Lorenzo Ravagli und der Glaubenskrieg der Anthroposophie gegen Helmut Zander. Von unserem Gastautor Andreas Lichte.
Lorenzo Ravagli Foto: Esowatch
Frühjahr 2009. Als Antwort auf Helmut Zanders preisgekröntes Standardwerk “Anthroposophie in Deutschland” erscheint Lorenzo Ravaglis Schmähschrift “Zanders Erzählungen”. Im Vorwort sagt Dr. Walter Kugler, Leiter des Rudolf Steiner Archivs in Dornach, Ravagli habe das Ziel gehabt, “zu retten, was noch zu retten ist” und dabei Mut bewiesen. Zum Beispiel so:
Ravagli beschuldigt Zander, dieser verfolge mit seiner publizistischen Tätigkeit zur Anthroposophie eine “verdeckte Agenda” [S. 24].
Ravagli stellt Zander als “Enthüllungsjournalisten marxistischer Orientierung” dar, der “trotz seiner katholischen Vergangenheit einem marxistisch inspirierten, historischen Materialismus verpflichtet ist” [S. 35].
Ravagli stellt klar, dass nicht etwa die Anthroposophie eine Sekte ist, sondern: „Zander als Eingeweihter einer trivialaufklärerischen Entmythologisierungtradition strebt wie alle Angehörigen von Wissenschaftssekten (sic!) danach, die Normativität seiner partikularen Rationalität zu universalisieren und alle Angehörigen abweichender Traditionen oder Diskursgemeinschaften als Ketzer zu stigmatisieren.“ [S. 372]
Möchte jemand versuchen, das zusammenzufassen? Wie wäre es damit: Helmut Zander – ein katholisch-marxistischer, materialistischer Verschörer der Sekte Wissenschaft gegen die Anthroposophie?
Solch mutige anthroposophische Charakterisierungen Zanders haben Tradition. Ein Blick zurück:
Sommer 2007. Nach Zanders Artikel “Jenseits von Steiners höherer Erkenntnis – Entmythologisiert die Anthroposophie!” kommt es im eigens eingerichteten Diskussionsforum der Stuttgarter Zeitung zu heftigsten Angriffen gegen Zander:
„Autor: didlda“ gibt dem Leser einen Crashkurs in moderner Spiritualität, weist auf „banalstes Allgemeinwissen“ hin, das – ausser Helmut Zander – „heute jeder weiss, damals auch“. So erfährt der Leser etwas über den Zusammenhang von Chakras und der Quantenphysik, „die heute weit in geistige Gebiete hineinreicht, die Steiner bereits vor 100 Jahren ganz klar nachvollziehbar benannt hat.“ Dankbar werden Heisenberg, Planck und Schrödinger in ihren nächsten Inkarnationen den Kollegen Steiner begrüßen!
Bei „didlda“ wird aus Zander „Zehnder“, der Zehn-Ender, der zum Abschuß freigegeben wird. Halali! Zanders Buch „Anthroposophie in Deutschland“ ist mit 1884 Seiten und 246,00 Euro Kaufpreis wahrlich ein kapitaler Hirsch, dem man mit großkalibrigen Waffen begegnen muss:
„Autor: Vater“ nimmt Zander so aufs Korn: „Ich finde die Herangehensweise von Herrn Zehnder höchst unsachlich und unwissenschaftlich.“ Lieber Leser, sagen Sie jetzt bitte nicht, dass sei aber ein glatter Fehlschuss. Es gibt andere Autoren, die für „Vater“ nachladen und nachladen:
„Autor: Dr. Jörg Ewertowski, Leiter der Rudolf Steiner Bibliothek in Stuttgart“ wirft Zander vor, er besässe keine „echte ergebnisoffene wissenschaftliche Fragehaltung“, sonst hätte Zander ja schon längst selber entdeckt, dass es nur EINE, Zitat Ewertowski, „Weisheit vom Menschen“ geben kann, nämlich die „Anthropo-Sophia“.
