese Frage richtig zu beantworten, müsste ich ein dickes Buch schreiben, denn meine Lektüre jüdischer Autoren und Philosophen ergibt einen Roman für sich. Ich habe im Alter von vierzehn Jahren begonnen, mir die Welt der Literatur und der Philosophie zu erschließen, darunter eine Fülle jüdischer Autoren. Ich habe ein altes und kompliziertes Verhältnis zu Adorno und ebenso lange und zerklüftete Beziehung zu Ernst Bloch. In jungen Jahren habe ich viel Husserl und Wittgenstein gelesen, ohne je daran zu denken, daß sie der Herkunft nach Juden waren. Und was sollte ich über Kafka und Hermann Broch sagen – eine Zeitlang war vor allem der letztere mein Held. Später kamen Autoren wie Emmanuel Levinas und Jacques Derrida ins Blickfeld – über letzteren habe ich in den letzten Jahren zwei kleine Bücher geschrieben.

Welchen Stellenwert hat für Sie der 1987 verstorbene Philosoph Jakob Taubes, mit dem Sie in Kontakt standen?

Auf der persönliche Ebene war er für mich von hoher Bedeutung, eine umstrittene und abgründige Person, überdies ein erbitterter Gegner von Gershom Scholem und einer der wenigen Denker, die mit existentiellem Ernst über den Preis des Messianisus und über die Rolle des Paulus in der spirituellen Weltgeschichte nachgedacht haben. Taubes war ein bekennender Apokalyptiker – er favorisierte die Idee, dass es mit dieser Welt nicht mehr lange so weitergehen kann. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Welt nach allem, was geschehen ist, noch immer ungeniert fortbesteht, erscheint einem der Glaube an die Möglichkeit eines baldigen Ende als Ausdruck eines unerschütterlichen religiösen Optimismus.

Nun ist der Antisemitismus bekanntermaßen nicht allein eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Haben Sie im Laufe Ihrer intellektuellen Karriere so etwas wie eine Theorie entwickelt, die den zeit- und kulturübergreifend existenten Judenhass zu erklären vermag?

Ich glaube, man erweist dem Wahnsystem des politischen Rassismus zu viel Ehre, wenn man seinen stupiden Grundbegriff „semitisch“ bzw. „antisemitisch“ blindlings weiterbenutzt. Um so wichtiger ist es, die anderen Formen der Feindschaft gegen Juden und Judentum unter die Lupe zu nehmen, die aus älteren Quellen stammen und sich aus diversen Gründen regeneriert haben. Mir scheint, man kommt auf diesem Gebiet voran, wenn man die Phänomene beachtet, die Yuri Slezkine in seinem Buch „Das jüdische Jahrhundert“ beschreibt. Ausgehend von der Geschichte des Milchmanns und seiner Töchter in dem Musical „Anatevka“ rekapituliert er das Epos des Judentums des 20. Jahrhunderts, das er das jüdische nennt, in einem großen Zeitgemälde, indem er zeigt, daß es Juden waren, die in entscheidenden Vorgängen des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle gespielt haben. Ob es die russische Revolution war oder die Schaffung der amerikanischen Unterhaltungsindustrie – häufig sah man jüdische intellektuelle Akteure an vorderster Front. Slezkine zeigt sehr suggestiv, wie die „merkuriale“ jüdische Existenz den modus vivendi der Bodenständigen chronisch irritierte.

Das Interview erschien auch in der Wochenzeitung “Jüdische Allgemeine”.

RWE bekommt neuen Konzern-Betriebsrat

Foto: RWE-Holding / Flickr.com

Die Arbeitnehmer beim Energiekonzern RWE stellen sich neu auf. Wie die Ruhrbarone erfahren haben, wollen die Betriebsräte der zahlreichen RWE-Tochtergesellschaften einen Konzernbetriebsrat gründen. Dieser soll in Zukunft zentral die Belange der Angestellten und Arbeiter im RWE vertreten. Das besondere daran?

Bislang gab es beim RWE nur eine so genannte Arge. Das war die Arbeitsgemeinschaft der RWE-Betriebsräte. Die Arge hatte kaum strukturierte Macht, sondern war mehr ein Ausgleichsorgan. Die wirkliche Macht der Arbeiter lag in den Betriebsräten der beiden wichtigsten Zwischenholdings. Also im Betriebsrat der RWE Energie oder bei RWE Power. Doch mit dem Umbau der RWE AG und der Auflösung der RWE Energie unter Vorstandschef Jürgen Großmann verschoben sich die Gewichte. Nun wollen die Arbeitnehmer mit einer neuen eigenen Struktur diesen Wandel nachvollziehen.

Nach Informationen der Ruhrbarone soll Uwe Tigges im April den bisherigen Chef der Arbeitnehmer beim RWE Günter Reppien ablösen und damit erster Vorsitzender des ersten RWE Gesamtbetriebsrates werden. Tigges firmiert als Gesamtbetriebsratschef der RWE Vertrieb AG, der früheren Westfalen-Weser-Ems. Reppien war bislang Chef des Gesamtbetriebsrates von RWE Power, der Kraftwerkstochter des Konzerns.

