CAST INC. – DAS GESCHÄFT MIT DEM ERFOLG

mugshot_openerBlut. Überall war Blut. An unseren Händen, auf dem Fußboden, überall. Wir sind schuldig. Wir haben unseren Nachbarn erschlagen, seinen Schädel mit einem Spaten gespalten und das Hirn im Geräteschuppen verteilt. Wir hatten keine Wahl. Ihr hättet genauso gehandelt. Tut man nicht alles für den Ruhm? Für die Glitzerwelt der Reichen und Schönen, für Champagner, Groupies und Unsterblichkeit. Die Anklagebank von Barbara Salesch wird unser Sprungbrett sein. Wir waren bei einem Casting der Produktionsfirma filmpool. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.


PROLOG: Die Stehascher am Eingang zum Hotel Bredeney, Essen, 14.12 Uhr:

Erzählerstimme aus dem Off (sonorer, verrauchter Klang): Wie sagte Marilyn Monroe einst? Hollywood ist ein Ort, wo sie Dir 50.000 Dollar für einen Kuss und 50 Cent für Deine Seele zahlen. Deine Seele bedeutet im Jetzt nichts. Existiert ein Stuhl, wenn Du ihn nicht anschaust? Bist Du da, wenn Dich niemand sieht? Wir sind nur die Spiegelbilder in den Augen der anderen. Die einfachste Flucht aus der Bedeutungslosigkeit ist der Weg auf die Bühne. Talent spielt in dieser Welt keine Rolle, es zählt der Wille.


Regennasser Asphalt. Den Parkplatz vor dem vier Sterne Hotel überzieht ein matter Glanz. Menschen drängen sich unter dem kleinen Vordach des Eingangs, suchen Schutz vor dem Nieselregen. Ihre Finger halten sich an Zigaretten fest, während Anspannung von ihren Gesichtern bröckelt wie der Putz von einer alten Häuserfassade.

„Krass, ich hab da gesessen und fast geheult, so sehr hab ich mich in die Rolle reinversetzt. Und in das da, was mit dem Mädchen passiert ist.“

„Ich bin auch voll froh, dass ich es hinter mir hab. Im Zimmer nebenan hat einer voll geschrien. Das war echt total heftig.“

Das Reden scheint wie ein Akt der Befreiung für die zwei Teenager. Vielleicht 16 oder 17 Jahre alt. Ihre Haare sind blondiert, ihre Ärsche stecken in kurzen Röcken, die kindlichen Züge sind hinter Make-Up versteckt. Daneben eine Mutter, die mit Autoschlüsseln klimpert. Sonntagsausflug – powered by emotion.

Drei Burschen marschieren zwischen den geparkten Autos hindurch, an einem Kombi vorbei, der gerade mit Samsonite-Koffern vollgestopft wird, zum Eingang. Flaum auf der Oberlippe, Babyface. Sie haben ihren großen Auftritt noch vor sich. Mützen, Baggys, Natural Born Gangstaz.

„Ey, isch werd denen gleich da was vorrappen, Alter. Isch schwör.“

Schwarze Granitplatten im Hoteleingang pflastern die Pforte zur Glitzerwelt. Wer hindurch schreitet, kauft ein Los für eine bessere Zukunft. filmpool castet (heute) die Formate „Niedrig & Kuhnt“, „Zwei bei Kallwass“, „Barbara Salesch“, „Verdachtsfälle“ und „Familien im Brennpunkt“.

Schlange und Joswig stehen neben dem Eingang an die Außenmauer gelehnt und rauchen. Die Anmeldung zur nächsten Runde des Castings beginnt in einer Viertelstunde.

Schlange drückt seine Kippe in einem der wettergegerbten Stehascher aus und steckt sich die nächste an. Mit zusammengekniffenen Augen blickt er zu Joswig. „Wie läuft normalerweise so n Casting ab?“

„Zunächst werden überhaupt mal die Fahrtkosten erstattet.“ Joswig zieht an seiner Kippe und fixiert seinen Berlingo auf dem Parkplatz. Spritverbrauch gut neun Liter auf 100 Kilometern. Er stößt den Qualm in die dünnen Regenfäden. „Dann wird halt vorgespielt. Normalerweise gibt s vorab das Drehbuch und die Texte der Szenen, die du lernen sollst. Hier hätt ich gedacht, dass du dich nur vorstellen musst. Keine Ahnung, was kommt.“

„Hmm.“ Schlange nickt nachdenklich.

„Mach dir keinen Kopf. Alle Caster sind immer extrem freundlich. Das ist der Job. Niemand wird dich zur Sau machen. Alles läuft nach dem Prinzip: Don’t call us, we call you.“

Die freundlichsten Caster von allen rufen nicht einmal an, um abzusagen.

Das einzige Mal, dass die beiden gemeinsam vor der Kamera standen, war 2007. In der Jury eines vierstündigen Kurzfilmspecials, live im Offenen Kanal Dortmund. Joswig als arrivierter Schauspieler (Tatort, Das weiße Rauschen, 23 – Nichts ist so, wie es scheint, St. Angela, Alles was zählt), Schlange als damaliger BILD-Reporter und selbsternannter Wellness-Experte. Wellness-Experte? Zum Glück hielt sich die Einschaltquote in Grenzen. Schlange war dem Druck der Show nicht gewachsen und leerte während der Live-Sendung eine Flasche Scotch. Anstößige Pöbeleien waren die Folge: „Lass uns seine rechte Hand brechen.“ (Schlange zu Thilo Gosejohann)

Schlange beobachtet die sich kräuselnden Pfützen auf dem Parkplatz und atmet durch. Ruhig bleiben. Trinken ist heute keine Lösung und der Whiskey an der Hotelbar eh zu teuer.


SZENENWECHSEL: Anmeldung Casting, erster Stock Hotel Bredeney

Erzählerstimme aus dem Off (Idealbesetzung Christian Brückner, Synchronsprecher von Robert De Niro): Sollen Dir die Massen zu Füßen liegen, musst Du etwas wagen. Jede Casting-Show kann Dir die Tür öffnen. Was soll schon passieren? Selbst der Depp der Nation bekommt seine 15 Minuten warholschen Ruhm. Psychosen inklusive. Das Prinzip ist einfach. Willst Du das Publikum packen, finde den kleinsten gemeinsamen Nenner. In allen Menschen herrschen Triebe und Instinkte. Menschen verlangen nach Blut – egal in welchem Jahrhundert. Werde ihr Star, ein Gladiator mit Ed Hardy-Hemd. Beweise Deine Eier und steige in die Arena.


Die Treppe zur ersten Etage fühlt sich lang an. Jeder Schritt kostet Kraft. Gefühlte tausend Stufen bis zum Olymp der Götter. Blauer Teppich von goldenen Messingleisten gehalten. Die ersten Teilnehmer sitzen bereits auf den unteren Stufen an das Geländer gelehnt, gelbe Zettel mit Nummern an die Brust geheftet und lesen mit stummen Lippen Texte von weißen Blättern. Kleine Mädchen, die die Zwanzig noch nicht erreicht haben. Das Papier zittert vor Anspannung in ihren Händen.

