Der Schatten über den Missbrauchsskandalen in der Römisch – Katholischen Kirche ist lang. Es geht um Schweigen, Geheimniskrämern und Wegdrücken bis zur Grenze der Vertuschung. Je mehr man sich mit dem Thema beschäftigt desto schneller kommt man an die Ursache der Aktionen: Ein Schreiben des damaligen Chefs der Glaubenskongregation, verfasst und verschickt im Jahre 2001 an sämliche Bischöfe der Welt. Sein Titel: De delictis gravioribus. Das Papier ist mit dem Siegel der„Geheimhaltung“ versehen.
Es ist interessant, die Entstehung dieser Omerta Vaticana zu verfolgen:
Wir gehen zunächst zurück in das Jahr 1962. Damals verfasste Alfredo Ottaviani für den Vatikan ein 69-seitigen Schreiben, das durch Papst Johannes XXIII bestätigt wurde. Das Papier hieß: Crimen sollicitationis
In diesem Dokument wurden die Bischöfe offiziell angewiesen, Fälle sexuellen Missbrauchs durch Priester vor, während oder nach der Beichte nicht der Öffentlichkeit mitzuteilen, sondern diese Vergehen „mit größter Geheimhaltung“ innerkirchlich zu verfolgen. Auch Opfer des Missbrauchs sollten unter der Drohung der Exkommunizierung „ewiges Schweigen“ schwören. Sie sollten den Missbrauch aber innerkirchlich anzeigen. Ziel der Anordnung sei es gewesen, „Beschuldigte zu schützen, so wie dies heute bei Zivilverfahren der Fall ist.“ Das Schreiben legt im Einzelnen fest, wie innerkirchliche Untersuchungen in solchen Fällen zu führen und Priester gegebenenfalls zu bestrafen sind. Der vermutlich erste öffentliche Hinweis auf diese Anweisung erfolgte im August 2003 durch das britische Blatt The Observer. Seit wenigen Wochen ist es im Internet auf den Seiten des Vatican in einer inoffiziellen englischen Übersetzung abrufbar.
Den gleichen Titel trägt schon ein vatikanisches Dokument der Sacra Congregatio Sancti Officii (Heilige Kongregation des Heiligen Offizium), heute die Congregatio pro doctrina fidei (Kongregation für die Glaubenslehre) aus dem Jahr 1922. Es wurde von Kardinal Merry del Val unter Papst Pius XI erstellt. Das Dokument wurde im Hinblick auf das XXI. Ökumenische Konzil oder II. Vatikanisches Konzil unter Papst Johannes XXIII. 1962 von Alfredo Kardinal Ottaviani aktualisiert. Da jedoch nur zweitausend Ausgaben gedruckt wurden, reichten die Exemplare nicht für alle versammelten Konzilsväter, sodass diese Verteilung unbefristet aufgeschoben wurde. Das Dokument enthielt laut Wikipedia Verfahrensnormen, die in Fällen einer Verführung eines Beichtenden durch den Beichtvater von Seiten der Bischöfe zu befolgen waren, und um weitere sehr schwerwiegende Vergehen sexueller Art wie sexueller Missbrauch von Minderjährigen. Heute gelten in der Katholischen Kirche dafür die Bestimmungen von Sacramentorum sanctitatis tutela von 2001, welche durch den Brief De delictis gravioribus bekanntgemacht wurden.
Hier ein Auszug aus der inoffiziellen Übersetzung:
INSTRUCTION OF THE SUPREME SACRED CONGREGATION OF THE HOLY OFFICE ADDRESSED TO ALL PATRIARCHS, ARCHBISHOPS, BISHOPS AND OTHER LOCAL ORDINARIES “ALSO OF THE ORIENTAL RITE” ON THE MANNER OF PROCEEDING IN CAUSES OF SOLICITATION.
Sein Inhalt:
Schwere Straftaten gegen
– die Heiligkeit des hochheiligen eucharistischen Opfers und Sakramentes,
– die Heiligkeit des Bußsakramentes und
– gegen die Sittlichkeit, nämlich:
…. die von einem Kleriker begangene Straftat gegen das sechste Gebot des Dekalogs mit einem noch nicht 18jährigen minderjährigen Menschen.