Auch Reppien soll nach seinem Ausscheiden dem RWE erhalten bleiben. Wie es heißt, soll er seinen Platz im Aufsichtsrat der RWE Holding zunächst für einige Monate behalten, bevor er in Rente geht. Kurioserweise hat die Arbeitnehmerbank mit Reppien derzeit im RWE Aufsichtsrat sogar die Mehrheit, da nach dem Rücktritt von Thomas Fischer Ende Januar ein Platz der Arbeitgeberbank vakant ist. Er wird erst auf der kommenden Hauptversammlung neu besetzt.

Für den gesamten RWE-Konzern wird die neue Struktur der Arbeitnehmervertretung keine besonders große Sache werden, nehme ich an. Es werden lediglich die Entwicklungen der letzten Jahre nachvollzogen. Spannend könnte das Ganze höchstens für RWE Power werden. Denn dieser Konzernbereich wird geschwächt, wenn die Arbeitnehmervertreter sich eher an dem Gesamtbetriebsrat orientieren. Zudem verlässt mit Reppien der führende Vertreter von RWE Power eine Schaltzentrale der Macht. Damit nicht genug: Auch die IG BCE wird mit der Gründung des Gesamtbetriebsrates weiter geschwächt. Auch momentan ist die Gewerkschaft schon im RWE längst nicht mehr so stark wie früher. Die entscheidende Rolle spielt Verdi. Wenn jetzt noch der Betriebsrates von RWE Power, in dem die IG BCE noch stark ist, zurückstecken muss, wird die Position der Bergarbeitergewerkschaft weiter marginalisiert.

Dies kann langfristig bedeutsam sein, wenn mal daran gedacht werden sollte, RWE Power wie RWE Energie aufzulösen. Schon jetzt wurden mit dem Teilkonzern RWE Technology bedeutende Teile aus der Kraftwerkstochter herausgelöst.

Vom Personal her muss sich wohl kein Arbeitnehmervertreter Sorgen bei der Besetzung des ersten Gesamtbetriebsrates beim RWE haben. Wie ich höre, wird das Gremium zunächst riesig, um alle Ansprüche auf Posten zu befriedigen. Erst nach und nach, soll der Gesamtbetriebsrat auf eine normale Größe verkleinert werden.

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Update: Der MSV Duisburg, der Bauunternehmer Hellmich und das Geld

hellmiWir haben eine Geschichte, die ist spannend für die Fans vom MSV Duisburg, von Alemannia Aachen und den FC St. Pauli. Es geht um einen Sonnenkönig vom Rhein. Es geht um den Bauunternehmer Walter Hellmich. Er baute das Stadion der Alemannia, er baut das Stadion des FC St. Pauli und er ist Präsident des MSV Duisburg.

Wir werden heute zunächst über Hellmich und den MSV berichten. Später werden wir über Hellmich und die anderen Clubs schreiben.

Zunächst also zum MSV aus Meiderich. Wie immer beim Fußball geht es um Hoffnungen, aber auch um Geld. Beides suchen die Fans der Zebras im Umfeld des 65-Jährigen Hellmich. Sie setzen darauf, dass Hellmich dem Club ein stabiles Fundament gibt, um im Oberhaus der Liga bestehen zu können. Doch damit liegen sie wohl daneben. Hellmich scheint nämlich auch ein Interesse daran zu haben, den MSV für sich zu nutzen, und nicht nur Geld für die Kicker zu spenden, wie unsere Recherchen nahe legen. Aus Unterlagen, die den Ruhrbaronen vorliegen, geht hervor, dass der MSV seinem Präsidenten Hellmich schon als Kreditgeber diente und zudem ausgerechnet die Marketingfirma des Präsi-Sohnes die lukrativen Sponsorenrechte mit einer großzügigen Provisionsregel verwalten darf.

Doch der Reihe nach: Nachdem Hellmich im Jahr 2002 zum Präsidenten gewählt wurde, sah zunächst alles glänzend aus. Ein neues Stadion wurde gebaut und prominente Trainer und Kicker verpflichtet. Unter Trainer Norbert Mayer gelang sogar der Aufstieg. Die Euphorie des Beginns verflog allerdings schnell, als der MSV sich nicht in der ersten Bundesliga halten konnte. Wieder wurde es mit dem Geld eng. Zuletzt verzichtete der Manager Björn Bremer darauf, seinen Vertrag in Meiderich zu verlängern. In dieser Situation scheint es interessant, zu sehen, wer alles von den Einnahmen des Clubs profitiert.

Und da kommt ausgerechnet die Hellmich Marketing Managment (HMM) GmbH zum Zuge. Die Firma gehört Marc Hellmich, dem Sohn des MSV-Präsidenten.

Das 1997 gegründete Unternehmen war bis 2002 vornehmlich mit der Vermarktung des Tennisclubs Blau-Weiß Dinslaken beschäftigt. 2002 kam mit dem MSV ein weiterer Kunde dazu. Und was für einer: Marc Hellmichs Unternehmen bekam alle Vermarktungsrechte am Fussballclub, und kann seither unter anderem den Haupt- und Trikotsponsor aussuchen, die Bandenwerbung vermarkten, Logen und Business-Seats vermieten und auch die Namensrechte am Stadion veräußern. Für jeden von ihr ausgehandelten Sponsorenvertrag erhält die HMM zusätzlich 20 Prozent Provision. Selbst für die Zukunft hatte man vorgesorgt: Wenn eines Tages die zentrale Vermarktung durch den DFB fallen sollte, darf Hellmichs Sohnemann auch mit den TV-Rechten des MSV handeln.

