„Zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn?

Knapp einen Monat, bevor das Kulturhauptstadt-Jahr 2010 beginnt, wird am 5. Dezember 2009 auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen-Stoppenberg das Ruhr Museum eröffnet. 7.000 Exponate warten dann – verteilt auf drei Ebenen – auf die Besucher. 1.000 von ihnen sind Leihgaben aus anderen Museen des Reviers.

Dass das Ruhr Museum das große Heimatmuseum des Ruhrgebiets wird, hört sein Direktor Prof. Dr. Ulrich Borsdorf nicht gerne: „Heimatmuseum klingt mir zu betulich. Wir wollen kein Museum sein, das unkritisch die eigene Heimat feiert, auch wenn das Ruhrgebiet die Heimat des Museums ist. Wir haben uns dafür entschieden, es als Regionalmuseum neuen Typs zu bezeichnen, denn das Ruhr Museum zeigt nicht nur eine große Anzahl an Exponaten, sondern hat auch unter museologischen Gesichtspunkten ein innovatives Konzept.“

Und das geht über das Konzept des Vorgänger-Museums, des ebenfalls vom Historiker Borsdorf geleiteten Essener Ruhrlandmuseums, hinaus, auch wenn es Ähnlichkeiten in den Konzepten gibt: „Wir haben auch im Ruhrlandmuseum versucht, menschliche Kultur-und Naturgeschichte in Bezug zueinander zu setzen. Was dort aber nur in Ansätzen zu erkennen war, werden wir im neuen Haus konsequent umsetzen können.“

Perspektiven Das neue Konzept wurde gemeinsam mit zahlreichen Historikern und Kulturwissenschaftlern auf Konferenzen und Symposien diskutiert und erarbeitet. Borsdorf: „Wir präsentieren die Mythen, Bilder und Phänomene des Ruhrgebiets, die ungeheuren Dimensionen der Erdgeschichte, die lange Geschichte der Industrialisierung ebenso wie deren Folgen und zukünftigen Perspektiven in einem einzigen Museum. Das hat es noch nicht gegeben, aber wenn man die Geschichte des Ruhrgebiets erzählen will, kommt man darum gar nicht herum. Ohne die Kohle, die ihre Ursprünge in der Karbonzeit hatte, hätte es das Ruhrgebiet nie gegeben.“
Trotz der Vielzahl des Exponate wird die Ausstellung Lücken aufweisen: „Es gibt Phasen in der Geschichte des Ruhrgebiets, von denen es außer ein paar Fotos und Zeitungsartikeln wenig gibt, was man zeigen und berühren kann. Der Ruhrkampf oder Phasen in den 20er Jahren, was sehr bedauerlich ist, weil sich erst in dieser Zeit ein Bewusstsein dafür entwickelt hat, dass hier etwas Neues, in seiner Dimension Einzigartiges entstanden ist.“

Gedächtnis
Über drei Ebenen erstreckt sich das Ruhr Museum – und man betritt es in der Gegenwart des Ruhrgebiets: „Die erste Ebene widmet sich dem kommunikativen Gedächtnis der Menschen. Was hier zu sehen ist, kann immer noch von Zeitzeugen erklärt werden.“
Es sind die letzten 90 Jahre, die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – hier werden Phänomene des Ruhrgebiets gezeigt, die jeder, der hier lebt, gut kennt. Es geht um die Buden des Ruhrgebiets, die vom Verkauf von Klümpchen, Bier und Kippen leben und denen es wohl aufgrund liberalisierter Ladenschluss-Zeiten in letzter Zeit an Käufern mangelt.
Hier finden sich Exponate aus den Arbeitersiedlungen des Reviers, die nach wie vor die Architektur des Ruhrgebiets in weiten Teilen prägen, aber auch Darstellungen der unterschiedlichen geologischen Zonen der Region. Und natürlich die Industrie-Architektur und
die Versuche, sie mit neuen Inhalten zu füllen – Zollverein selbst ist hierfür in seiner Ambivalenz als öffentlich geförderte Kulturstädte ohne ernsthafte privatwirtschaftliche Perspektive natürlich ein gutes Beispiel.

