Vor zehn Jahren ungefähr stand ich auf einem Dach in Berlin Prenzlauer Berg. Es war der erste Januar des neuen Jahrtausend. Wenige Minuten nach null Uhr. Es war nebelig, kalt und glatt. Raketen zischten in den Himmel – zu sehen war fast nichts. Der Nebel wurde dichter. Nur hier und da hörte ich die verhaltenen Detonationen der Böller. Selbst unten am Brandenburger Tor soll nichts zu sehen gewesen sein, schon gar nichts von der angekündigten Lichterschau. Später hieß es, das war wohl ein seltener Wettereffekt.
Foto. flickr.com / slipper buddha
Zehn Jahre sind jetzt um. Ich bin fast vierzig. Ich habe zwei Kinder, eine Frau. In meinem Beruf konnte ich mich durchsetzen, darüber bin ich froh. Damals, ich kann mich gut erinnern, war ich gespannt, was das neue Jahrtausend bringt. Als Kind in den Achtzigern habe ich immer gedacht, im Jahr 2000 wird alles gut. Wenn ich nur so alt werde, das zu erleben, werde ich in einem Sessel sitzen und meinen Enkeln erzählen, was wir damals für ein Elend hatten. Manchmal kam ich mir selbst vor, als würde ich auf einer Rakete in die Zukunft geschossen.
2001 im September habe ich beim Time Magazin gearbeitet. Es war ein schöner Spätsommer in New York. Bis die Flugzeuge in den Türmen explodierten. Ich habe den Brand damals über den Hudson ziehen sehen, weit über Long Island hinaus, bis auf den Atlantik und weiter. Ein Mann stand da neben mir, während wir auf herabregnende Akten in der Wall Street blickten. Er sagte mir, bald werde ein Staat von der Landkarte verschwinden. Welcher war damals fast egal. Die New Yorker Boulevard-Blätter titelten: „WAR“ Und genau das war das Gefühl. Und genau das war die Botschaft in das neue Jahrzehnt.
Ich war am "Ground Zero" damals. In dichten Stößen stieß da der Rauch aus den Spalten. Es stank erbärmlich nach brennendem Plastik. Ich bin eine ganze Woche unterwegs gewesen. Ein paar Hush-Puppy-Schuhe hab ich in der City kaputt gelaufen. Meine Haut war seltsam gerötet, ich konnte nur schwer durch die Nase atmen. Eine Bekannte sagte, das komme vom Trümmerdreck in Manhattan. Ich hatte keine Staubmaske auf.
Tausende Menschen wurden vermisst. Wenige hundert Tote wurden geborgen. Eine Freundin sagte, der Rest sei zu Asche verbrannt. Die Temperatur in den brennenden Twin Towers seien größer gewesen als in einem Krematorium.
Ich krame in meinen Notizbüchern. Immer wieder habe ich mir Namen notiert, die auf den Flugblättern in der ganzen Stadt hingen. Hinter jeden Namen habe ich die Etage geschrieben, in der das Opfer gearbeitet hat. Nie die Telefonnummer des Suchenden. Ein paar Flugblätter sehe ich immer noch vor Augen. Wie das von Dr. Sneha Ann Phillip, 106. Etage. Es klebte einsam an einem Laternenpfahl an der Ecke Broadway und 50. Straße. Auf dem Flugblatt sind vier Fotos, drei farbige, eines in Schwarzweiß. Unter den Fotos ist ein Steckbrief abgedruckt. Augen: braun. Haare: schwarz. Hautfarbe: oliv. Ron Lieberman bittet um Rückruf, falls jemand Frau Phillip gesehen hat.
Auf den Fotos lächelt Sneha Ann. Sie spielt mit einer getigerten Katze. Ein anderes ist vor uralten Säulen aufgenommen, ein feines Relief ist zu erkennen. Sneha Ann schaut direkt in die Kamera – als suche sie die Person dahinter. Auf dem Schwarzweißfoto sind ihre Augen weit geöffnet, die Lippen feucht. Der Kopf ist vorgeneigt, eine Locke hängt ihr ins Gesicht. Es sieht so aus, als sei Sneha Ann verliebt.
Ich kann mich erinnern, wie mir die Erkenntnis kam. Es war später irgendwann, ich habe mir wieder an die Nase gefasst und versucht den Dreck rauszuniesen, der sich beim Brand am Ground Zero festgefressen hatte. Ich habe erkannt. Das war der Staub aus dem Krematorium der Türme. Ich hatte wohl Leichen geatmet.