„Autor: frank schneider, theatron die bühne stuttgart“ verdächtigt den „katholischen Theologen Zander“, im Auftrage der Kirche Andersgläubige zu verfolgen. Zander versuche, „jahrhundertealte katholische Postulate zu zementieren,“ was „Autor: Lilli Kurz und Gerd Raisch“ mit Hinweis auf den aus anthroposophischer Sicht größten Sündenfall der Kirche bestätigt: „Es scheint Herrn Zander als Historiker entgangen zu sein, dass die katholische Kirche beim Konzil in Konstantinopel im 9. Jahrhundert den Geist abgeschafft hat.“
Zander, der als Katholik offensichtlich nicht im Vollbesitz des Geistes ist, wird von „Autor: Dieter Knellessen“ bescheinigt, dass er spirituell-esoterische Sachverhalte entweder nicht kenne, oder aber ihnen nicht sachgerecht, statt dessen mit materialistischen Methoden begegne.
Gerade noch fundamentalistischer Katholik, wird Zander also als Anhänger der „materialistischen Weltsicht“ entlarvt, die laut „Autor: Hans Bohnstengel“ „uns im Ergebnis zwei verheerende Weltkriege, die wachsende Umweltzerstörung und den immer deutlicher sich abzeichnenden vom Menschen bewirkten Klimawandel bescherte.“ Böse, böser, Materialismus. Hier macht sich die anthroposophische Doppelbesetzung des Bösen bemerkbar: Es muss für beide Hauptdarsteller – „Lucifer“ UND „Ahriman“ – genug zu tun sein … und Ahrimans anthroposophische Paraderolle ist nun einmal der Materialismus.
„Autor: Wolfgang Dengler“ ergänzt: „Herrn Zander ist [es] offenbar ein Dorn im Auge, wenn jemand die Entwicklung aus der geistigen Welt heraus erklärt. Er will offenbar nur das sinnliche Geschehen als solches gelten lassen.“ Sehbehindert fällt Zander die Hellseherei als „geisteswissenschaftliche“, d.h. anthroposophische Standardmethode naturgemäß schwer, so dass Zander Dengler wohl einfach glauben muss, wenn dieser erklärt: „Nichts ist lebenssinn- und lebenskraftgebender als das Weltbild der Anthroposophie, das die Errungenschaften der Naturwissenschaft auf sinnlichem Gebiet voll anerkennt. Die Veränderung eines Weltbildes benötigt eben Jahrhunderte und erzeugt heftigste Widerstände, wie dies bei dem kopernikanischen Weltbild auch geschah.“
Steiner, der Kopernikus des 21igsten Jahrhunderts …
Stolz ist man vor allem auf die „anhaltenden Erfolge anthroposophischer Lebenspraxis“, die man sich nicht kleinreden lassen will. Vielleicht sieht Zander hier tatsächlich nicht den kreativen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Impuls des neuen Weltbildes, hätte es sich denn erst einmal durchgesetzt. Man stelle sich vor …
Nach gescheitertem Verkaufsgespräch kehrt der Handlungsreisende Willi Lohmann auf sein Hotelzimmer zurück und sucht Trost in der Bibel. Es folgt der übliche Griff in die Schublade des Nachtschränkchens … Halt! Es gab inzwischen die anthroposophische Zeitenwende: Willi Lohmann findet nun Erbauung in der Mini-Bibliothek, die im anthroposophischen „5ten nachatlantischen Zeitalter“ zur Standard-Ausstattung jedes Hotelzimmers gehört. Wobei „Mini“ vom Understatement des Hoteliers zeugt, gilt es doch, 354 Bände der Rudolf Steiner Gesamtausgabe unterzubringen.