Moderne
Die zweite Ebene ist dem kulturellen Gedächtnis vorbehalten: „Hier sehen wir die Geschichte des Ruhrgebiets vor dem Ersten Weltkrieg – und vor allem aus der Zeit vor der Industrialisierung.
Die Besucher erfahren, wie das Ruhrgebiet aussah, bevor es das Ruhrgebiet wurde: Die ersten Siedlungsspuren in der Region, die öde Sumpflandschaft des Emschertals, in dem die Wildpferde weideten, sind hier ebenso Thema wie die spannende Geschichte des Ruhrgebiets im Mittelalter
mit seinen Fehden, Klöstern und dem Aufstieg erster Städte zu bedeutenden Zentren.
Auf der dritten Ebene wird dann die Geschichte des modernen Ruhrgebiets gezeigt, sein Aufstieg zum wichtigsten industriellen Zentrum Europas, seine Rolle während der Kriege und auch die Geschichte der Arbeitskämpfe gegen den Niedergang seiner
Industrien. „Wir werden hier Bezüge zwischen den Geschehnissen herstellen. Die Bombenangriffe auf das Ruhrgebiet stehen in direkter Verbindung zu seiner Rolle als Rüstungszentrum, und die Opfer das Naziregimes sind die direkte Folge der vielen begeisterten Nazis, die es auch im Ruhrgebiet gab,“ erklärt Ulrich Borsdorf das Konzept.

Zukunft
Aber damit wird die Ausstellung nicht aufhören. „Wir wollen einen Blick in die Zukunft
des Ruhrgebiets werfen, und weil wir als Historiker keine Zukunftsforscher sind, werden wir uns den Themen widmen, die heute schon in die Zukunft verweisen,“ kündigt Borsdorf an. Ein Beispiel dafür wird der Emscher Landschaftspark sein.
Auch wenn das Projekt erst im kommenden Jahrzehnt fertig wird, und mit etwas Pech vielleicht sogar noch später, verändern die Arbeiten an ihm schon heute das Gesicht des Ruhrgebiets.
Abwasserkanäle verschwinden in Röhren, neue Klärwerke werden gebaut und in Dortmund ist die Emscher schon wieder fast so etwas wie ein richtiger Fluss.
Als stadtnahes Gewässer, so der Plan der Emscher-Genossenschaft, wird sie zwar nie wieder ein unregulierter Fluss werden, dafür aber sauberes Wasser führen und an ihren Ufern eine hohe Wohn- und Freizeitqualität bieten.

Mythen
„Und dann sind da noch die Mythen des Ruhrgebiets. Ihnen haben wir den Flur gewidmet“, erklärt Borsdorf und weiß: „Mythen gibt es hier viele.“ Der Krupp-Mythos, der heute noch in der Person von Berthold Beitz und der Krupp-Stiftung weiterlebt und immer weniger mit den real existierenden Krupps zu tun hat. Oder der Mythos der harten Arbeit, der das Selbstverständnis des Reviers und seiner Menschen über alle Klassenschranken geprägt hat. Der schöne
Satz „Ein Junge aus dem Revier muss hart arbeiten und hart trinken können“ wäre so in Frankfurt, München oder Stuttgart undenkbar.
Bei uns trifft er immer noch auf Zustimmung. Und das hat mit einem anderen Mythos zu tun, der im Ruhrgebiet präsent ist: Der Männlichkeit. Aus diesen Mythen, zu denen auch der Fußball im Ruhrgebiet und Begriffe wie Feuer, Kohle Solidarität und Heimat gehören, setzt sich das Selbstbewusstsein der Menschen im Ruhrgebiet zusammen – und wie immer bleiben diese Mythen prägend, auch wenn ihre Ursprünge von Jahr zu Jahr weiter in der Vergangenheit
versinken.

Strukturwandel
Borsdorf: „Nicht alle dieser Mythen sind alt. Einer ist wirkungsmächtig und neu: der Mythos des Strukturwandels.“ Dabei, so verkündet das Konzept des Ruhr Museums von Ende 2005, „changiert die Botschaft in einer seltsamen, aber vielleicht für die Mentalität des Ruhrgebietes typischen Ambivalenz zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn: Dem Wunsch nach `endlich so wie überall` und dem Vergleich mit anderen Metropolregionen wie Berlin oder Paris folgt in stereotypischer Regelmäßigkeit die eingeübte Meldung von Rekordzahlen und Superlativen: die dichteste Museumslandschaft Deutschlands, die größte Hochschulregion in Europa und das attraktivste Kulturangebot überhaupt.“
Hier – wie bei anderen Themen auch – zeigt das geplante Ruhr Museum Chancen für eine Selbstreflexion des Ruhrgebiets auf, denn natürlich wird das neue Heimatmuseum selbst auch jenen Mythos des Strukturwandels verkörpern, zum Ausdruck bringen und verstärken, dem es seine eigene Entstehung verdankt.