Die Tage in New York haben mich verändert, sicher. Ich habe Angst davor gekriegt, dass der Krieg uns frisst. Ich habe heute Angst um meine Söhne, dass sie irgendwann in so einen Krieg ziehen müssen, der im Nebel stattfindet, über den Leute erzählen, es würden Tankwagen zerstört, wenn es darum geht, Menschen am lebendigen Leib zu verbrennen.
Das aber ist nicht alles, was das vergangene Jahrzehnt gebracht hat. Mit dem Krieg und meinen Kindern kam die Sorge um den Planeten zurück. Ich habe in den Achtzigern gegen Treibhausgase demonstriert. Damals ging es um die Mittel aus dem Spraydosen, ich war vielleicht fünfzehn oder so. In meinen zwanziger Jahren habe ich mir gedacht, was soll es, ich will Leben. Die Statistiken gingen mir zwar nicht aus dem Kopf, von den aussterbenden Arten, von den verbrannten Wäldern, von den vergifteten Flüssen. Ich habe nur gelernt, das alles zu ignorieren. Mehr nicht.
Nun aber habe ich es wieder gesehen. In den vergangenen Jahren. Die leeren Gletschertäler, in denen das Eis fehlt. Die ausgebrannten Hügel, auf denen Urwälder standen. Ich habe auch die dreckigen Flüssen gesehen und die toten Fische. Es ist alles eingetreten, vor dem ich als Kind Angst hatte.
Heute wird verhandelt über ein neues Klimaabkommen in Kopenhagen. Es wird wenig zurückholen, von dem was verloren ist. Vielleicht wird es im kommenden Jahrzehnt irgendetwas retten. Ich weiß es nicht.
Ich denke an eine Schneewiese, die ich als Kind gesehen habe. Frisches, glattes, kitschiges, reines Weiß. An meiner Grundschule. Es ist früher Morgen, ich bin der erste hier. Alles neu, Kristalle glänzen, wie Märchenfunkel. Ich will nicht weitergehen. Ich will nur sehen. Sekunden später werfen die anderen Bälle, sie jagen sich. Lachen. Irgendwo hinter meinem Rücken. Ich gehe ein paar Meter, schaue in die kahlen Bäume. Und das reine Weiß. Ich werfe mich auf den Boden und wedele mit meinen Armen und Beinen. Ich will ein Adler werden. Wenn ich aufstehe, kann ich den Adler auch tatsächlich sehen. Ich atme Raureif. Meine Nase ist kalt. Meine Backen glühen. Ich bin wohl glücklich.
Dann drehe ich mich um. Die Schneewiese ist verschwunden. Jetzt ist es grauer, verdreckter, steiniger Matsch. Kinderfüße, Erdbrocken. Ich kann mich an die Stiche in der Brust noch heute erinnern. An meine Tränen in der Nase. Etwas war im Spiel zerstört zu Bruch gegangen, das ich in wenigen Minuten so geliebt hatte.
Später gingen wir dann in die Klassen. Ich habe aufgehört zu flennen. Und stattdessen rechnen gelernt. Und schreiben.
Ich habe heute Hoffnung für das neue Jahrzehnt. Ich weiß nicht, wie es wird. Ich weiß nicht, was wird. Aber ich sehe, dass es Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Menschen gibt, die daran arbeiten, dass alles besser wird. Wir werden vor Problemen stehen, die unüberwindbar erscheinen. Es wird um reines Wasser gehen und um warme Häuser. Wir werden Angst haben, vor neuen Krankheiten und vor alten Feinden. Vielleicht werden viele Menschen sterben. Aber es wird immer einer überleben.
Aids können wir behandeln und manchmal sogar Krebs heilen. Es gibt Spülmaschinen und Elektroautos. Speicherkarten und das Internet. Sprachförderung und Kindergärten, Erdbeeren im Winter und Latte Machiatto.
Das Ende der Welt war niemals nahe. Es war manchmal hart und manchmal beschissen. Aber es ging immer weiter.
Vielleicht müssen wir mehr auf Gott vertrauen. Und darauf, dass die Menschen in der Not immer den richtigen Ausweg finden. Nicht für alle. Aber für die meisten. Ich denke mit meiner Frau gerade drüber nach, eine Wohnung zu kaufen. Als Altervorsorge. Riestern ist ja wohl nichts. Und irgendwas muss man ja tun.
Damals vor zehn Jahren in Berlin sind wir nach ein paar Stunden auf dem blinden Dach zurück in die Wohnung geklettert. Wir haben auch dort nicht in die Zukunft gesehen, selbst beim Bleigießen nicht. Aber wir hatten es warm und gemütlich. Ich meine wir haben Glühwein getrunken. Und Zigaretten geraucht. Scheiß drauf, wir waren noch jung. Jetzt werde ich alt. Das neue Jahrzehnt beginnt.