Vom Casting-Bereich drängen Laute die Treppe hinab. Treiben, Geknister, Schritte und Türen. Lärm, den geschäftige und gestresste Menschen machen. Geräusper, Geschniefe, Klacken und Knarren. Alle erdenklichen Geräusche – nur keine Stimmen.

Schlange und Joswig sehen, als sie die letzten Stufen nehmen, die gesamte erste Etage als Anmeldung geschmückt. Fast vierzig Teilnehmer drängen sich um kleine Stehtische, die feierlich mit weißen Tüchern bespannt wurden, und versuchen filmpool-Praktikantinnen ihre Anmeldebögen in die Hand zu drücken. Andere stehen an den Wänden, sitzen in einer kleinen Sofaecke, füllen Bögen aus, lernen still Texte, sortieren ihre Bewerbungsfotos oder laufen durch den Raum. Die Szene wirkt, als hätte jemand versucht dem Sommerschlussverkauf bei Karstadt den Flair von Cannes zu verleihen.

Den Großteil der Bewerber stellen Mädchen zwischen 16 und 20 mit deutscher oder slawischer Herkunft, dann ein paar MILFs (Abk.: Moms I’d like to fuck) mit oder ohne Ehemänner und vereinzelte Frauen jenseits der Sechzig – alle ohne Gatten. Grüppchen von stylischen Burschen mit Migrationshintergrund in den Ecken, daneben Informatik-Studenten, Casting-Freaks a la DSDS – die Quoten-Garanten für den Vorentscheid. Dann noch kernige Handwerker und Typen in Designeranzügen, Zahnärzte und Steuerprüfer. Die Anklagebank, der gesamte Zeugenstand einer Gerichtsshow plus Publikum in einen Raum gezwängt. Das Klischee von der mediengeilen Unterschicht trifft es nicht. Jeder, der seinem Narzissmus unreflektiert erliegt, wird hier mit offenen Armen empfangen. Vor dem Gesetz sind alle gleich.

Joswig geht zur Toilette. Die Tür des Damenklos gleicht der Schwingtür eines überfüllten Goldgräbersaloons. Ein Teenie wechselt den nächsten ab und kommt mit einer neuen Schicht Make Up und Lidschatten zurück. Es ist nicht alles Gold, was glänzt.

Neben einer dicken 20-Jährigen schafft es Schlange auf die Couch und zieht seinen ausgedruckten Bewerbungsbogen aus der Tasche, der von filmpool gemailt wurde. Seine Bewerbungsfotos (zwei Profilbilder, eine Ganzkörperaufnahme) als Unterlage fängt er an auszufüllen: Name, Adresse, Telefon, E-Mail. Mit starrem, verbissenem Blick liest die Grazie neben ihm ihre Rollenanweisungen. Das Blatt wirft Falten zwischen den verkrampften Fingern. Ihr riesiger Brustkorb hebt und senkt sich hektisch. Puls 180. Gewicht ebenso. Anscheinend entscheidet das Casting über Leben und Tod.

Schlange füllt weiter aus: Nationalität, Familienstand, Kinder. Haarfarbe, Körper-, Schuh- und Kleidergröße. Die Tür des Männerklos öffnet sich und Joswig kommt zur Sofaecke. Er schaut einem Typen Mitte vierzig über die Schultern, der gerade seine Unterlagen sortiert. In dem freien Kästchen für Beruf auf seinem Zettel steht Bauarbeiter. Die Bewerbungsbilder zeigen ihn in einem mit bunten Tüchern abgehängten Fotostudio, oben ohne, unter dem Arm einen Motorradhelm geklemmt. Möchtegern-Schauspieler, die von Möchtegern-Fotografen für ein Möchtegern-Casting abgelichtet werden. Klar, alle möchten gern.

filmstreifen_vari_gelb3Joswig nimmt Schlanges Tasche von einem Sessel, setzt sich und macht Notizen in sein kleines Büchlein. Das Mädel auf der Couch schreckt auf. Sie beugt sich nach vorn und flüstert.

„Wie, müssen wir hier auch irgendetwas aufschreiben?“

Joswig nuschelt zurück: „Nö, nö, … das mach ich nur so für mich.“

„Oh, gut.“ Die Grazie lässt sich erleichtert in die Couch zurückfallen, und Schlange rutscht mit seinem Stift über die halbe Seite.

Er füllt weitere Kästchen: Piercings Wo? Tatoos Wo? Narben Wo? Führerschein Welche? Nie war es so einfach ins Fernsehen zu kommen. Im Anmelderaum tummeln sich die Gesichter einer Einkaufsstraße. Menschen jeder Sparte und Herkunft. Träume beschränken sich nicht nur auf das gern verpönte Prekariat. Die Verzweiflung und Selbstüberschätzung, sich solchen Formaten auszuliefern, sind nicht an den IQ gekoppelt. Jeder hat das Recht auf Ruhm. Phobiker der Bedeutungslosigkeit gibt es in allen Kasten.

Erste Fernseherfahrungen? Schlange: besagtes Kurzfilmspecial im Offenen Kanal, ohne Angabe von Details. Joswig zieht noch einige Folgen „Verbotene Liebe“ aus seinem Lebenslauf-Zylinder. Grandios. Besondere Merkmale und Talente? Joswig: Dialekt Ruhrpott. Schlange: Schnäuzer.

Als Schlange später einer blondinen Praktikantin an einem der Stehtische seinen Bogen in die Hand drückt, hakt sie beim Job nach.

„Oh, Student. Was studierst du denn?“

„Psycho.“

„Oh, cool.“

Die kleine Blondine trägt in dem freien Kästchen in Schlanges Anmeldebogen unter der Kategorie Beruf: „Psycho“ ein und drückt ihm zwei zusammengeheftete Zettel mit seinem Text in die Hand. Alles klar, Beruf Psycho.

„Du bist dann die Rolle „Bruder“. Ich hoffe, du kannst damit leben.“

„Hmm.“

„Super, dann warte hinten im Konferenzraum. Wir rufen dich da nachher auf.“

„Hab ich noch Zeit zu rauchen?“

„Sicher, kein Problem.“

Joswig bekommt die Rolle des Vaters. Spitze.

Er geht mit Schlange die Treppe runter, um vor dem Eingang zu rauchen und seine Rolle zu lernen.


