Der Dortmunder Rat hat heute die Wiederholung der Kommunalwahl beschlossen. Ob Rats- und Bezirksvertretungen neu gewählt werden, ist wegen der Klagemöglichkeiten der betroffenen Lokalpolitiker fraglich. Über den OB werden die Dortmunder im kommenden Jahr aber wohl abstimmen können.
Es ist kalt und der Wind fegt den Regen über den fast menschenleeren Friedensplatz vor dem Dortmunder Rathaus. Eine Frau hastet über den Platz Richtung Innenstadt, und vor dem Rathauseingang protestieren ein paar Mitglieder der Linkspartei. Die Dämmerung hat schon eingesetzt.
In der Innenhalle des Rathauses der einstigen Bier- und Stahlstadt, die mit ihrem Stil und ihrer Ausstattung nahtlos an das geschmacklose Äußere des Baus anschließt, haben sie Stühle und einen Fernseher aufgestellt. Die Ratssitzung wird live übertragen, denn die Plätze auf dem Zuschauerbalkon sind rar gesät und von den Anhängern der Parteien schon lange vor Beginn der Sitzung durch Mützen, Zeitungen und Handschuhe als besetzt markiert. Immerhin, es stimmt ja, was fast alle Redner später immer wieder betonen sollten: Dass heute ein historischer Tag ist, nicht nur für Dortmund, sondern auch für Deutschland. Und auch Rechtsgeschichte wird heute geschrieben, klar. Noch nie wurde in Deutschland in einer Großstadt die Kommunalwahlen wiederholt. Ok, Bad Homburg war einmal in einer ähnlichen Situation, aber die Bäder- und Bankerstadt am Taunushang mit Blick auf die Skyline Frankfurts ist im Vergleich zu Dortmund nicht mehr als ein Kaff, wenn auch ein verdammt reiches Kaff.
Aber nur eine Hand voll Bürger werden sich später auf den weißen Schalenstühlen niederlassen, um die Debatte zu verfolgen. Es ist bald Weihnachten und was ihnen ihre Politiker bescheren scheint kaum noch einen Dortmunder zu interessieren. Nebenan, auf dem Weihnachtsmarkt, warten 11.000 Fans auf Heino und lauschen den Nachmittag über den Stimmen der Barden Heintje und Patrick Lindner.
Die Ratssitzung beginnt mit Verspätung. Noch-Oberbürgermeister Ullrich Sierau eröffnet sie routiniert und locker. Ein SPD-Fraktionsmitglied ist Vater geworden. Sierau bedankt sich für den persönlichen Beitrag zur Verbesserung der demographischen Lage der Stadt und schenkt dem Papi ein Kuschelbärchen in einem blauen Schlafanzug. Dann gibt er die Leitung der Sitzung an seine Parteifreundin, die Bürgermeisterin Birgit Jörder, ab. Sierau gilt nach Gesetz als befangen. Auch an der Abstimmung später wird er nicht teilnehmen dürfen.
So ein Tag, denkt man sich, könnte zu einer Sternstunde des Rates werden. Vor allem für die SPD und ihren Fraktionsvorsitzenden Ernst Prüsse wäre der Tag eine Chance. Er könnte eine politische Rede halten. Prüsse könnte so etwas sagen wie: "Langemeyer hat die Bürger belogen, und wir haben davon profitiert, dass er das Haushaltsdesaster verschwiegen hat. Wir wollen keine Mandate, die auf Lügen beruhen und sind für Neuwahlen." Aber so etwas sagt Prüsse nicht. Prüsse erzählt was über das Schicksal der Kommunalpolitiker, über das der Rat heute entscheiden wird. Darüber, dass der SPD niemand einen Betrug am Bürger nachgewiesen hat und dass ein Gutachten kein Urteil ist, dass er am Beckmann-Gutachten, das die Neuwahl empfiehlt, zweifelt, und dass er sich dagegen verwahrt, den SPD-Gutachter Bätge als SPD-Gutachter betrachtet wird. Prüsse sagt, er werde nicht gegen die Neuwahlen klagen, weil seine Partei Neuwahlen will, aber er könne Ratsmitglieder verstehen, die klagen würden.