Welch neue, grossartige Perspektiven bieten sich hier dem Architekten! Berücksichtigt man auch noch die Gestaltungsvorgaben Steiners, freut sich auch noch die Beton-Industrie:
Jubeln wird der Innenminister: Deutschland und die Welt sind gewappnet für den Kampf gegen den Terror, oder wie es Steiner sagt: „(…) es werden aus der gesamten Masse der Menschheit sich überall diejenigen herausrekrutieren, die reif sind, die gute, die edle, die schöne Seite der nächsten Kultur nach dem Kriege aller gegen alle zu bilden.“
Weitere praktische Konsequenzen für die zukünftige anthroposophische „Menschheitsentwickelung“ kann jeder, der Zitat „Autor: Holger Böttcher“, über die „geeignete Schulung“ verfügt, in Steiners „Akasha-Chronik“ nachlesen. „Autor: Dr. Jörg Ewertowski“, Leiter der Rudolf Steiner Bibliothek in Stuttgart, wird bei der Entschlüsselung des „Äthers“ – „Akasha“, Sanskrit – gerne behilflich sein, ist er sich doch sicher, „dass wir alle die Wahrheit erfahren werden“, sei Steiner doch „rational und vernünftig“.
Aber warum in die Ferne schweifen, wenn das Glück so nahe liegt? Schliesslich haben wir sie ja schon, die Waldorfschule, wo man „Autor: Heike S. Mayer“ „voll und ganz zufrieden ist“. Und profitiert. Heike S. Mayer: „Ich werde gerne zu Lesungen eingeladen, weil ich das so routiniert machen würde. Nur selten hätte man so gute Leser gehabt.“
Gratulation Frau Mayer! Waldorfschüler sind eben „in der Regel intelligent, kreativ und integrativ und haben ein gesundes Selbstbewusstsein“, so „Autor: Hanna Kowatsch – Ehemalige Waldorfschülerin“.
Hat man sich erst einmal selbst – oder die eigenen Kinder – ins rechte Licht gerückt, lobt man auch gerne noch Steiners Waldorfschule. Und gesellt sich als „Nur“-Waldorfeltern und -Schüler zu den eigentlichen Steiner-Anhängern. Sie lobpreisen ihren „Menschheitsführer“ in den höchsten Tönen, fast hat man den Eindruck, es handele sich um ein „O beate et benedicte et gloriose Rudolphe“, vorgetragen vom Chor der Kastraten der Päpstlichen Kapelle.
Wer nun meint, „Kastrat“ sei doch eine äusserst ungehörige Beleidigung des Anthroposophen, kennt Steiner nicht. Zum Beweis sei hier ein längeres Steiner-Zitat erlaubt, vorgetragen von „Autor: fast-Waldorfvater“:
“Ursprünglich war auch der Mensch ein ätherisches Wesen von pflanzlicher Substanz. Damals hatte der Mensch diejenige stoffliche Natur, welche heute die Pflanze noch besitzt. Hätte der Mensch nicht die pflanzliche Substanz zum Fleisch umgewandelt, so wäre er keusch und rein geblieben wie die Pflanze. (…)
Die Fortpflanzungsorgane haben am längsten ihren pflanzlichen Charakter bewahrt. Alte Sagen und Mythen berichten uns noch von Hermaphroditen (…).
Manche glauben, das Feigenblatt, das die ersten Menschen im Paradies gehabt haben, sei ein Ausdruck der Scham. Nein, in dieser Erzählung hat sich die Erinnerung daran bewahrt, daß die Menschen an Stelle der fleischlichen Fortpflanzungsorgane solche pflanzlicher Natur gehabt haben (…).
Der Mensch wird nicht auf seiner jetzigen Stufe stehenbleiben. Wie er von der reinen Keuschheit der Pflanze in die Sinnlichkeit der Begierdenwelt hinabgestiegen ist, so wird er aus dieser wieder heraufsteigen mit reiner geläuterter Substanz zum keuschen Zustande.”
Na, ist doch schön, wenn man klare Ziele hat! Wenn man als Anthroposoph endlich die ach so lästige Sexualität los wird.