Sind der Glaubenskongregation als Apostolischem Gerichtshof vorbehalten. Wenn ein Bischof oder Hierarch auch nur vage Kenntnis von einer derartigen Straftat hat, muss er sie nach abgeschlossener Voruntersuchung an die Glaubenskongregation weitermelden, die, wenn sie nicht wegen besonderer Umstände den Fall an sich zieht, durch Weitergabe der entsprechenden Vorschriften dem Bischof beziehungsweise Hierarchen gebietet, durch sein je eigenes Gericht das weitere Verfahren führen zu lassen…“
Das Verfahren wird wie folgt beschrieben:
An den bei den Bischöfen eingerichteten Gerichtshöfen dürfen für diese Strafverfahren nur Priester die Ämter des Richters, des Kirchenanwaltes, des Notars und des Strafverteidigers gültig wahrnehmen. Sobald der Fall vor Gericht wie auch immer beendet ist, sind die gesamten Akten des Verfahrens möglichst rasch von Amts wegen an die Glaubenskongregation zu übermitteln…Prozesse dieser Art unterliegen der päpstlichen Geheimhaltung.
Hier interessieren nun allein die Fälle der dritten Alternative des Tatbestandes, die Kinderfickerfälle. Die Fälle, bei denen sich Priester an Kindern während der Beichte vergingen, lassen wir mal beiseite, obwohl es die auch gibt.
Man könnte ja zunächst meinen, dass die oben beschriebene Weisung Johannes Pauls II/ oder von Jupp Ratzinger eine rein innerkirchliche Angelegenheit sei, wie es einige Kirchenrechtler sagen. Etwa als sie im Jahre 2007 auf die wiederholte öffentliche Forderung von Ute Ranke-Heinemann reagierten, die ausführte:
Das Geheimschreiben Kardinal Ratzingers von 2001 bedeutet auch weiterhin großen Schaden für die betroffenen Kinder und Jugendlichen in aller Welt.
Ranke Heinemann sagte weiter, sie hoffe, dass Ratzinger seine Anweisung als Papst Benedikt XVI. wieder zurücknimmt.
Auch die Kritik von Dominikanerpater Tom Doyle, wiegelten die Kirchenrechtler ab, als dieser die Dokumente von Kardinal Ratzinger kritisierte. Doyle sagte:
Sie (die Geheimanweisungen) dienen ausschließlich dem weltweiten Schutz der Täter, die ständig, um Skandal für die Kirche zu vermeiden, nach einer Therapie in eine andere Pfarrei versetzt werden und haben eine totale Justizbehinderung für die staatlichen Gerichte zur Folge.“
Nun, wie kommt man zu einem sachgerechten Urteil, ob diese Schreiben der Vertuschung dienen oder allein der kirchlichen Bestrafung der Täter, die den Strafanspruch des Staates nicht berührt?
Wieder hilft ein Blick in das 2001-Ratzinger-Papier. Denn dort heißt es am Ende:
Durch diesen Brief, der im Auftrag des Papstes an alle Bischöfe der katholischen Kirche, an die Höheren Oberen der Priesterorden päpstlichen Rechts und der Priestergesellschaften apostolischen Lebens päpstlichen Rechtes und an andere Bischöfe und Hierarchen, die er angeht, gesandt wurde, sollen nicht nur schwere Straftaten generell vermieden werden. Er bezweckt darüber hinaus, dass Bischöfe und Hierarchen wachsame Seelsorge betreiben, um vor allem für die Heiligkeit der Priester und der Gläubigen Sorge zu tragen, auch mit Hilfe notwendiger Strafen.“
Die Seelsorge betrifft also nahezu ausschließlich die Heiligkeit der Priester und der Gläubigen, das ist die Gemeinschaft der Gläubigen, also die Kirche. Die katholische Kirche will also allein darüber bestimmen, was mit dem Kinderschändern in den eigenen Reihen geschieht. Denn das Opfer im Sinne der Anweisung ist nicht das Kind, sondern die Heiligkeit der Institution und seiner „Glieder“. Deshalb die höchste Geheimhaltungsstufe. Das tatsächliche Opfer wird ignoriert, der Schutzzweck der Vorschrift hat es nicht im Auge.
