Seit Monaten wird bei uns immer wieder über Waldorfpädagogik und Anthroposophie gestritten. Unser Gastautor Valentin Hacken ist Vorstand der WaldorfSV, der bundesweiten Schülervertretung der Waldorfschulen, Schüler der Freien Waldorfschule Offenburg und widerspricht in seinem Beitrag denThesen unseres Stamm-Gastautors Andreas Lichte.
Rudolf Steiner hat mit der Entwicklung der Anthroposophie und den daraus entstandenen Bewegungen in Wirtschaft, Kunst, Medizin, Pädagogik, Landwirtschaft und Forschung erstaunliches angestoßen. Nach knapp hundert Jahren sind viele Ansätze immer noch bemerkenswert aktuell, sind zeitlos, während andere als Kind ihrer Zeit heute keine Berechtigung, keinen Sinn mehr haben.
Die Waldorfschulbewegung verantwortet also einen Teil des „anthroposophischen Erbes“, den Teil, welcher die ersten Entwicklungen der Waldorfpädagogik enthält. Der allgemeine Diskurs über die Anthroposophie oder Steiner ist an den Waldorfschulen falsch aufgehoben, genauso wie bei den biologisch-dynamischen Landwirten oder den Eurythmisten, der Diskurs über Anthroposophie ist am besten bei genuin anthroposophischen Einrichtungen, etwa der Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung oder der Anthroposophischen Gesellschaft verortet.
Die Auseinandersetzung mit Rudolf Steiner ist allein schon wegen der Ausmaße seiner Gesamtausgabe, über 300 Bände, keine einfache Aufgabe. Um sich dabei nicht auf querlesende Kritiker oder interne Untersuchungen verlassen zu müssen, beauftragte die Anthroposophische Gesellschaft in den Niederlanden eine Kommission unter Leitung des international renommierten Menschenrechtsanwalts Th. A. van Baarda mit der Prüfung der Rassismusvorwürfe. Quantitativ handelt es sich in über 89.000 Seiten um 67 nach Bewertung der Kommission diskriminierende Aussagen. In der Analyse des Gesamtwerkes kam die Kommission zu der Ansicht, dass Rudolf Steiner definitiv keine rassistischen Ansichten vertrat; entsprechende Äußerungen Steiners gibt es zur genüge.
Die Freien Waldorfschulen haben mit der Stuttgarter Erklärung klargestellt, dass sie sich gegen jede Form von Rassismus und Nationalismus stellen, auch in dem Bewusstsein, dass heute Passagen aus Steiners Werk dem nicht mehr entsprechen. Damit ist die Forderung, die Waldorfschulen sollten sich von Rassismus in Steiners Werk lossagen, haltlos.
Herrn Lichtes Kniefall vor einzelnen Personen wie etwa Herrn Ravagli, den er zum „Chefideologen“ stilisiert, will ich mich nicht anschließen. Ich erlebe als Vorstand der WaldorfSV einen kritischen, offenen Dialog der gerade davon lebt, ohne Chefideologen auszukommen. Dabei sind auch neue Entwicklungen wie etwa die Waldorflehrerausbildung in Witten-Annen oder die Ansätze Rüdiger Iwans zu nennen.
In der Waldorfschulbewegung vollzieht sich derzeit ein spannender Prozess, die Waldorfschulen können bald auf hundert Jahre Geschichte und Tradition blicken, von der Gründung der ersten Schule, Schließung durch die Nationalsozialisten, Neugründung und weltweite Expansion. Wer sich in der Waldorfbewegung auskennt, sieht die derzeitigen intensiven Bemühungen um eine Erneuerung der Pädagogik an Stellen, an denen Traditionen geistesgegenwärtiges Handeln ersetzt haben, um ein neues Greifen und Prüfen der pädagogischen Grundsätze, um eine erneuerte Waldorfschule, die ihren hundertsten Geburtstag ganz auf der Höhe der Zeit feiern kann.
Andreas Lichtes Behauptung, die wichtigste und einzige Qualifikation eines Waldorflehrers bestünde darin, Rudolf Steiner bedingungslos zu verehren ist Quatsch, der sich mit der Wirklichkeit der deutschen Waldorfschulen nicht deckt. Ich beobachte ein sich immer stärker kritisch differenzierendes Verhältnis gegenüber Steiner. Im Übrigen erstaunt es mich immer, außerhalb der Waldorfschule mehr über Steiner sprechen zu müssen als in der Waldorfschulbewegung, hier werden Debatten lieber über Pädagogik, Methodik und Umsetzung geführt.