Ziele hat auch Andreas Molau: er möchte eine NPD-Waldorfschule gründen. Molau war von 1996 bis 2004 Waldorflehrer in Braunschweig, „Autor: harry“ läßt Molau selber berichten, zitiert von der NPD-homepage: „Ich unterrichtete die Fächer Deutsch, Geschichte, Musik und Politik und war auch Klassenlehrer im Grundschulbereich. Nachdem meine Zusammenarbeit mit der nationaldemokratischen Zeitung „Deutsche Stimme“ bekannt wurde, folgte die Kündigung (…).“
„Warum nicht früher?“, fragt man sich. Molau war vor seiner Waldorf-Karriere publizistisch tätig, machte aus seiner Gesinnung nie ein Hehl: Seine Staatsexamensarbeit über Alfred Rosenberg wurde 1993 bei dem extrem rechten Verlag Siegfried Bublies veröffentlicht. Während seines Studiums arbeitete Molau als verantwortlicher Kulturredakteur bei der Jungen Freiheit, die er u.a. aufgrund fehlender Distanz zu Positionen von Holocaustleugnern 1994 verlassen mußte. Daraufhin war er verantwortlicher Redakteur bei der Zeitschrift Deutsche Geschichte des mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilten Verlegers Gert Sudholt.
Dann schwieg er und wurde Waldorflehrer. Verstummte er wirklich? Was unterrichtete er beispielsweise in Geschichte und Politik? Die Antwort kennt nur Molau, der Rudolf Steiner und der Waldorfpädagogik sein größtes Lob ausspricht: „Steiner hat stets völkisch argumentiert. So betont er nicht umsonst die Differenzen von Rassen und Völkern. Die ganze Waldorfschulpädagogik ist von dem Begriff der ‘Geliebten Autorität’, über den Gemeinschaftsaspekt in großen Klassen, die Behandlung der Völkerfrage in der Mittelstufe, die der Nibelungen und des Faust in der Oberstufe eine gute deutsche Sache.“
Wäre Molau nicht DER Fall für die „interne Konferenz“ der Waldorfschule Braunschweig gewesen? „Autor: Thekla Walker, Bund der Freien Waldorfschulen“ erklärt uns: „Zander spricht von ‘interner Machtausübung’. Die Organe und Gremien der Waldorfschulen sind aber transparent organisiert. Die ‘interne Konferenz’ ist ein kollegiales Selbstverwaltungsorgan, das aus der Lehrerkonferenz gebildet wird und die Funktion der Schulleitung ausübt.“ Man stelle sich vor …
Molau wird in der „internen Konferenz“ befragt:
„Herr Molau – meinen Sie ‘Volksgeist’ oder ‘Volksgeist’?“
„Natürlich ‘Volksgeist’!“
Und um letzte Zweifel zu beseitigen, bringt Molau ein geflügeltes Steiner-Wort: „Soll Goethe die gleichen Bedingungen haben wie ein beliebiger Hottentotte?“
„Goethe“! – was will man mehr! Jetzt steht es fest: Molau ist Anthroposoph und ohnehin ein überaus geschätzter Kollege …
Sollte man hier einen Zusammenhang mit der Wortmeldung von „Autor: info3“ sehen? Zitat: „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien untersucht derzeit, ob sie Schriften des Reformpädagogen Rudolf Steiner auf den Index setzt. Es geht dabei um zwei Vortragsreihen aus den Jahren 1908 und 1910, in denen Steiner die Menschenrassen bezüglich ihrer Hautfarbe und ihres Standes in der Menschheitsentwicklung darstellt. ‘Es gibt zweifelsohne rassistische Motive in Steiners Denken’, sagt der Historiker Helmut Zander. ‘Beispielsweise, wenn er von «passiven Negerseelen» oder «degenerierten Völkern» redet (…).’ Das Bundesfamilienministerium hatte zwei Bände aus Steiners Gesamtwerk zur Prüfung vorgelegt. Eine Entscheidung der Bundesprüfstelle wird für den 6. September 2007 erwartet.“
All das lässt den Anthroposophen natürlich völlig unbeeindruckt. Wie sagt „Autor: Dr. Jörg Ewertowski“: „Warum schmeckt denn die Demeter Tomate so gut? Weil die Präparate, die Rudolf Steiner aus seinen Erkenntnisquellen heraus entwickelt hat, eben wirken!“
Und keinesfalls, weil, wie „Autor: AnhroPa“ unterstellt, „Reichsführer SS Heinrich Himmler die biologisch-dynamische Landwirtschaft in den Konzentrations- und Vernichtungslagern anbauen ließ.“
Der Text erschien ursprünglich auf dem BrightsBlog