1.250.000 Euro zahlte die Firma für nahezu alle Vermarktungsrechte an den Club. Zudem gewährte die Compagnie dem MSV ein Darlehen über eine Million Euro – zurückzahlbar in Raten zu je 114.000 Euro am 1. Juli über neun Jahre lang, wie aus vertraulichen Papieren des Clubs hervorgeht.

Soweit so gut. Spannend wird es aber, wenn man sieht, wie die Firma des Hellmich-Sohnes nicht nur für ihre Arbeit entlohnt wird, sondern auch noch direkt am Erfolg des MSV beteiligt ist: zehn Prozent der Nettoeinnahmen aus der zentralen Fernsehverwertung der Fußballrechte gehen beispielsweise direkt als Provision an den Vermarkter, wenn der MSV zweitklassig spielt. Das steht in den internen Vereinsdokumenten. Damit hängt der Hellmich-Spross direkt an der wichtigsten Einnahmequellen des Clubs. Das bleibt auch so bei einem Aufstieg in die erste Liga – mit einem leicht sinkenden Prozentsatz. Sollte der MSV allerdings im Laufe der Vertragslaufzeit bis 2012 dreimal nicht aufsteigen, kann sich der Hellmich-Zögling trotzdem freuen. Laut Vertrag steigt dessen Anteil an den TV-Einnahmen dann auf üppige 15 Prozent: Eine Belohnung bei Misserfolg? Der Sinn hinter der seltsam anmutenden Vereinbarung könnte auch sein, die absoluten Provisionen für den Vermarkter selbst bei sinkenden Gesamteinnahmen stabil zu halten.

Auf die Frage, warum das so ist, wollten weder der Duisburger Zweitligisten noch die Marketing Management GmbH eine Antwort geben. Genauso wenig wollten die Manager erklären, warum der Vertrag zwischen dem Präsidenten-Sohn und dessen Fussball-Club im Jahre 2008 frühzeitig bis 2017 verlängert wurde, ohne auch nur ein neues Angebot einzuholen. Die fehlende Ausschreibung verblüfft vor allem deswegen, weil die Hellmich Marketing Management GmbH nicht zu den großen Namen im Sponsoring zählt.

Auch die Sponsorenliste des MSV-Duisburg zeugt nicht von großen Erfolgen, die eine überlange Vertragslaufzeit rechtfertigen könnten: Mit der Sparkasse, dem Duisport Logport und den Stadtwerken kommen gleich drei der neun wichtigsten Sponsoren aus dem direkten städtischen Umfeld – dazu mit dem Hauptsponsor Rheinpower die kommunale Stromfirma, deren Energieangebot schon im nahen Köln nicht mehr zur Verfügung steht. Auch die anderen Sponsoren kommen zum größten Teil aus Duisburg: Sinalco, Klöckner oder die Hellmich Gruppe selbst – keine Unterstützerliste, die nicht auch ein anderer zusammenbekommen könnte.

Ohnehin scheint das Verhältnis der Hellmichs zum MSV eher pragmatisch zu sein. Während ein Unternehmer wie Dietmar Hopp seinen Heimatverein TSG Hoffenheim mit Millionen unterstützt und auch Schalke Präsident Clemens Tönnies den finanziell angeschlagenen Blau-Weißen hin und wieder Kredite gibt, diente ausgerechnet der notorisch klamme MSV dem Bauunternehmer Hellmich mindestens einmal als Darlehensgeber. Wie aus einem Testat der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young hervorgeht, gewährte der Fußballverein der Baugesellschaft Walter Hellmich GmbH 2005 ein Kredit in Höhe von 500.138,89 Euro, dass Hellmich bis zum Jahresende nicht zurückgezahlt hatte. Nur um das klar zu machen. Hellmich hat nicht dem Verein Geld gegeben, sondern der Verein Hellmich.

Dabei könnte der MSV einen finanzstarken Präsidenten gut brauchen: denn in Duisburg droht ein Sparpaket der Kommune, die Hauptsponsoren des Vereines auszutrocknen. Könnte schon sein, dass in Zukunft das Geld aus den Stadtwerken eher in Schulen als in Spieler gesteckt wird.

In der nächsten Folge unserer Berichterstattung über Hellmichs Aktivitäten werden wir uns der wirtschaftlichen Situation des Bauunternehmens widmen und wie das so in Aachen und Pauli aussieht.

Update:

Mittlerweile hat der MSV reagiert:

MSV-Chef Walter Hellmich weist Zeitungsbericht zurück
MSV-Chef Walter Hellmich weist die Inhalte eines Zeitungsberichtes zurück, in denen über dubiose Verträge beim MSV Duisburg berichtet wird. „Ich möchte klarstellen, dass der MSV zu keinem Zeitpunkt Kreditgeber für die Baugesellschaft Walter Hellmich GmbH war. Zum Zeitpunkt des Kreditvertrages hatte mein Unternehmen eine finanzielle Forderung von über fünf Millionen Euro an den MSV, die aus dem Stadionbau resultierte. Die Hellmich Unternehmensgruppe unterstützt den MSV zudem seit vielen Jahren finanziell und hat ein Sponsoringaufkommen in Millionenhöhe,“ stellte Hellmich die Sachlage am Sonntag klar.