Die Rolle

Vorgeschichte: Joswig lebt mit seiner Tochter Ramona (14) zusammen. Vor drei Jahren haben die beiden Ehefrau und Mutter bei einem tragischen Unfall verloren. Der Schmerz ist fast überwunden, alles scheint gut, wären da nicht die Nachbarn, Familie Breuer. Besonders Herr Breuer, ein geiler alter Sack, stellt der kleinen Ramona nach. Es kommt immer wieder zu lautstarken Auseinandersetzungen und Beschimpfungen („Flittchen!“, „So eine Lolita!“).

Am Tag der Tat beschließen Vater und Tochter die Wohnung zu renovieren und von den alten Möbeln zu befreien, um endlich mit der traumatischen Geschichte abschließen zu können. Joswig schickt Ramona in den Gartenschuppen, um Pinsel und Farben zu holen. Plötzlich hört er Schreie. Er rennt zur Laube, findet Herrn Breuer mit heruntergelassener Hose über Ramona – Blut läuft ihr aus Mund und Nase – und erschlägt ihn kurzerhand mit einem Spaten. Die Leiche, die er im Komposthaufen der Breuers versteckt, findet zwei Tage später ihr Dackel. Die Ermittlungen der Polizei beginnen.

(Schlange annähernd gleiche Geschichte: Ramona ist die kleine Schwester, beide Eltern sind tragisch ums Leben gekommen, Nachbarschaftsterror, Renovieraktion und Spatenmord)

Die Szene (grobe Dialoge vorgegeben): Vorladung bei der Polizei, cool und gelassen dem Kommissar das Verhältnis zu den Breuers schildern, Alibi für den Tatabend: fernsehgucken, bei Nachfrage erstmals laut werden, weil man sich angegriffen fühlt, plötzlich redet Frau Breuer dazwischen, die zufällig bei der Vernehmung anwesend ist, pöbelt rum, ebenfalls laut werden, zurückpöbeln, dann Foto von Ramona zeigen, die seit der Vergewaltigung traumatisiert im Krankenhaus liegt, Zusammenbruch und Geständnis (im Idealfall unter Tränen).


Als Schlange und Joswig wieder die Casting-Etage des Bredeney-Hotels betreten, ist von dem hektischen Treiben nichts mehr zu sehen. Der Anmeldebereich leergefegt, ein verlassener Saloon, Tumbleweed rollt vor der Schwingtür des Damenklos. Das ganze Casting-Volk sitzt an zusammengeschobenen Tischen im Konferenzraum. Die beiden gehen an ihnen vorbei und setzen sich in die hintere Ecke.

Es ist die Stimmung vor dem Highnoon, das Duell zwischen Hoffnung und Castingagent. Totenstille. Joswig blickt in die gesenkten Gesichter. Verzweiflung und Anspannung stehen in jedes geschrieben. Bei Film- und Fernseh-Castings, wenn echte Schauspieler ihre Rolle bereits gelernt haben, mündet dieser Druck in Übersprungshandlungen, in wilder Status-Buhlerei. Mein Haus, mein Auto, meine Setcard. Hier ist es anders. Die Verzweiflung lässt sich säuerlich in der Luft schmecken. Schweigen. Für diese Menschen geht es um ihre einzige Tür zum Glück. Schlange schweift ab und denkt an Whisky.

Um kurz nach drei erscheinen zwei Casting-Assistentinnen, dieses Mal brünett, und rufen die ersten Gruppen auf, jeweils acht Namen. Schlange und Joswig haben Glück, sie landen in derselben Gruppe und gehen gemeinsam mit sechs Frauen zu ihrem Casting. Hähne im Korb. Die Stunde der Entscheidung steht bevor.


SZENENWECHSEL: Der Keller des Hotels Bredeney, Raum III

Erzählerstimme aus dem Off (konspirativ-verführerischer Tonfall): Kaufe ein Los zum Glück. Trau Dich. Hoffnung ist der Motor unserer Gesellschaft. Halte dem Esel eine Möhre vor, und er wird Deinen Karren den Berg hochziehen. Es war schon immer so. Die katholische Kirche verspricht Dir seit Jahrtausenden das Paradies nach einem Leben als Sünder. Es geht auch einfacher. Ich gebe Dir einen Traum für Dein Dasein ohne Perspektiven. Zucker, Baby. Casting-Shows sind das Lottospiel für die hoffnungslose Jugend. Wozu brauchst Du einen Schulabschluss, wenn Du Superstar bist? Vergiss die Realität und nimm meine Hand.


Es ist ein länglicher Raum, vier mal acht Meter. Zehn Stühle säumen rechts und links die Seitenwände, gepolstert wie im Wartezimmer. Am Ende des Zimmers steht ein Tisch mit einer Videokamera und einem Monitor, dahinter zwei weitere Stühle. Schlange und Joswig setzen sich auf die beiden hinteren Plätze neben der Tür. Die Damen füllen die Sitze bis zum Tisch.

Die brünette Casting-Assistentin setzt sich hinter den Monitor, als ein langer, hagerer Kerl den Raum betritt und zwischen den Stuhlreihen stehen bleibt. Weißgraue Haare, fescher Borstenschnitt, Brille, schwarzes Künstlerhemd und grau-verwaschene Jeans. Er legt die Hände ineinander.

„Hi, ich bin der Rainer.“ Er grinst. „Und ich würd sagen, wir bleiben alle beim Du.“ Zustimmendes Raunen. Joswig guckt Schlange an. Das Arbeits-Du. Klar, wer hat schon Bock sich ständig neue Namen zu merken.

Rainer fährt fort. Betont locker, betont sympathisch, betont souverän. Niemand müsse hier nervös sein, jeder wolle ins Fernsehen.

Er lächelt wieder. „Eins ist aber total wichtig: Versucht nicht zu schauspielern, seid ihr selbst. Wir suchen Charaktere. Wenn normale Menschen eine Rolle spielen, wirkt es immer wie Bauerntheater.“ Rainer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten für das Business kaputtgemacht, das sieht man. Leptosomer Typ, ausgemergelt, Raucher, Furchen im Gesicht. Er geht auf und ab und spielt das Verhör kurz durch, zeigt auf die Teilnehmerinnen, stellt Fragen aus dem Skript. Die Antworten kommen wie aus der Pistole geschossen. Die Damen sind auf das Duell vorbereitet. Sie haben fern gesehen. Hier wird gespielt, was man in Gerichtsshows und Dokusoaps gesehen hat. Affektierte Gefühle. Professionelle Amateurhaftigkeit. Doppelte Zerrbilder.

Nach dem Probe-Geständnis setzt sich Rainer mit einer Arschbacke auf den Tisch.

„Und falls ihr mal irgendetwas vergessen solltet oder euch bei einer Stelle verhaspelt, haben wir dann noch diese Emotionsmarker.“ Er hält verschiedene Blätter hoch, auf denen Worte stehen: patziger, trauriger, lauter, Foto, Geständnis. Das Sicherheitsnetz für hölzerne oder zu ambitionierte Schauspieltalente. Rainer geht hinter den Tisch. Die Aufnahmen können beginnen.