Was aus der Anweisung folgt, ist klar und erklärt die jetzigen Fälle der organisierten Schweigerei, die an Vertuschung grenzt.
Wenn ein Bischof hört, dass sich einer seiner Priester an einem Kind vergangen hat, wird er in erster Linie an seine Pflichten gegenüber seinem Dienstherrn erinnert. Er wird versuchen, der Order „de delictis gravioribus“ gerecht zu werden. Schließlich geht es um nichts geringeres als um die Sorge der „Heiligkeit des Priesters“, die Fürsorge für den „Bruder“. Für das säkulare Strafrecht bleibt bei diesem Bewusstsein kein Raum.
Im Gegenteil: Selbst wenn man den Bischöfen zugute hält, dass bei ihnen in den 1960er, 1970er und auch noch Anfang der 1980er Jahre, das Verständnis für die schrecklichen Folgen des sexuellen Missbrauchs gefehlt hat, verstärken zumindest zwei Faktoren die Bereitschaft der Bischöfe, etwas gegenüber der breiten Öffentlichkeit zu verheimlichen.
Die Bischöfe stellen das Ansehen der Kirche, die von Ihnen als „Leib Christi“ verstanden wird, über die Leiden der missbrauchten Kinder. Denn die Kirche steht nach ihrem Verständnis unter der Leitung des Heiligen Geistes. Schließlich ist der Papst ja unfehlbar, oder so.
Zudem wollten und sollten die Bischöfe nicht in erster Linie die Kinder schützen, sondern die Gläubigen und die Kirche selbst vor den Folgen aus den Skandalen in den eigenen Reihen schützen.
Diese Bereitschaft der Bischöfe, die Leiden der Opfer nicht bei den weltlichen Behörden anzuzeigen, wurde ganz entscheidend durch die zitierten päpstlichen Schreiben, zuletzt das von Ratzinger aus 2001, gefördert. Wenn nicht sogar von Rom aus angewiesen.
Und genau das ist die Hauptursache für die offensichtliche Vertuschung der Kinderfickerei gegenüber der breiten Öffentlichkeit über Jahrzehnte.
Es wird niemanden verwundern, dass nach Paragraph 1341 des kanonischen Rechts ein Bischof nur dann weltlich-juristisch gegen einen Geistlichen vorgehen soll, nachdem er sicher ist, dass alle anderen Optionen versagen.
Natürlich wird man nun von geneigter Seite einwenden, dass die Vorschrift „de delictis gravioribus“ allein der innerkirchlichen Bestrafung – Ermahnung, Versetzung, Exkommunikation etc. – dient und eine Strafanzeige davon nicht berührt wird.
Dagegen spricht jedoch die „Handhabung“ der Missbrauchsfälle der Diözesen in den letzten 60/70 Jahren, gleich ob in Australien, USA, Irland, Italien, Österreich, Niederlande oder Deutschland.
Erst 2002 ist es Opfern in Boston, USA, gelungen, die Vorgänge um die Vertuschung der Missbrauchsfälle durch die zuständigen Bischöfe in die Öffentlichkeit zu ziehen und so in USA eine Welle der Aufdeckung von Missbrauchsfällen auszulösen und der römischen Kirche Entschädigungen in Höhe von insgesamt 2,6 Mrd. US-Dollar abzutrotzen. Bis dahin stand allein der Täterschutz im Vordergrund der Bischöfe. Der Priester wurde in Therapie geschickt oder in eine andere Gemeinde versetzt. Die Opfer selbst wurden durch Einschüchterung, Drohung mit einer Anzeige etwa wegen „übler Nachrede“ zum Schweigen verdonnert. In einigen Fällen wurden die Opfer durch Verschwiegenheitserklärungen gegen Zahlung eines Geldbetrages in Schach gehalten. Der Rest war dann nur noch „interne Geheimhaltung“ wie bei der Omerta der Mafia. So ähnlich lassen sich auch die Fälle deuten, die jetzt aktuell in Deutschland bekannt werden. Etwa von dem Bottroper Priester, der nach mehreren Kinderschändereien von Bottrop aus durchgereicht wurde bis nach München, wo ihn der damalige Erzbischof Ratzinger ohne weltliches Verfahren nach neuen Kinderfickereien in ein weiteres Amt versetzte.