Zudem verweist der Aufsichtsratsvorsitzende darauf, dass der Vermarktungsvertrag zwischen dem MSV und der Hellmich Marketing GmbH in einer völlig korrekten Ausschreibung zu Stande gekommen ist. Zu diesem Zeitpunkt war Walter Hellmich noch kein Aufsichtsratsvorsitzender beim MSV. Im Bereich der Vermarktung ist die Hellmich Marketing GmbH einer der erfolgreichsten Marketingpartner in der 2. Bundesliga.

Also: …dass der MSV zu keinem Zeitpunkt Kreditgeber für die Baugesellschaft Walter Hellmich GmbH war. Zum Zeitpunkt des Kreditvertrages hatte…

Seit dem 3. Juli 2002 ist Hellmich Vorstandsvorsitzender des MSV Duisburg. Der Vertrag mit der Firma seines Sohnes ist seit dem 1. Juli 2002 gültig und wurde 2008 vorzeitig verlängert.

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Ruhr2010: Mehrheit in Duisburg gegen Loveparade- Kostenübernahme…Der Westen

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Rom-Debatte: Mit Phoebus im Bordell von Pompeji…Weissgarnix

Recht: Grenzen für den Mahnterror…Law Blog

Sport: Ende für den Rothaarsteiglauf…Zoom

Letztes Update: Dresden: Gedenken, Trauern und Demonstrieren

dresden_nazifreiZum 65. Jahrestag der Bombardierung Nazi-Dresdens ist die Situation vor Ort heute grob in dreieinhalb Lager einzuteilen: Die Junge Landsmannschaft Ostdeutschland samt Verbündeten ruft „Gegen Bombenkrieg, Terror und Vertreibung“ auf die Straße. Dagegen protestiert das Bündnis „Dresden Nazifrei“ und will diesen „Trauermarsch“ unterbinden und in Teilen auch die Aktionen der Stadt Dresden kritisieren, daher das Motto „Keine Versöhnung mit Deutschland. Gegen jeden Geschichtsrevisionismus. Deutsche Täter/innen sind keine Opfer. Naziaufmarsch verhindern“. „Erinnern und Handeln für Dresden“ heißt es von Seiten der Kommune plus Anhang, Aktionsform ist hier vor allem die beliebte Menschenkette mit Lichtern. Im Folgenden hier ständige Updates vom Tage. Außerdem der Hinweis auf den taz-Liveticker und auf den Livestream des Dresdner uhunabhängigen Radios ColoRado. Sowie den Dresden-Twitter.

04.00 Uhr: Die Busse erreichen wieder die Heimatorte. Ein kurzer Kommentar: Gegen 17 Uhr spielte sich die Situation noch ein wenig fast künstlich hoch, als die Polizei die Blockierer (s. Foto) rund um den Bahnhof Neustadt wiederholt zum Räumen aufforderte, dies aber nur peu á peu geschah. Da die Erlaubnis für den Marsch der Rechten nur bis zu genau dieser Zeit galt, aber diese Gruppe ja auch wieder irgendwie vom Bahnhof weg musste, ohne auf die Linken zu treffen, war die Polizei schwer gefragt, nun erst recht keine Übergriffe zuzulassen. Kurze Zeit später erklärten sich die Gegendemonstanten dann zu den Siegern des Tages: Der Marsch sei verhindert worden. Und wenn das Geleiten einiger rechter Gruppen durch die Polizei zum Bahnhof Neustadt, direkt neben den Gegendemonstrationen auf einer Parallelstraße, nicht als Marsch gilt, dann stimmt das wohl auch einfach. Es gab sehr wenig Gewalt, fast erstaunlich wenige Festnahmen, zum Großteil eher bunte Proteste als eine Dominanz der schwarzen Blöcke. In den Abendstunden wurde es noch einmal sehr unübersichtlich, weil viele, viele Gruppen gleichzeitig die Heimreise antraten – aber es passierte wieder nur wenig, rechts und links gingen sich eher aus dem Weg. Dass dieser Tag die Dresdner Polizei „viel Kraft gekostet hat“, wie sie sagen, das darf geglaubt werden. Es wird sicher Lob von Seiten der Stadt geben – im Grunde hatten alle Seiten sicherlich mehr Eskalation erwartet gehabt. Ein-Satz-Resümee: Eine gute Arbeitsteilung von Recht & Ordnung und linken Interventionisten in diesem Jahr, aber im Laufe des Tages auch eine sehr anstrengende Sache. Das letzte Wort hat ausnahmsweise die Tagesschau.
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23.30 Uhr: Die Polizei erklärt sich zum Tage. Die Nazis erklären ihr Scheitern.

17.00 Uhr: Die Polizei erklärt die Nazikundgebung für beendet, die Nazis hatten nur bis 17.00 Uhr eine richterliche Genehmigung.