Stille. Rainers Blick wandert über die acht besetzten Stühle. Die meisten Augen richten sich zu Boden. Niemand will anfangen. Acht angehende Superstars und keiner will vor die Kamera. Rainer schnauft.

Ursula, die Älteste der Casting-Gruppe, steht auf.

„Na ja, dann mach ich das mal.“ Die brünette Casting-Schnecke hinter dem Monitor drückt ihr einen Zettel mit ihrem Namen in die Hand. Ursula stellt sich 50 Zentimeter vor ein weißes Kreuz, das mit Klebeband auf den Boden gezogen ist, und fängt an zu erzählen.

„Halt, halt, halt.“ Rainer bremst ihren Enthusiasmus aus. „Ganz langsam. Erst einmal stellst du dich auf das Kreuz und hältst dein Namensschild hoch. Wenn ich dir ein Zeichen gebe, lässt du es dann zu Boden fallen. Dann drehst du dich langsam nach links und anschließend nach rechts, damit wir dich im Profil aufnehmen können. Und dann, Ursula, gehst du kurz die Liste mit Stichpunkten durch, die hier vorne am Tisch klebt. Alles klar?“

Ursula nickt. Auf dem Zettel am Tisch steht: Name, Castingnummer, Alter, Wohnort, Beruf, Hobbys.

Ursula hebt ihren Zettel hoch vor die Brust. In ihren schwarz gefärbten Haaren steckt eine kleine Spange. Sie lässt das Namensschild fallen und zeigt sich im Profil. Ursula lächelt verschmitzt. Ihren roten Lippenstift hat sie tief in die Runzeln um ihren Mund gedrückt.

Ursula ist 76, hat vor drei Jahren angefangen, sich englische Brieffreunde zu suchen, um die Sprache wieder aufzufrischen und mitmachen tut sie beim Casting, weil sie mal hinter die Kulissen schauen will. Ursula ist cool, meistert ihre Vernehmung und das Geständnis ohne große Patzer und setzt sich wieder.

Rainer beginnt in die Hände zu klatschen, die anderen stimmen mit ein. Ursula bekommt ihren ersten Applaus als Schauspielerin. Der Applaus wird zum Ritual. Jeder bekommt seinen Applaus. Niemand muss nervös sein. Klatschen um des Klatschens Willen.

Joswig atmet schwer durch. Bei normalen Castings applaudiert niemand. Man ist Profi. Wer feuert schon seinen Konkurrenten an?

Die nächsten Mutigen stellen sich auf das Kreuz – mal mehr, mal weniger nervös. Eine 22-jährige, vollschlanke Bankkauffrau, die jetzt auf Grundschullehrerin umsattelt, zwei 17-jährige Freundinnen, denen beim Stichwort Hobby nur ihr jeweiliger Schatz einfällt, und eine Krankenpflegerin Anfang Zwanzig ohne besondere Merkmale. Neben Schlange drückt sich noch eine verschüchterte Schülerin in den Stuhl – gerade 16 und damit im Mindestalter für dieses Casting. Vier von acht Teilnehmern kommen aus Wattenscheid – entweder ein Indikator für die enorme Leistungsdichte oder ein Gradmesser für die vorherrschende Verzweiflung im Ort.

Schlange hat die rechte Hand leicht geballt, sein Daumen knibbelt im Nagelbett des Mittelfingers. Mit jeder Kandidatin, die sich vor ihm auf das Kreuz stellt, wächst der Druck. Für jemanden, der den Kamerakasper nicht beruflich macht, ist es ein unangenehmer Gedanke, dass jede flüchtige Bewegung, jedes unüberlegte Wort, jede Zuckung oder Grimasse für die Ewigkeit auf Film gebannt wird.

Hier ist es nur eine popelige Videokamera, ein kackenfreundlicher Caster und sieben Mann als Publikum, die alle im selben Boot sitzen. Wie müssen sich erst die Kandidaten bei DSDS fühlen? Auf sie wartet der mediale Pranger und ein Bohlen, der für die Quote Ärsche aufreißen muss. An den Bildschirmen Millionen Fremdschäm-Fetischisten, die nach nichts Anderem geifern als Blut und zerfetzte Existenzen. Wer das riskiert, hat entweder den Bezug zur Realität komplett verloren oder echte Eier in der Buchse. Manchmal sogar beides.

Ab der dritten Vernehmung versucht Schlange dranzukommen. Als sechster steht er schließlich auf dem Kreuz.

Seine Hände zittern, als er den Zettel vor die Brust hält. Nach vorne schauen, dann zur Seite. Ein Gefühl wie bei Fahndungsfotos nach einer Festnahme. Das Prinzip ist ähnlich, nur die Kartei eine andere. Name, Castingnummer, Alter, Beruf und so weiter. Dann ein Monolog übers Lesen, Kochen, die Musik und das Pimpern. Anschließend die Vernehmungsszene. Am Anfang etwas unsicher bekommt das Rollenspiel mit der Zeit Dynamik. Schlange geht in der Rolle des fürsorglichen Bruders auf. Wären da nicht die ständigen Fäkal-Ausdrücke, ein ganz anständiger Auftritt. Schlange bekommt Applaus und setzt sich erleichtert.

Zu guter letzt: Auftritt Herr Joswig. Das Kreuz am Boden ist fast völlig mit fallengelassenen Namensschildern bedeckt. Er schiebt sie mit dem Fuß lässig zur Seite und räuspert sich. Die Fahndungsfotos werden im sicheren Stand gemeistert. Ist schließlich nicht das erste Mal. Nach vorne schauen, dann zur Seite. Anschließend die Stichwortliste abhaken. Bei Joswigs Beruf „Dekorateur“ entfleuchen den Damen kleine „Ahhs“ und „Ohhs“. Als sie verklungen sind, folgt ein Monolog über die Leidenschaft zu kochen. „Gastrosexualität ist die neue Metrosexualität.“ Nachdem Joswig noch den Satz „Und scharfe Messer sind purer Sex.“ nachlegt, liegen ihm die Frauen zu Füßen. Das Publikum ist vorbereitet, er beginnt mit seinem Rollenspiel. Souverän und gelassen. Erst reflektieren, wirken lassen, dann reagieren. „Abnehmen“ nennt man so etwas in der Schauspielschule. Joswig bekommt es sogar hin, während des Streitgespräches, einen Seitenhieb auf das schwachsinnige Skript zu liefern: „Beide Streitparteien in einem Polizeiverhör? Was für Drehbuchschreiber haben sich denn so einen Mist ausgedacht?“ Anschließend das Geständnis mit zitternden Lippen. Applaus.

Das Casting ist beendet und Rainer tritt hinter dem Tisch hervor. Sein Brustkorb füllt sich mit Luft.