Genauso wenig richtig ist die Behauptung, Eltern an Waldorfschulen würden nicht über den anthroposophischen Hintergrund der Schule informiert. Diese Information ist kein Geheimnis und in allen Publikationen zu finden, an den Schulen zudem Thema vieler Elternabende, allein schon unter dem Aspekt, dass Pädagogen in der Schule nichts ausrichten können, was nicht zuhause gelebt wird.
Um der Reihe der Richtigstellungen gleich einen weiteren Punkt anzufügen, nein, Anthroposophie wird an der Waldorfschule nicht unterrichtet. Diesen Vorwurf aus Heften zu konstruieren, welche zeigen, dass Waldorfschülern in den ersten Jahren Sagen und Mythen, aber auch das alte Testament erzählt werden ist reichlich unoriginell.
Dass sich die Prüfungen für Waldorfschüler in einigen Bundesländern minimal von den Prüfungen der staatlichen Schulen unterscheiden ist richtig, von einem einfacheren „Lex Waldorf“ zu sprechen hingegen falsch. In Bundesländern mit Zentralabitur legen dies auch die Waldorfschüler ab. Teils werden einige Inhalte, z.B. in den Realschulprüfungen dem Lehrplan der Waldorfschule auf einem gleich komplexen Level angepasst, hierüber wachen die zuständigen Ministerien.
Doch Herr Lichte unterstellt den Waldorfeltern nicht nur, ihre Kinder durch einfachere Prüfungen zu schicken, sie seien vor allem hinter dem „Vorteil“ der „ausländerfreien Zone“ her. Davon abgesehen, dass eine „ausländerfreie Zone“ nicht nur als Wort ein Anschlag ist, ist sie selbstverständlich kein Vorteil. Es ist, mit Verlaub, auch albern einer internationalen Schulbewegung mit solchen Argumenten zu kommen. Die Waldorfschulen mühen sich aktiv auch verstärkt pädagogisch wirksame Angebote für Kinder mit Migrationshintergrund zu finden, ein Beispiel hierfür ist die interkulturelle Waldorfschule Mannheim.
Wo es an Fakten fehlt scheint auch das Erfinden offenbar nicht weit, der Spruch den Herr Lichte „den Waldorfschülern“ in den Mund legt, „Und reicht es nicht zum Straßenkehrer werd ich eben Waldorflehrer“ begegnet mir hier das erste mal, vermutlich wird er von der gesamten Schülerschaft vor dem Bundesschülerrat geheim gehalten.
Einen anderen Spruch, wenn auch nicht sehr vornehm, teilen sich Waldorfschüler und Schüler aller anderen Schulen, „Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Klappe halten!“
Wenn ich mich recht erinnere war es eine Sequenz des Films „Wie gut sind Waldorfschulen wirklich“ in dem eine Mutter berichtete, sie sei ganz entsetzt gewesen, was mit ihrem Kind geschieht, sie dachte das wäre eine „normale Schule“ nur mit ein bisschen Tanzen zusätzlich. Die Waldorfschulen wecken als stark idealistische, andersartige (doch gleichwertige) Einrichtungen immense Erwartungen welche in Mischung mit Unkenntnis erhebliche Falltiefe an Enttäuschung und Wut erzeugen können. Dem gilt es mit stärkerer Kommunikation pädagogischer Konzepte, aber auch mehr Verantwortung auf Seiten der Eltern entgegen zu wirken.
Als Schüler und Vorstand der WaldorfSV – Bundesschülerrat der Freien Waldorfschulen erwarte ich einen verantwortungsvollen Dialog zu Bildungsfragen mit fachkundigen Beteiligten. Bildungsfragen sind Freiheitsfragen, Waldorfpädagogik im Dialog mit den Erziehungswissenschaften ist für mich ein wichtiger Beitrag zu einer menschenwürdigen Pädagogik welche die Person mit all ihren Ebenen wahrnimmt.
Andreas Lichte disqualifiziert sich mit seinen Argumentationen, welche keiner Korrektur in einem Deutschunterricht standhalten würden für diese zukunftswichtige Aufgabe selbst.