16.00 Uhr: Laut Rechts-Propaganda beginnt nun doch noch ein „Marsch“, und zwar, wie es aus linken Kreisen heißt, in Richtung eines Industriegebietes nahe dem Bahnhof Neustadt. Da in der Nähe sind durchaus auch noch eine Menge derjenigen Linken, die nicht am Albertplatz hängengeblieben sind. Es ist auch von „Auflösungen von Blockaden“ die Rede, aber dies nur, weil es längst nicht mehr um die alten Routen geht. Nachdem die Polizei einige rechte Gruppen zunächst gen Bahnhof geleitet zu haben schien, um sie abreisen zu lassen, wird’s nun doch nichts mit dem Feierabend für die meisten Beteiligten. Wirft die Exekutive den Rechten doch noch ein größeres Stöckchen hin als die „Veranstaltung“ am Bahnhof und den „Geleitschutz“? Im Moment ist die Initiative anscheinend nach rechts gerutscht, während die Menschenkette im anderen Teil der Stadt weiter einfach ein ungesehenes Mahnmal bleibt – wenn auch eines mit äußerst hoher Beteiligung.

14.50 Uhr: Laut taz-Ticker wäre beim Sammelplatz der Nazis „durchgesagt worden, daß die Demo nicht stattfinden kann, weil die Sicherheit der Demonstranten nicht gewährleistet werden kann“. Der Nazi-Twitter dresdengedenken vermeldet ebenso: „Es wird wohl keinen Trauermarsch geben, Polizei kann nicht die Sicherheit der Teilnehmer gewährleisten“. Der Naziticker spricht von „5000+ Teilnehmern“.

14.40 Uhr:  15 000 Einheimische und Auswärtige beteiligten sich an einer Menschenkette, die gerade in Auflösung begriffen ist. Laut Sächsischer Zeitung. Dresden Nazifrei sprach außerdem vor rund zwei Stunden von rund 10 000 Blockadebeteiligten in der Dresdner Neustadt.

13.30 Uhr: Nazitwitter dresdengedenken gibt bekannt, es wäre „fast amtlich, daß der Gedenkmarsch wegen Notstands untersagt“ würde. Mit tweet von 13.10 Uhr rufen die Nazis zu „Spontanversammlungen und Aktionen“ auf. Und das sieht dann – laut Dresden-Twitter – so aus: „ca 1000 Nazis auf Hechtstr, 2000 Grossenhainer Str, ca. 1000 Nazis am Neustaedter Bhf“. Jetzt muss die Polizei eigentlich „durchziehen“.
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13.00 Uhr: War es das schon im Groben? Wahrscheinlich haben einige Autonome aus Berlin + X erfolgreich ein paar Gleise blockiert, dafür spricht schon die erbärmliche Anzahl an versprengten Rechten, die auf dem Schlesischen Platz am Bahnhof Neustadt mittlerweile nur eine „Veranstaltung“ abhalten dürfen (s. Foto).
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Dort war auch Bodo Ramelow kurz anwesend (s. Foto), kurze Zeit später durften Passanten auch endlich wieder ohne Polizeikontrolle vom Bahnhof Neustadt gen Innenstadt gehen. Am Albertplatz weiter Reden und bunter „Protest“ in Richtung Polizei (s. Foto).
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Falls nicht gerade Unmengen von Rechten auf Umwegen gen Neustadt und Innenstadt randalieren kommen, wird bald Erfolgsmeldung von links kommen können: Aufmarsch nahezu verhindert, keine direkte Gewalt gegen Menschen, große zahlenmäßige Überlegenheit.

11.31 Uhr: Bislang 7000 Gegendemonstranten in Dresden. Vier Straßenblockaden sowie zwei Gleisblockaden, weitere Buskonvois von Nazigegnern würden erwartet. Laut Zusammenfassung von Dresden Nazifrei.

11.30 Uhr: Die Linke sammelt sich zum Teil am Hinterausgang des Bahnhofs Neustadt und wird von der Polizei dort festgehalten. Nicht weit entfernt, aber für viele der angereisten Demonstranten unerreichbar, findet am Albertplatz zur Zeit eine von der Polizei tolerierte Kundgebung statt. Noch sind wenig Nazis da. Die die da sind, werden von der Polizei auf einen abgesperrten Teil des Schlesischen Platzes gelotst, der für etwa 500 Personen Platz hätte. Ein simples Bild: Im Westen des Bahnhofs einige linke Gruppen, dazwischen der von der Polizei kontrollierte Bahnhof, dann auf dessen Vorplatz zur Hälfte Rechten-Terrain, dann wieder Polizeigebiet, nach 500 m etwa dann der Albertplatz mit der linken Kundgebung (s. Foto). Dann noch einmal einige hundert Meter weiter werden ab 13 Uhr die Aktionen der Kommune stattfinden. Das ist alles sehr ökonomisch geregelt und findet sehr, sehr friedlich statt.
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11.15 Uhr: Es mehren sich die Scharmützel zwischen Gegendemonstranten und Polizei rund um den Bahnhof Neustadt: Aufforderungen, die nicht genehmigten Versammlungen aufzulösen, kaum körperliche Gewalt. Dies sind eher Nebenschauplätze. Der Bahnverkehr zwischen dort und Hauptbahnhof ist inzwischen zusammen gebrochen. Am Albertplatz redet Katja Knipping vor mittlerweile einer ganzen Menge an (offensichtlich von der Polizei bislang tolerierten) Gegendemonstranten.