„Wir werden jeden von euch in die Kartei aufnehmen.“

Was für eine Überraschung! Diese Entscheidung zeugt von echter Qualität. Wie sollte man auch die Maschinerie sonst am Laufen halten, diese Masse an Nachmittagsformaten mit Schwenkfutter beliefern, wenn man nach schauspielerischer Leistung selektieren würde? Natürlich wird alles genommen, schließlich wird auch alles im Brennofen des Trash-TVs verfeuert.

Rainer blickt in ein halbes Dutzend erleichterter Gesichter.

„Gibt es hier jemanden, der eine bestimmte Rolle nicht spielen würde?“ Keiner meldet sich. Gutes Material für die Casting-Kartei also. Frische Gesichter, die sich verbrennen lassen: formbare Massenmörder, potentielle Pädophile und willige Hartz IV-Empfänger.

Alles für den einen Fernsehauftritt. Egal, wie das Leben danach weitergeht? Joswig wurde im Supermarkt von kleinen Gören angepöbelt, als er den Junkie bei AWZ (Alles was zählt) gab. Als er als Mörder im TV zu sehen war, ergriff ein Typ vor Saturn die Flucht. Nicht Jeder liest das Kleingedruckte im Abspann. Das Programm wird unreflektiert gefressen, die Schamgrenze franst stetig aus. Fernsehhörigkeit auf beiden Seiten. Angebot und Nachfrage. Quote schlägt Qualität. Das Publikum bekommt das Fernsehen, das es verdient. Brot und Spiele des 21. Jahrhunderts.

Rainer klatscht in die Hände. „Super. Ein Redakteur wird sich dann mit euch in Verbindung setzen. Vielleicht nicht sofort, aber in jedem Fall. Bevor ihr geht, lasst euch bitte noch einmal hier an der Wand fotografieren, und ansonsten wünsch ich euch einen schönen Abend und eine gute Heimreise.“


EPILOG: Der Keller des Hotels Bredeney, das Raucherzimmer direkt neben Raum III

Erzählerstimme aus dem Off (männlich und doch zuckersüß): Im Evangelium des Johannes, Kapitel 8, Vers 7 sagt Jesus zu den Pharisäern „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Bist Du wirklich vor der Verlockung des Ruhmes gefeit? Wie würdest Du reagieren, wenn Dir jemand ein Angebot macht? Unzählige Augen auf Dich gerichtet, Bewunderer, Fans und endlich das Gefühl jemand Wichtiges zu sein. Würdest Du Dir diese Tür wirklich verschließen?


Schlange und Joswig stecken sich im benachbarten Raucherraum eine Kippe an und packen ihre Sachen. Rainer kommt rein, lässt sich in einen Sessel fallen und kramt eine Zigarettenschachtel aus der Hemdtasche. Er lächelt die beiden geschafft an.

Schlange: „Und du ziehst dir jetzt seit heute Morgen diese Klamotte hier rein?“

Rainer nickt und bläst eine Qualmwolke in den Raum. „Ja, seit zehn Uhr. Ich musste allerdings schon morgens um sieben von Köln losfahren. Gestern dasselbe.“

„Scheiß Wochenende.“ Schlange ascht ab. „Und was bist du jetzt genau – Caster oder Regisseur?“

„Ach, weder noch. Ich hab immer mal wieder Projekte mit filmpool gemacht. Zurzeit halt dieses hier.“

castingblatterAlso auch nur ein kleiner Bauer auf dem Schachbrett. Keiner der Strippenzieher in diesem Spiel. Die Legebatterien der Billigunterhaltung werden von anderen befeuert. Nur echte Arschlöcher entwickeln Konzepte, die für Quote gezielt Existenzen zerstören. Für billigste Massenware. Günstige Eier aus Käfighaltung – gleichförmig und mit Blut verschmiert. Gewinn gegen Gewissen. Nur wahrhaftige Wichser können Trottel vor die Kamera ziehen und sie ihres letzten Funken Würde berauben, anstatt sie vor sich selbst zu schützen. Die armen Schweine, die vor laufender Kamera geschlachtet werden, haben einfach keine Wahl. Aufwertung durch Abwertung – ein Verkaufsgarant. Jeder braucht einen unter sich – ob Studienrat oder Bauarbeiter.

Wer schützt die Menschen, wenn die Macht der Medien ihren Horizont überfordert? Und warum schimpft niemand auf Legehennen, weil sie in einer Batterie sitzen? Weil sie keine Wahl haben. Der Rest ist offensichtlich, Produzenten und Erzeugnisse sind einfach scheiße. Prinzip: Masse statt Klasse. Die Gesellschaft rennt mit vollen Taschen in den Untergang. In welcher Batterie hockst du? Unser Rainer hier ist kein Macher – nur eben der Rainer mit dem schwarzen Künstlerhemd. Auch nur ein Opfer seiner Hoffnung.

Rainer inhaliert, hält seine Kippe zwischen Zeige- und Mittelfinger und tippt mit ihr zu Schlange und Joswig.

„Ich fand es übrigens sehr gut, wie ihr das gemacht habt. Es ist wirklich selten, dass Männer sich so emotional in eine Rolle fallen lassenkönnen. Ihr habt ein hohes Maß an Authentizität ausgestrahlt. Ich hoffe die Redakteure werden das auch so sehen.“


Das hoffen wir auch. Schließlich geht es im Leben immer nur um Groupies, Ruhm und Reichtum.

Man sieht sich in Hollywood, Ihre Wattenscheider Schule.


ABSPANN:

Keine drei Wochen später klingelt Schlanges Handy – das erste Angebot von filmpool, vier Drehtage.

Die Redakteurin: „Wir brauchen einen gutaussehenden Typen, der auch unsympathisch sein kann.“

Schlange: „Machbar. Gage?“

Sie: „360 Euro.“

Schlange sagt ab. Bei filmpool kostet deine Seele 90 Euro am Tag, deine Seele in einer Statistenrolle etwa 40. Dann doch lieber ein Kuss für 50.000 Dollar oder eine Flasche Scotch ohne Stress.

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WS Bloglist:


Ruhrpilot – Das Navigationssystem für das Ruhrgebiet

muschelStudium: Börps…Muschelschubserin

Karneval: Pannekopp-Orden für Middelhoff…Ruhr Nachrichten

NRW: CDU auf Kuschelkurs…Ruhr Nachrichten

NRW II: FDP braucht Wende…RP Online

NRW III: FDP will mit Hartz punkten…Welt

NRW IV: Wahkampfrede für alle…Pottblog

Sekten: Keine Konto für Gelsenkirchener Maoisten…FTD

Ruhr2010: U auf Kosten der Kultur?…Der Westen

Kultur: Aus für Factory…Der Westen

Kultur II: Bier…Genussbereit

Computer: Twittern mit dem VC20…Kueperpunk

3 FÜR 7 – 3 ausgewählte Veranstaltungen der Woche

tinateubnerEs gibt erstaunlich viele Leute, die so tun, als seien sie total weltoffen und nicht auf typisch deutsche oder europäische Weise kulturell geprägt worden. Im positiven wird dann gesagt: Na klar, gerade wegen Aufklärung und Demokratie und so (die es ja nunmal irgendwie hier gibt), sei der Mensch hier ja so kritikfähig, anderen ja auch so ein bisschen überlegen und – na, klar – auch echt weltoffen. Im negativen Sinne könnte gesagt werden: Hierzulande wird sich in derartig vielen Facetten mit sich selbst beschäftigt, dass andere Kulturen erst dann erkannt werden, wenn sie sich als „das Fremde“ manifestieren. In diesem Sinne drei Mal typisch Hiesiges: „Was ist Heimat?“, Tina Teubner & Ben Süverkrüp, „TV Eye Labelfest“.