Perfide ist weiter, dass man sich den Umstand zunutze macht, dass Opfer, wenn überhaupt, erst nach dreißig, vierzig oder noch mehr Jahren über das an ihnen begangene Verbrechen reden. Das heißt, wenn die strafrechtliche Verjährung abgelaufen ist und sich kein Staatsanwalt mehr für den Fall interessiert.
So können dann, wie in USA geschehen, auf das „Konto“ eines einzigen Priesters, des 1998 verstorbenen Lawrence C. Murphy, 200 hörgeschädigte Kinder und Jugendliche gehen. Ohne jegliche strafrechtliche oder kanonische Konsequenzen. Die New York Times berichtete darüber. Auf der Seite bishop-accountability kann man die Originalakten des Murphy-Falles bis 1999 einsehen. Es ist der Prototyp einer katholischen Verheimlichungsorgie.
Zum Murphy-Fall anzumerken ist noch, dass erst im Verfahren wegen seiner Taten gegen die Römische Katholische Kirche im Jahr 2005 die Apostolische Order „De delictis gravioribus“ von amerikanischen Anwälten öffentlich gemacht werden konnte. Der Kirchenkritiker Hans Küng greift deswegen Ratzinger alias Papst Benedikt XVI. frontal an. Er habe seit Jahren von den Mißbrauchsfällen gewusst.
Es stellt sich die Frage nach der Offenheit und Transparenz. Stephan Ackermann , der Frontmann der katholischen Bischofskonferenz für die Aufklärung der deutschen Missbrauchsfälle, hat die Vertuschung durch die katholische Kirche eingestanden. Aber ist er bereit und imstande, die in den Archiven der Glaubenskongregation schlummernden Akten herauszugeben, die das ganze Ausmaß des Missbrauchs und der Vergewaltigung beweisen?
Erst wenn diese Papiere der Allgemeinheit vorliegen, darf von der Ernsthaftigkeit des Aufklärungswillens ausgegangen werden.
Mir allerdings fehlt die Hoffnung zu einem solchen Vorgehen. Denn das Öffnen der Sex-Archive käme in manchen Fällen einer Selbstanzeige der Bischöfe gleich.
Zudem kann eine bewiesene Vertuschung durchaus eine strafrechtliche Relevanz gewinnen. Sprich: Knast kann drohen. Dann kann es weltweit zu Zivilklagen und Schadensersatzforderungen kommen, wie in Amerika.
Wen wundert es da, wenn jetzt selbst der Papst für seine juristische Verteidigung Vorsorge trifft. Die Nachrichtenagentur AP berichtet aus US-Justizdokumenten, dass drei Kläger aus Kentucky dem Vatikan vorwerfen, mit Berichten über Missbrauchsfälle nachlässig umgegangen zu sein und weder die Polizei noch die Öffentlichkeit über vergewaltigende Priester informiert zu haben, die Kinder missbraucht haben sollen.
Die Klage wurde bereits 2004 eingereicht, berichtet der KURIER aus Wien. Der Fall in Kentucky sei deshalb von Bedeutung, weil er einer von mehreren in den USA ist, in denen der Vatikan selbst das Ziel ist. Dabei geht es um die grundsätzliche Frage, ob die Opfer Ansprüche gegen die Kirchenspitze in Rom und nicht nur gegen die katholische Kirche in den USA geltend machen können. Frühere derartige Versuche sind gescheitert oder noch in der Schwebe.
Aber das könnte sich ja ändern. Warum nicht auch in Deutschland. Wäre doch mal gut, echte Kinderschänder anzugreifen und nicht nur über Internetsperren zu philosophieren.
Foto: achima auf Flickr.com