10.00 Uhr:
Erstaunlich nahe an den mutmaßlichen Versammlungspunkt der Rechts-Touristen hat die Polizei die Busse der Gegendemonstrationen gelassen, nämlich auf die Westseite des Bahnhofs Neustadt. Aus den fünf ursprünglich geplanten Blockadepunkten ist mittlerweile ein einziger offizieller Treffpunkt für „Dresden Nazifrei!“ geworden, und zwar der Albertplatz, fußläufig fünf Minuten von ebenjenem Bahnhof entfernt.
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Während also auf der einen Seite des Bahnhofs allzu offenkundige Gegendemonstranten, darunter auch einiges an DGB (s. Foto), nicht weiter vordringen können und Parolen rufen, präsentiert sich am Albertplatz ein entspannteres Bild: Persönlich motivierte Kleingruppen (s. Foto), ver.di-Kleingruppen, eine etwas größere JuSo-Gemeinde und einige andere versprengt bzw. locker organisiert wirkende Gruppen lassen es nicht auf eine größere Versammlung ankommen.
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Tatsächlich macht das Polizeiaufgebot um den Bahnhof Neustadt herum (s. Foto) und in Richtung Albertplatz schon Eindruck – es gibt aber bislang kaum Anlass zu direkter Konfrontation: Keine Spur von organisierten Rechten, keinerlei Ausschreitungen von links. Dennoch bewegen sich hin und wieder hektisch Mannschaftswagen von hier nach da. Es geht so sachte auf die angekündigten Kundgebungszeiten zu.
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Eine kurze Einordnung der Inhalte: Vieles dreht sich darum, ob in Deutschland einfach so Faschistinnen und Faschisten gedacht werden darf. Die Oberbürgermeisterin der Stadt, Helma Orosz, hat den Ausdruck „nationalsozialistische Verbrecherclique“ gewählt, um die Verursacher des Bombardements zu benennen. Das geht „Dresden Nazifrei“ nicht weit genug, schließlich knüpft die Rechte genau an dem Punkt an, dass ja so viele unschuldige Opfer zu betrauern seien – wobei Dresden nun einmal eher ein Hort williger Nationalsozialist/innen war.
Insofern also eine klassische Ausgangssituation: Das Bürgertum und nahe stehende Freundinnen und Freunde der real existierenden sozialen Marktwirtschaft und Demokratie trauert, mahnt und hält sich von Rechts und Links möglichst fern. Eine Linke von Autonomen bis zu Gewerkschaft und SPD sucht die Konfrontation mit der obrigkeitsstaatlichen Interpretation des Gedenktages wie natürlich auch die mit den Rechten. Die Rechte wiederum kalkuliert mit der gemeinsamen Schnittmenge zu Staat und Bevölkerung, indem sie vor allem Opfer- und Trauerhaltung einnimmt.
Nach einigem gerichtlichen Vorgeplänkel wird – stärker als in Dortmund im letzten Jahr – mit viel Bewegung zu rechnen sein: Ausgerechnet im an Gedenkstätten reichen Neustadt-Viertel könnte es zu Zusammenstößen kommen. Zusätzliche Brisanz erhält das Wochenende durch die Tatsache, dass in Sachsen neuerdings erprobt wird, das Demonstrationsrecht für Rechts gegen Links auch dadurch durchzusetzen, dass im Vorfeld Plakate eingezogen wurden, die zu einer Blockade aufriefen (s. Foto oben). Weitere Informationen auch hier und hier.

Vielen Dank an das tolle Ruhrbüro, vor allem Stefan und Thomas, für wichtige Hinweise und Ergänzungen!

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Ruhrunis noch nicht auf doppelte Abiturjahrgänge vorbereitet

Die Universitäten im Ruhrgebiet stehen vor dem größten Ansturm von Studienanfängern, den es je gegeben hat. Wenn in drei Jahren die doppelten Abiturjahrgänge in Nordrhein-Westfalen die Schulen verlassen, wird die Zahl der Studienanfänger im Vergleich zu 2005 um fast ein Drittel steigen und erstmals die 100.000-Grenze überschreiten. In den vergangenen Jahren sind schon zusätzliche Studienplätze geschaffen worden, doch das reicht bei weitem nicht aus. In diesen Tagen beginnt das NRW-Wissenschaftsministerium mit den Universitäten darüber zu verhandeln, wie viele zusätzliche Studienplätze möglich sind. Doch ob die Universitäten dem Ansturm gewachsen sind, ist fraglich. Schon jetzt hat zum Beispiel die Mensa der TU-Dortmund ihre Kapazität überschritten und die Hörsäle der Ruhr-Uni Bochum sind laut dem dortigen Asta gerade bei den Geisteswissenschaften dauernd überfüllt.

„Ich war ja auch mal Ersti, aber was hier im Oktober los war, ist schon extrem gewesen. S-Bahn, Mensa, Cafes und die Hörsäle, alles überfüllt – total nervig“, sagt Katja Weidlich, Studentin der Erziehungswissenschaften an der TU-Dortmund. 4.000 Abiturienten haben zum Wintersemester ein Studium an der TU begonnen, 15 Prozent mehr als im Vorjahr. Mit den 8.000 Studenten der FH Dortmund, sind nun 30.000 Menschen auf dem Dortmunder Campus unterwegs. Ähnlich sieht es in Duisburg und Essen aus, wo die Zahl der Studienanfänger um gut 8 Prozent auf 5.000 anstieg. Und auch in Bochum werden es jedes Jahr mehr. In den letzten fünf Jahren hat sich dort die Zahl der Studierenden um 1.600 auf mehr als 32.000 erhöht.