„Junge Fußballfans in Wort und Bild“ kommen bei „Was ist Heimat?“, einer Veranstaltung der Schalker Fan-Initiative in der Flora, zum Zuge. Diese moderne, Sport affine Variante einer Landschaftsjugend hat aber nun erstaunlicherweise genau nicht Hools und renitente Gelsen-Blockwarte zu Gast, sondern „jugendliche Mitglieder eines Gelsenkirchener Galatasaray-Fan-Clubs, die Band „The Herbs“ von Consol 4, Besucher des Schwul-Lesbischen Jugendzentrums „The Point“, Studierende am Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe bis hin zu jungen Menschen in der Jugendberufshilfe Stadt Gelsenkirchen“. Weil die ja noch lernen müssen, was Heimat heißt? Weil das, was die zum Thema sagen, total unverdächtig sein sollte, irgendwie rechts oder regionalistisch zu wirken? Der OB, ein paar Sportler und andere lokale (Polit-)Promis werden auch da sein und für hübsche Bilder posieren. Schade, dass niemand aus anderen Heimaten eingeladen ist.

Die spannenden, leicht durch den Kopf-Fleischwolf gedrechselten Tiefen und Untiefen tagtäglichen Beziehungsstresses sind mal wieder Thema bei Tina Teubner und Begleitung (Foto: Promo). Vielleicht endlich mal wieder ein ausverkauftes Katakomben Theater? Dort übrigens immer wieder angenehm: Die freundliche Distanz, mit der die zum Großteil Türkei stämmigen Betreiber sich all die immer wieder auf der Bühne ausgebreiteten, individuellen Zivilisationskrankheiten der Künstlerinnen und Künstler anschauen – auch wenn mal eine frischgebackene Trägerin des Deutschen Kleinkunstpreises 2010 (Sparte Chanson) anwesend ist – oder gerade dann?

Was macht Frank Popp? Er kümmert sich um sein Label TV Eye, aber nicht nur in Berlin, sondern auch regelmäßig nahezu an alter Wirkungsstätte, im Pretty Vacant nämlich. Der deutsch-britischen Freundschaft wird diesmal u.a. mit einem Gastspiel der Band The Bacchae gehuldigt, die Popkultur tendiert halt gern Richtung London, dieser ehernen Festung westlicher Lebensart und Botschafterin von Beat, Rock’n’Roll und so in alle Welt. Düsseldorf-London – eine für viele hier recht prägende Achse.

„Was ist Heimat?“ noch bis zum 23. Februar.
„Aus dem Tagebuch meines Mannes“ am Freitag um 20 Uhr.
„TV Eye Labelfest“ u.a. am Freitag ab 22 Uhr.

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Petition gegen Nacktscanner vor dem Scheitern

nacktscannerDie Online-Petition gegen den Einsatz von Nacktscannern in Deutschland droht zu scheitern. Nur knapp eine Woche vor Ende der Zeichnungsfrist haben erst rund 16.000 Menschen die entsprechende Liste des Bundestages unterzeichnet, und so den Petitionsausschuss aufgefordert, elektronische Entkleidungsgeräte an Flughäfen zu verbieten. Damit die Diskussion den Bundestag auch erreicht, müssen aber bis zum 23. Februar mindestens 50.000 Menschen die Petition unterschreiben.

Die Liste wurde von Norbert Hense aufgesetzt. Der Mann ist für die Piratenpartei unterwegs. Aber auch das sollte nicht stören, die Petition mit zu unterschreiben. Meiner Ansicht nach verletzten die Nacktscanner die Würde des Menschen.

Einfach so – ohne Verdacht – Leute auszuziehen, kann nicht OK sein. Ich finde, wir dürfen nicht für einen totalitären Sicherheitsbegriff unsere letzten Intimsphären offenbaren. Hier ein längerer Text zum Thema: „Unsere Würde ist antastbar“

Ich fände es gut, wenn noch Leute bei der Online-Petition unterschreiben.

Dazu muss man sich zwar beim Bundestag registrieren. Aber das sollte in diesem Fall Ok sein.

Wenn die Petition durchkommt, hat ihr Anliegen durchaus Aussicht auf Erfolg. Denn die FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist mit kritischen Kommentaren zum Nacktscanner aufgefallen. Sollte sie Unterstützung im Netz finden, wird sie ihren Kurs gegen diese Intimscanner sicher beibehalten. Der Einsatz der Würdebrecher dürfte dann fraglich sein.

Wenn allerdings die Unterzeichnergeschwindigkeit nicht erhöht werden kann, ist das Scheitern der Petition absehbar. Dies würde den Rechtspolitikern signalisieren, dass nur Querulanten etwas gegen den Einsatz von elektronischen Nacktmacher haben.

Vielleicht ist das ja sogar so. Festzustellen ist jedenfalls, dass bislang viel zu wenig Menschen die Petition unterzeichnet haben. Das bedeutet, die Nacktscanner gehen den meisten wohl am Arsch vorbei.

Der Text der Petition lautet:

Der Deutsche Bundestag möge sich dafür aussprechen keine Ganzkörperscanner (auch Nacktscanner genannt) an deutschen Flughäfen zuzulassen.

Begründung:

Der Einsatz von Nacktscanner ist ein tiefer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Flugreisenden und ein Angriff auf die Menschenwürde die durch Artikel 1 des Grundgesetzes besonders geschützt ist.

Wer mitzeichnen will, muss hier klicken.

Eine Diskussion der Petition gibt es auch auf der Webseite des Bundestages.

Netzpolitik unterstützt ebenfalls die Petition.

Und Fefe hat einen schöne Stelle gefunden, an der ein Physiker erklärt, wie man den Nacktscanner austrickst.