Fotos: Bilddatenbank Zollverein

Ruhrpilot

Das Naivigationssystem für das Ruhrgebiet

Opel: Gipfel gescheitert…Spiegel

Karstadt: Mitarbeiter demonstrieren in Berlin…Bild

WAZ: Cash statt Krone…Zoom

Ruhr2010: Küppersmühle Spatenstich…Der Westen

Unis: Studenten wollen streiken…Ruhr Nachrichten

Zukunft: Überholte Zukünfte…Kuerperpunk

Kunst: Das schönste Museum der Welt…Freie Presse

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OB-Wahl: Dortmunder Kandidaten bei Verdi…Der Westen

WestLB: Sparkassen mit Sorgen…Der Westen

MTB: Die Breitreifengang…Spiegel

 

 

?Wir sind Profis im Wandel?

Der Bochumer Historiker Klaus Tenfelde, Professor für Sozialgeschichte und soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität Bochum und zugleich Leiter des Instituts für soziale Bewegungen arbeitet an einer Geschichte des Ruhrgebiets. In diesem Jahr hofft er das Werk abzuschließen.

Foto: Klaus Tenfelde

Die Geschichte des Ruhrgebiets begann in Kalkriese. Dort, im Osnabrücker Land, fand im September des Jahres 9 nach der damals von niemand beachteten Geburt Christi die Schlacht zwischen einem Heer aus verschiedenen germanischen Stämmen und drei römischen Legionen statt. Die Gegenspieler: Arminius, ein Cheruskerhäuptling, der Jahrhunderte später zu Hermann dem Cherusker verklärt werden sollte, und der römische Senator Publius Quinctilius Varus. Die Schlacht endete mit einer verheerenden Niederlage der Römer. Und die hatte Konsequenzen: Die Großmacht gab ihre östlich des Rheins gelegenen Stellungen wie Haltern an der Lippe auf. Der Rhein wurde für Jahrhunderte zu einem Grenzfluss.

Geschichtswerk
Mit der Errichtung dieser römischen Grenze begann die Geschichte des Ruhrgebiets, auch wenn sich die Region damals nicht von anderen Landstrichen unter germanischer Herrschaft unterschied. „In dem Text Über Ursprung und Leben der Germanen von Tacitus finden wir die erste schriftliche Erwähnung der Region, die später einmal das Ruhrgebiet werden sollte“, erklärt Professor Dr. Klaus Tenfelde. „Und mit schriftlichen Dokumenten beginnt die Geschichte, alles davor ist Archäologie.“

Tenfelde ist Professor für Sozialgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum und Direktor des Instituts für soziale Bewegungen. Im kommenden Jahr wird er sein Buch über die Geschichte des Ruhrgebiets veröffentlichen. Zwölf Kapitel auf 600 Seiten wird das Werk umfassen. Zusätzlich gibt Tenfelde das Historische Lesebuch Ruhrgebiet heraus mit einem Umfang von 18 Kapiteln und 900 Seiten in zwei Bänden. Noch nie wurde die Geschichte des Ruhrgebiets in ihrer Gänze so umfassend wissenschaftlich über alle Epochen hinweg beschrieben. Beide Werke sind nicht nur von regionalhistorischem Interesse – dafür ist die Bedeutung des Ruhrgebiets für die deutsche Geschichte zu groß. Was im Ruhrgebiet geschah, hatte spätestens seit der Mitte des vorletzten Jahrhunderts mindestens deutschland- und oft europaweite Bedeutung.

Grenzland
Davon war das Ruhrgebiet in seinen Anfängen allerdings weit entfernt. Erst einmal war es Grenzland – und die wichtigen Entwicklungen geschahen auf der anderen Seite. Mit dem Toleranzedikt von Nikomedia, das die Christenverfolgung im römischen Reich beendete, begann sich westlich des Rheins ab 311 die Christianisierung zu beschleunigen.
Trier und Köln waren schon Bistümer, Mainz wurde es kurz darauf. Doch mit dem Ende des weströmischen Reiches zu Beginn des fünften Jahrhunderts endete in Germanien die Christianisierung – zumindest vorübergehend.
Erst im achten Jahrhundert wurde auch östlich des Rheins und damit auch im Ruhrgebiet mit militärischer Unterstützung des Frankenkönigs Karls des Großen massiv missioniert.
Um 800 gründete Liudger in Werden das erste Kloster der Region. Kurz darauf folgte die Gründung des Bistums Münster.
Unter dem Schutz der Franken weitete sich das Christentum aus. Tenfelde: „Die heutige Trennung Nordrhein-Westfalens in die beiden Landschaftsverbände Rheinland
und Westfalen geht auf die Antike zurück, auch wenn die heutigen Grenzen den damaligen
nicht ganz entsprechen.
Das Rheinland ist das ehemalige römische Herrschaftsgebiet, das heutige Westfalen der Raum, in dem die germanischen Stämme herrschten, über die wir noch immer kaum etwas wissen, weil sie keine Texte hinterlassen haben und weil die Römer sich nur wenig Mühe gaben, sie differenziert
zu betrachten. Für sie waren das alles nur Barbaren.“