Das alles ist nur ein Vorgeschmack, auf das was bis 2015 auf die Universitäten zukommt. Bis dahin werden neun Bundesländer ihr Abitur von 13 auf 12 Jahren verkürzen. Hamburg macht in diesem Jahr den Anfang, nächstes Jahr folgen Bayern und Niedersachen, 2012 dann Baden-Württemberg, Berlin, Bremen und Brandenburg, bevor 2013 Nordrhein-Westfalen und Hessen den Abschluss bilden. Die Kultusministerkonferenz rechnet bis 2015 deutschlandweit mit 275.000 zusätzlichen Studienanfängern. Um die Hochschulen darauf vorzubereiten, sollen in den nächsten zehn Jahren 18 Milliarden zusätzlich in die deutschen Hochschulen investiert werden.

Das Land NRW stellt zu seinen jährlichen Zuschüssen von drei Milliarden Euro noch mal 1,8 Milliarden Euro für die nächsten fünf Jahre bereit. Darüber wie dieser Batzen Geld verteilt werden soll, wird in diesen Tagen verhandelt. Die Hochschulen sollen verbindlich erklären, welchen Anteil sie leisten können, um gut 130.000 neue Studienplätze zu schaffen.

Beim NRW-Wissenschaftsministerium gibt man sich zuversichtlich. Sprecher André Zimmermann: „Wir werden mit den Hochschulen Zielvereinbarungen schließen, in denen wir ganz genau festhalten, wie viele zusätzliche Studienplätze jede Hochschule einrichtet. Damit haben wir schon gute Erfahrungen gemacht“. Und tatsächlich sind in den vergangenen fünf Jahren 26.000 neue Plätze an den Hochschulen in NRW entstanden. Finanziert über ein Prämiensystem. Für jeden zusätzlichen Studienanfänger gab es Geld. Wenn eine Hochschule Studenten über ihrer Kapazität aufnahm, wurde der Betrag durch eine Extraprämie sogar verdreifacht. Bis zu 20.000 Euro Prämie pro Studienanfänger wurde gezahlt. Nach dem gleichen System sollen jetzt die noch fehlenden 130.000 Studienplätze in NRW geschaffen werden. Martin Schmidt von der vom Asta der Ruhr-Uni Bochum hält von diesem System wenig: „Wir sehen das sehr kritisch und befürchten, dass sich gerade durch die Extraprämie die Studienbedingungen noch verschlechtern werden.“ Schmidt hat eh den Eindruck, dass die RUB auf die doppelten Abiturjahrgänge sehr schlecht vorbereitet ist: „Schon jetzt platzen die Gebäude aus allen Nähten, die Platzsituation ist desolat und da bringen auch neue Professorenstellen keine Verbesserung.“

Aber, ob überhaupt neue Professoren eingestellt werden, ist unklar. Drei Jahre vor dem großen Ansturm auf die Ruhrgebietsuniversitäten gibt man sich da noch recht wortkarg. Die Frage, wie viele zusätzliche Professuren geschaffen werden sollen, konnte uns nur die Universität Duisburg-Essen beantworten. Dort sollen 24 zusätzliche Professoren eingestellt werden, sagt Pressesprecherin Beate Kostka. Jetzt werde man in den Verhandlungen mit dem Wissenschaftsministerium aber in ersten Linie auf zusätzliche Hörsaal- und Seminarkapazitäten drängen.
Geld für Baumaßnahmen ist da. Acht Milliarden Euro will das Land den Hochschulen bis 2010 zur Verfügung stellen. 290 Millionen sind bei der Ruhr-Uni Bochum schon fest verplant. Dort werden als erstes Gebäude der Ingenieur- und Gesellschaftswissenschaften saniert. Doch Ministeriumssprecher Zimmermann macht auch klar, dass das die Milliarden nicht für Neubauten gedacht sind, die die zusätzlichen Studierenden Platz bieten sollen: „Es dürfen keine dauerhaften Kapazitäten aufgebaut werden, die nach 2020 nicht mehr benötigt werden. Daher geht es sowohl bei Personal als auch beim Raumbedarf um befristete Lösungen“. Konkret heißt das: Universitäten sollen Räume anmieten und schon einige Jahre bevor Professoren ausscheiden ihre Nachfolger einstellen. Denn schon nach 2013 rechnet das Ministerium wieder mit sinkenden Zahlen von Studienanfängern an den Universitäten.

Neben all diesen großen, offenen Fragen, bleiben auch noch viele praktische Probleme. Wie werden zum Beispiel die Mensen der Ruhruniversitäten den größeren Andrang bewältigen können? In Dortmund hat man sich dazu schon Gedanken gemacht aber die große Lösung nicht gefunden. Rainer Niebur, der Geschäftsführer des Studentenwerk Dortmund: „Unsere Mensa ist schon jetzt technisch am Anschlag. Wir spülen zum Beispiel 38 Tabletts pro Minute, obwohl die Maschinen nur für 30 ausgelegt sind.“ Geld für die dringende technische Aufrüstung der Mensa stellt das Land aber nicht zur Verfügung. Deshalb ist unklar, ob sich in den nächsten Jahren überhaupt etwas verbessern wird. Um nicht völlig unvorbereitet zu sein, will das Studentenwerk jetzt ein Fahrzeug anschaffen, aus dem warmes und kaltes Essen verkauft werden soll. Zu Stoßzeiten soll dieses Fahrzeug vor der Mensa stehen. Außerdem hofft Niebur auf den Anbau der Fachhochschule Dortmund. Dort soll ein Gastronomieangebot mit 190 Sitzplätzen geschaffen werden.