Bildnachweis: Transportation Security Administration / WikiMedia Commons

Ruhrpilot – Das Navigationssystem für das Ruhrgebiet


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Peter Sloterdijk im Interview – „Daniel Jonah Goldhagens Einwürfe zum Völkermord sollte man freundlich ignorieren“

sloterdijk3Ich treffe Peter Sloterdijk an einem eisigen Samstagmorgen am Dortmunder Hauptbahnhof. Während wir auf den ICE nach Berlin warten, betreten die Spieler von Hertha BSC unter lautstarken Schmähgesängen jugendlicher BVB-Fans den Bahnsteig und sehen ob dieser Erniedrigung aus wie geprügelte Hunde. Interessiert folgt der Philosoph des „Trainingsplans“ und der „menschlichen Höchstleistungen“ diesem Schauspiel. Nach einem Gespräch über den politischen Islam, Antisemitismus und Goebbels Klumpfuß steige ich in Bielefeld aus und fahre, bestückt mit den Samstagsausgaben der FAZ, SZ, WELT und BILD aus der ersten Klasse, mit der Regionalbahn zurück nach Dortmund.

Herr Sloterdijk, was halten Sie vom Vorschlag des amerikanischen Politologen Daniel Jonah Goldhagen, ein Kopfgeld in Millionenhöhe auf die Anführer von Völkermorden auszusetzen?

Goldhagen würde mit seinem moralistischen Interventionismus immensen Schaden anrichten, sollte er politisch ernst genommen werden – was Gott sei Dank nicht geschehen wird. Das Beste, was man mit solchen Einwürfen anfangen kann, ist sie freundlich zu ignorieren. Die unvermeidliche Konsequenz seines Vorschlags wäre die Entstehung einer internationalen Moralmafia, die sich die Rolle des jüngsten Gerichts auf Erden anmaßt.

Was wäre ein besser geeignetes Vorgehen, um Völkermorde zu verhindern?

Allgemein gilt, dass Völkermorde dort stattfinden, wo es zu viele junge Männer gibt, die um Positionen kämpfen und die im Stellengitter ihrer Gesellschaft keine Anschlüsse finden. Daher weichen sie in terroristische Karrieren aus. Goldhagen selbst ist von seinem Temperament her einem Offizier in einer Jungmännerbrigade zu vergleichen, der einen spektakulären Einsatzort und eine glänzende Karrierechance sucht. Im übrigen gilt: Die adäquate Antwort auf Völkermorde ist maßvolle Populationspolitik, das heißt die Zurückführung von gefährlichen Geburtenüberschüssen auf zivilisierte Maßstäbe. Es ist eine Tatsache, das Genozidphänomene in einer Kultur mit zwei Geburten und weniger pro Frau nicht auftreten. Das zeigt die Perspektive auf, die man wählen muss, um aus der Misere herauszufinden. Nach dem Rückzug der Israelis aus dem Libanon wurde ein erneuter blutiger Bürgerkrieg prognostiziert, der aber wegen der niedrigen Geburtenrate im Land nicht stattfand. Es war ganz einfach niemand da, um so einen Krieg zu führen. Bei einer Geburtenrate von unter zwei Kindern pro Frau gibt es nicht genügend junge Männer, um sich in langen Kriegen gegenseitig abzuschlachten: Jeder einzelne wird für die normale Reproduktion gebraucht – und so soll es sein. Kriege werden immer mit den Überschüssigen geführt.

Goldhagen vertritt die These, dass die gefährlichste genozidale Bewegung der Gegenwart der politische Islam sei, der eine totalitäre Vision hat, wie Gesellschaften regiert werden sollten. Zu ihr gehört die Eliminierung all jener, die diese Vision nicht akzeptieren.

Goldhagen gehört nicht zu den Autoren, die man zitieren muss, wenn es um eine Erklärung des politischen Islam geht. Es gibt eine Reihe von ausgewiesenen Orientalisten wie Gilles Kepel oder Olivier Roy, die hierüber gesagt haben, was zu sagen ist. Die hysteroiden Projekte im Islam, auf die sich Goldhagen bezieht, repräsentieren nur eine kleine Minderheit, die sich durch apokalptische Ideen verführen läßt. Im übrigen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Goldhagen schriebe vor allem für ein deutsches Publikum und spekuliere auf den Erfolg, den seine Thesen nur hierzulande haben können.

Wie Goldhagen beschäftigen auch Sie sich in Ihrem neuen Buch mit totalitären Systemen. Bei Ihrer Erklärung des Nationalsozialismus spielt der Begriff des Krüppelexistentialismus eine zentrale Rolle.

Der Existentialismus ist im wesentlichen eine Philosophie für Verlierer. Bei der Formulierung der von mir Trotzexistentialismus genannten Philosophie spielte die Selbsterfahrung des behinderten Menschen die entscheidende Rolle. Nietzsche war ein typischer Vertreter des Behindertenexistentialismus, nicht zuletzt aufgrund seiner damals unerkennbaren und unbehandelbaren chronischen Krankheit. Vor solchem Hintergrund haben sich Kompensationstheorien entwickelt, aus denen bis heute viele Menschen Kraft ziehen, wenn sie sich in einer schwierigen Lage befinden. In den 1920er Jahren stellte sich heraus, dass Trotzphilosophien dieses Typs leicht von politischen Protestbewegungen unterwandert werden können.

Der Nationalsozialismus als pervertierte Form des Existentialismus?

Ja. Der Nationalsozialismus hat seine Anhänger aus einem Feld rekrutiert, die Dostojewski die Erniedrigten und Beleidigten genannt hat, obschon die Betroffenen sich selber lieber in Bildern von Stolzen und Starken erkennen wollten. Unter eklatanter Abwandlung der trotzphilosophischen Doktrinen legte die nationalsozialistische Bewegung ihren Akzent auf Gesundheit und Vitalität – dabei waren die Behinderungen der Nazi-Führer mit Händen zu greifen. Goebbels wurde in der zeitgenössischen Literatur als exemplarischer Vertreter des „Deformationskrüppeltums“ präsentiert. Adolf Hitler wäre als psychologischer Krüppel zu charakterisieren gewesen, ein Mensch, der völlig beziehungsunfähig war und sich nur durch hysteroide Entladungen bei Reden vor großer Menge Befriedigung verschaffen konnte. Um von Göring als personifiziertem Sucht-Krüppel mit schwerer Adipositas-Komponente zu schweigen. Auf der Ebene des Führungspersonals ist leicht nachzuweisen, dass der Nationalsozialismus eine sich selbst verleugnende Behindertenbewegung war.

Sie haben sich im Rahmen Ihres Werkes intensiv mit jüdischen Denkern beschäftigt. Welche waren für Sie besonders prägend?

Um diese Frage richtig zu beantworten, müsste ich ein dickes Buch schreiben, denn meine Lektüre jüdischer Autoren und Philosophen ergibt einen Roman für sich. Ich habe im Alter von vierzehn Jahren begonnen, mir die Welt der Literatur und der Philosophie zu erschließen, darunter eine Fülle jüdischer Autoren. Ich habe ein altes und kompliziertes Verhältnis zu Adorno und ebenso lange und zerklüftete Beziehung zu Ernst Bloch. In jungen Jahren habe ich viel Husserl und Wittgenstein gelesen, ohne je daran zu denken, daß sie der Herkunft nach Juden waren. Und was sollte ich über Kafka und Hermann Broch sagen – eine Zeitlang war vor allem der letztere mein Held. Später kamen Autoren wie Emmanuel Levinas und Jacques Derrida ins Blickfeld – über letzteren habe ich in den letzten Jahren zwei kleine Bücher geschrieben.