Stadtlandschaft
Im Heberegister des Klosters Werden werden erstmals Ruhrgebietsstädte wie Throtmanni (Dortmund), Altenbochum und Hernes (Herne) erwähnt.
Doch die Mönche des Klosters, deren zum Teil auch weltliche Macht bis ins 19. Jahrhundert andauerte, waren nicht die einzige Macht im späteren Ruhrgebiet, das damals, so Tenfelde, begann eine Stadtlandschaft zu werden. Aus den kleinstädtischen Strukturen ragte schon früh Dortmund heraus. Dortmund war Freie Reichsstadt, und die Verfassung, die sich seine Bürger im Hochmittelalter gaben, war Vorbild für etliche andere Städte. Die große Zeit Dortmunds endete erst mit dem 30-jährigen Krieg: „Von diesen Zerstörungen hat sich die Stadt bis zur Industrialisierung nicht mehr erholt. 80 Prozent der Einwohner starben, die Stadt wurde mehrmals verwüstet“, erklärt Tenfelde.
Auch nach dem 30-jährigen Krieg hörten die Feldzüge nicht auf, aber Geschichte fand woanders statt. Zwar war das Ruhrgebiet eine relativ besiedelte Region mit zahlreichen kleineren Städten, aber mit der Bedeutung süddeutscher Stadtregionen konnte man nicht mithalten. Daran änderte auch der Abbau von Kohle nichts, der schon für das 13. Jahrhundert nachgewiesen werden kann. Kohle wurde nur in geringen Mengen gefördert und war als Brennstoff auch längst noch nicht begehrt. So probierten die Kölner Bäcker zwar in der frühen Neuzeit Kohle zur Befeuerung ihrer Backöfen aus, setzten dann aber wegen der Geruchsbelästigung oft wieder auf Holzkohle.

Kohleförderung
„Die Kohleförderung im Mittelalter dürfen wir uns nicht so vorstellen wie in der Zeit der Industrialisierung. Es wurden nur geringe Mengen Kohle benötigt und entsprechend wenig wurde vor allem im Tagebau und in sehr kleinen Stollen abgebaut. Es fehlten die Abnehmer für die Steinkohle.
Das änderte sich mit zwei Erfindungen, die wie ein Katalysator für die Industrialisierung waren und eng zusammenhingen: Die Dampfmaschine und die Eisenbahn. „Die Eisenbahn führte zu einer großen Nachfrage-Steigerung an Stahl für Schienen. Das sorgte wiederum für eine Steigerung der Kohleproduktion, denn Kohle brauchte man für die industrielle Stahlproduktion.
Und auch die Züge benötigten Kohle. Im Vergleich mit England kam die Industrialisierung
in Deutschland mit erheblicher Verzögerung in Gang, doch sie sorgte dafür, dass das Ruhrgebiet entstand, das wir heute kennen.“ Noch Anfang des 19 Jahrhunderts wohnten im heutigen Ruhrgebiet kaum mehr als 200.000 Menschen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war ihre Zahl auf mehr als vier Millionen gestiegen. In den alten Kernstädten des Ruhrgebiets waren die Veränderungen anfangs kaum zu spüren.
Tenfelde: „Die neuen, großen Industriegebiete entstanden nicht innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern von Dortmund, Essen oder Duisburg, sondern vor deren Stadttoren: In Hörde, Altendorf, Stahlhausen oder Marxloh entstanden die ersten großen Stahlwerke und Zechen.
Kleine Orte wie Gladbeck wuchsen von Dörfern mit wenigen hundert zu Städten mit 80.000 Einwohnern heran.