Auch die Verkehrsbetriebe haben sich noch nicht auf die zusätzlichen Studierenden eingestellt. Ob zum Beispiel die S1 die TU Dortmund öfter anfahren wird, konnte man mir beim Verkehrsverbund Rhein-Ruhr nicht sagen. Die Bogestra in Bochum sieht ebenfalls kaum Möglichkeiten, die U 35 öfter zur Ruhr-Uni fahren zu lassen. „Zu Stoßzeiten fahren wir schon im zweieinhalb-Minuten-Takt. Mehr geht nicht“ sagt Sprecher Christoph Kollmann.

Aber nicht nur auf dem Campus wird der Ansturm neuer Studierender für Probleme sorgen. Auch die Wohnheimplätze in Bochum, Duisburg, Essen und Dortmund dürften knapp werden. Schon jetzt müssen Studierenden oft monatelang auf ein Zimmer warten. Das Studentenwerk Dortmund hat jetzt einen Arbeitskreis gegründet, um Lösungen für dieses Problem zu finden.

Das Jahr 2013 bringt also eine Menge Herausforderungen für die Universitäten und Fachhochschulen im Ruhrgebiet mit sich. Hier ist schnelles Handeln gefragt, damit das Versprechen von Wissenschaftsminister Pinkwart auch eingehalten werden kann. Im Landtag sagte er: „Jeder Studieninteressierte wird 2013 und 2014 einen Studienplatz finden.“

Dieser Text ist auch im Studierendenmagazin pflichtlektüre erschienen

Westerwelles merkwürdiges Sozialismusbild

Wenn man den Artikel von Westerwelle in der Welt liest, wirkt die ganze Aufregung um den Text arg bemüht. Westerwelle hat nur geschrieben, was er immer sagt. Was mir aber aufgefallen ist: Westerwelle hat ein erstaunlich illusorisches Bild vom Sozialismus. Mit der Praxis der heute zumeist ehemaligen sozialistischen Staaten hat es wenig zu tun.

Allgemein hält sich die Auffassung, Sozialismus wäre vor allem für Arbeiter und Arbeitslose eine prima Sache, ziemlich hartnäckig. Das mag für die Papierform noch zutreffen, für die Praxis nicht – und wir alle wissen ja: Entscheidend ist auf´m Platz.

Außenminister Guido Westerwelle, im Nebenerwerb Chef der FDP, sieht im Sozialismus vor allem eine große Umverteilungsmaschinerie, von der vor allem diejenigen profitieren, die nicht arbeiten.  Dabei war es Lenin, der schrieb „Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen“. Ursprünglich wohl  gemünzt  auf die Klasse der Großgrundbesitzer wurde er zum Credo aller sozialistischen Staaten. Aus dem Recht auf Arbeit wurde in der Praxis die Pflicht zur Arbeit.

Mit der Umverteilung zugunsten derjenigen die, aus welchem Grund auch immer, nicht arbeiteten, hatte es keines der sozialistischen  Länder. In der DDR bestand eine Arbeitspflicht: „‚Das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit bilden eine Einheit.‘ (Verfassung der DDR) Die Arbeitspflicht wurde z.B. in Form eines ‚Dienstes für Deutschland‘ 1952/1953 als Jugendarbeitsdienst umgesetzt, oder sie konnte darin bestehen, dass Arbeitnehmer bis zu 6 Monate verpflichtet wurden, in einem anderen Betrieb am gleichen Ort zu arbeiten.“

Arbeit hatte einen hohen Wert für die sozialistischen Diktaturen: Vor allem  Gefangene in Lagern sollten angeblich durch Arbeit zu besseren, zu proletarischen Menschen werden. In Wirklichkeit ging es nur darum, möglichst billig und ohne jede Rücksicht auf menschliche Verluste, Großprojekte wie Eisenbahnlinien oder Kanäle zu bauen und das Volk durch Angst vor dem Lager gefügig zu machen.

Für den französischen Philosophen André Glucksmann ist dann auch das Lager das Symbol des praktizierten Sozialismus. In Köchin und Menschenfresser, (Wagenbach, 1976) schreibt er: „Die Lager sind geheime Kommunikationsinstrumente zwischen Herren und Sklaven, Ausbeuter und Ausgebeuteten. Auch wenn die Plebs nicht eingesperrt ist, liegt doch die Drohung und ein versteinertes Schweigen in der Luft, in denen die Stimme des Herrn unausgesprochen da ist. Jeder deportierte oder nicht deportierte Russe bewohnt „die Lagerzone.“

Die sozialistische Praxis hatte mit Westerwelles Sozialismusbild, in dessen Zentrum  großzügigen staatlichen Alimentierung steht,  nichts zu tun. Der sozialistische Staat ist der Ausbeuter, nicht der großzügige Helfer des Individuums und die Arbeit war eine seiner Waffen. Aber das ist das Problem von Phrasendreschmaschienen wie Westerwelle: Es geht ihnen nie um den Inhalt, immer nur um den Effekt und sie haben keine Ahnung wovon sie reden.