Welchen Stellenwert hat für Sie der 1987 verstorbene Philosoph Jakob Taubes, mit dem Sie in Kontakt standen?

Auf der persönliche Ebene war er für mich von hoher Bedeutung, eine umstrittene und abgründige Person, überdies ein erbitterter Gegner von Gershom Scholem und einer der wenigen Denker, die mit existentiellem Ernst über den Preis des Messianisus und über die Rolle des Paulus in der spirituellen Weltgeschichte nachgedacht haben. Taubes war ein bekennender Apokalyptiker – er favorisierte die Idee, dass es mit dieser Welt nicht mehr lange so weitergehen kann. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Welt nach allem, was geschehen ist, noch immer ungeniert fortbesteht, erscheint einem der Glaube an die Möglichkeit eines baldigen Ende als Ausdruck eines unerschütterlichen religiösen Optimismus.

Nun ist der Antisemitismus bekanntermaßen nicht allein eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Haben Sie im Laufe Ihrer intellektuellen Karriere so etwas wie eine Theorie entwickelt, die den zeit- und kulturübergreifend existenten Judenhass zu erklären vermag?

Ich glaube, man erweist dem Wahnsystem des politischen Rassismus zu viel Ehre, wenn man seinen stupiden Grundbegriff „semitisch“ bzw. „antisemitisch“ blindlings weiterbenutzt. Um so wichtiger ist es, die anderen Formen der Feindschaft gegen Juden und Judentum unter die Lupe zu nehmen, die aus älteren Quellen stammen und sich aus diversen Gründen regeneriert haben. Mir scheint, man kommt auf diesem Gebiet voran, wenn man die Phänomene beachtet, die Yuri Slezkine in seinem Buch „Das jüdische Jahrhundert“ beschreibt. Ausgehend von der Geschichte des Milchmanns und seiner Töchter in dem Musical „Anatevka“ rekapituliert er das Epos des Judentums des 20. Jahrhunderts, das er das jüdische nennt, in einem großen Zeitgemälde, indem er zeigt, daß es Juden waren, die in entscheidenden Vorgängen des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle gespielt haben. Ob es die russische Revolution war oder die Schaffung der amerikanischen Unterhaltungsindustrie – häufig sah man jüdische intellektuelle Akteure an vorderster Front. Slezkine zeigt sehr suggestiv, wie die „merkuriale“ jüdische Existenz den modus vivendi der Bodenständigen chronisch irritierte.

Das Interview erschien auch in der Wochenzeitung “Jüdische Allgemeine”.

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RWE bekommt neuen Konzern-Betriebsrat

Foto: RWE-Holding / Flickr.com

Die Arbeitnehmer beim Energiekonzern RWE stellen sich neu auf. Wie die Ruhrbarone erfahren haben, wollen die Betriebsräte der zahlreichen RWE-Tochtergesellschaften einen Konzernbetriebsrat gründen. Dieser soll in Zukunft zentral die Belange der Angestellten und Arbeiter im RWE vertreten. Das besondere daran?

Bislang gab es beim RWE nur eine so genannte Arge. Das war die Arbeitsgemeinschaft der RWE-Betriebsräte. Die Arge hatte kaum strukturierte Macht, sondern war mehr ein Ausgleichsorgan. Die wirkliche Macht der Arbeiter lag in den Betriebsräten der beiden wichtigsten Zwischenholdings. Also im Betriebsrat der RWE Energie oder bei RWE Power. Doch mit dem Umbau der RWE AG und der Auflösung der RWE Energie unter Vorstandschef Jürgen Großmann verschoben sich die Gewichte. Nun wollen die Arbeitnehmer mit einer neuen eigenen Struktur diesen Wandel nachvollziehen.

Nach Informationen der Ruhrbarone soll Uwe Tigges im April den bisherigen Chef der Arbeitnehmer beim RWE Günter Reppien ablösen und damit erster Vorsitzender des ersten RWE Gesamtbetriebsrates werden. Tigges firmiert als Gesamtbetriebsratschef der RWE Vertrieb AG, der früheren Westfalen-Weser-Ems. Reppien war bislang Chef des Gesamtbetriebsrates von RWE Power, der Kraftwerkstochter des Konzerns.

Auch Reppien soll nach seinem Ausscheiden dem RWE erhalten bleiben. Wie es heißt, soll er seinen Platz im Aufsichtsrat der RWE Holding zunächst für einige Monate behalten, bevor er in Rente geht. Kurioserweise hat die Arbeitnehmerbank mit Reppien derzeit im RWE Aufsichtsrat sogar die Mehrheit, da nach dem Rücktritt von Thomas Fischer Ende Januar ein Platz der Arbeitgeberbank vakant ist. Er wird erst auf der kommenden Hauptversammlung neu besetzt.

Für den gesamten RWE-Konzern wird die neue Struktur der Arbeitnehmervertretung keine besonders große Sache werden, nehme ich an. Es werden lediglich die Entwicklungen der letzten Jahre nachvollzogen. Spannend könnte das Ganze höchstens für RWE Power werden. Denn dieser Konzernbereich wird geschwächt, wenn die Arbeitnehmervertreter sich eher an dem Gesamtbetriebsrat orientieren. Zudem verlässt mit Reppien der führende Vertreter von RWE Power eine Schaltzentrale der Macht. Damit nicht genug: Auch die IG BCE wird mit der Gründung des Gesamtbetriebsrates weiter geschwächt. Auch momentan ist die Gewerkschaft schon im RWE längst nicht mehr so stark wie früher. Die entscheidende Rolle spielt Verdi. Wenn jetzt noch der Betriebsrates von RWE Power, in dem die IG BCE noch stark ist, zurückstecken muss, wird die Position der Bergarbeitergewerkschaft weiter marginalisiert.

Dies kann langfristig bedeutsam sein, wenn mal daran gedacht werden sollte, RWE Power wie RWE Energie aufzulösen. Schon jetzt wurden mit dem Teilkonzern RWE Technology bedeutende Teile aus der Kraftwerkstochter herausgelöst.

Vom Personal her muss sich wohl kein Arbeitnehmervertreter Sorgen bei der Besetzung des ersten Gesamtbetriebsrates beim RWE haben. Wie ich höre, wird das Gremium zunächst riesig, um alle Ansprüche auf Posten zu befriedigen. Erst nach und nach, soll der Gesamtbetriebsrat auf eine normale Größe verkleinert werden.