Später hat der Rat abgestimmt. Geheim – auf Antrag der SPD. 30 Ratsmitglieder haben gegen eine Wiederholung der Wahlen zum Rat gestimmt. Es gab zwei Enthaltungen. Die SPD hat 37 Mandate. Für Neuwahlen waren 62 Ratsleute. Den OB wollten 69 Ratsmitglieder neu wählen lassen, 24 waren dagegen, einer enthielt sich der Stimme.
Wenn man diese Zahlen sieht, bleibt von Prüsses Bekenntnis in Gegenwart von SPD-Parteichef Franz-Josef Drabig wenig übrig, auch die SPD-Fraktion sei für Neuwahlen, für einen frischen Anfang und Transparenz. Parteichef Drabig wollte die Neuwahlen auch für den Rat und mit ihm die Partei – aber Drabig selbst und seine SPD haben offensichtlich keine Vertretung im Rat der Stadt, die ihre Politik durchsetzt. Partei und Fraktion sind nicht gespalten, sie spielen ein doppeltes Spiel.
Hinter Sierau stellt er sich nur halbherzig. Das kann man ihm nicht verdenken. Dass er als Stadtdirektor nichts von den Lügen Langemeyers wusste, kann niemand glauben. Es gibt zu viele Beweise. Briefe und Aktennotizen zum Beispiel. Aber auch Sierau selbst. FDP-Frau Annette Littmann erinnert daran: "Im Wahlkampf präsentierte sich Sierau als Haushaltsexperte. "Wir machen jeden Tag Kassensturz", sagte er den Bürgern. Und Sierau will nichts gewusst haben von dem Loch in der Kasse in dreistelliger Millionenhöhe?" Die SPD befürchtet jetzt den Verlust ihrer Herzkammer." Doch Littmann tröstet die Genossen: "Es wird ihnen gut tun, eine Zeit lang in die Opposition zu gehen. Sie werden sehen, es kommen auch andere Zeiten." Der Dank der Sozialdemokraten wird eher mager ausfallen. Aller "Jetzt-erst-recht"-Rhetorik zum Trotz: Die SPD schaut in Dortmund in ein tiefes Loch und gegraben wurde es von Sozialdemokraten.
Und zwar nur von Sozialdemokraten, meint Grünen-Fraktionschef Mario Krüger. "Tarnen, tricksen und täuschen" das sei das System Langemeyers gewesen. Nun müsse der Bürger neu wählen.
Der CDU-Fraktionsvorsitzende Frank Hengstenberg erinnert die Grünen daran, dass sie in einer Koalition mit der SPD waren und zwei Dezernenten stellten. Er zweifelt daran, dass die Grünen nichts wussten und kritisiert, dass die Grünen alles, aber auch alles auf die SPD abschieben. Selbstkritik? Kennt Krüger nicht. Die CDU wird für Neuwahlen stimmen – ohne wenn und aber. Hengstenberg redet leise. Er wirft SPD un Grünen vor die Wahl mit Versprechen gewonnen zu haben, die nicht gehalten werden konnten.
Der Sprecher der Linken, Wolf Stammsitz, weist darauf hin, dass Skandale wie der in Dortmund das Vertrauen der Bürger in der Demokratie erschüttern und alle im Frühjahr die Quittung bekommen werden: Mit einer niedrigen Wahlbeteiligung.
Schon als Prüsse sprach, verspotteten ihn die Anhänger der Linkspartei als "Mister 18 Prozent", als den Totengräber der SPD. Sie sind siegesgewiss.
Ob im März wirklich in Dortmund gewählt wird? Der Oberbürgermeister sicher. Beim Rat und bei den Bezirksvertretungen kommt es darauf an, ob geklagt wird – und auf die Gerichte. Wird Sierau wieder Oberbürgermeister? Er hat keinen Amtsbonus, ist schwer beschädigt, hat mit Pohlmann aber keinen starken Gegenkandidaten. Aber Pohlmann ist sauber, war nicht im Rat, war kein Dezernent. Mit dem Haushaltsskandal hat er nichts zu tun. Die Frage ist: Werden die SPD-Wähler zur Wahl gehen? Die Frage ist: Warum sollten sie es?