Zuwanderung
An den Sozialstrukturen änderte sich jedoch zuerst wenig: „Die alten Eliten behielten lange Zeit das Ruder in der Hand. Zwar änderten sich innerhalb sehr kurzer Zeit die Lebensumstände, aber als Ansässige profitierten sie von der Industrialisierung.
Wer Grund und Boden besaß, konnte sehr schnell reich werden. Zum einen stiegen die Grundstückspreise, zum anderen erweiterte sich der Markt für die Händler und Handwerker. Politisch konnten sie ihre Macht durch das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht erhalten. Die meisten Zugewanderten durften nicht wählen – erst ab etwa 1900 verdiente ein Arbeiter so viel, dass er steuerpflichtig und damit auch wahlberechtigt wurde.“
Mit der Industrialisierung begann sich das Ruhrgebiet von seiner Umgebung zu unterscheiden, es entstand ein Ballungsraum mit Millionen von Menschen, die begannen, ein neues Kapitel in der Geschichte der Region zu schreiben. Die alten Bezüge Westfalen und Rheinland fingen an, ihre Bedeutung zu verlieren. Etwas Neues war dabei, zu entstehen. Doch die Zuwanderung in das Ruhrgebiet verlief nicht linear: Boomphasen wurden von Krisen wie der Rezession von 1874 abgelöst. Und längst nicht alle, die kamen, blieben: Millionen arbeiteten für eine kurze Zeit im Revier und verließen es wieder. Eine Familie zu gründen, war nicht einfach: In Essen kamen um 1860 auf 100 Männer im heiratsfähigen Alter kaum 60 Frauen.

Rationalisierung
Besonders hoch war die Fluktuation unter den Polen. 450.000 von ihnen lebten zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 im Ruhrgebiet.
Sie kamen aus dem preußischen Teil Polens, das als Staat erst 1919 wieder gegründet wurde. „Die Polen hatten nach dem Versailler Vertrag drei Möglichkeiten: Sie konnten im Ruhrgebiet bleiben, sich in Europa einen neuen Wohnort suchen oder nach Polen zurückkehren.“ Sie entschieden sich zu gleichen Teilen für die verschiedenen Optionen.
In den 20er Jahren wuchs das Ruhrgebiet weiter – und wurde immer wieder von Krisen wie dem Ruhrkampf 1920 und der Ruhrbesetzung 1923 erschüttert.
Als sich Deutschland Mitte der 20er Jahre dem Weltmarkt öffnete, begann eine erste Entlassungswelle im Bergbau. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, schlossen die Bergbau-Unternehmen nicht nur zahlreiche kleinere Zechen, sie rationalisierten auch massiv in den großen Bergwerken. Am ständigen Anwachsen der Bevölkerung änderte das jedoch nichts.

Benachteiligung
Unter den Nazis litt das Ruhrgebiet stark. Die Strukturen der Arbeiterbewegung, egal ob sozialdemokratisch, kommunistisch, anarchistisch oder katholisch, wurden brutal zerschlagen. Tausende von Oppositionellen starben in den Konzentrationslagern.
Im Krieg war das Ruhrgebiet als eines der wichtigsten Zentren der Rüstungsindustrie Ziel der alliierten Bomberverbände. Wie alle deutschen Ballungsgebiete wurde es zum größten Teil zerstört.
Nach dem Krieg konnte die Industrie jedoch schnell wieder aufgebaut werden. Der wirtschaftliche Wiederaufstieg des Ruhrgebiets begann – bis in den 50er Jahren die Krise des Bergbaus begann.
„Die war zwar ein großer Einschnitt, aber bis in die 80er Jahre hinein war die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet kaum höher als im Bundesdurchschnitt und die Produktivität des Ruhrgebiets sogar überdurchschnittlich.
Erst seit der Wiedervereinigung geht es mit der Region bergab.“ Das ist kein Zufall, sagt Tenfelde, denn auch die öffentlichen Investitionen fließen seitdem verstärkt in den Osten und nicht ins Ruhrgebiet: „Wir haben eine strukturelle Benachteiligung, das muss sich ändern, um einen Kurswechsel im Ruhrgebiet zu erreichen.“

Wandel
Die Veränderungen seien nicht das größte Problem: „Wir sind den Wandel von Strukturen
gewohnt wie keine zweite Region. Wir können damit umgehen.“ An seinen Problemen, so Tenfelde, sei das Ruhrgebiet zum Teil selbst schuld: „Lange Zeit war es politisch nicht gewollt, dass Wohneigentum entsteht. Der Mieter war das Ideal. So hat das Ruhrgebiet über viele Jahrzehnte die Aufsteiger aus dem Facharbeiter-Milieu, die es gebraucht hätte, an sein Umland verloren.“
Aber im Alter, da ist sich Tenfelde sicher, werden sie zurückkommen: „Der nächste Wandel, der auf das Ruhrgebiet wartet, ist der demografische Wandel. Hier haben wir eine Vorreiterfunktion innerhalb der traditionellen Industrieländer. Wir sollten das nicht als Katastrophe sehen, die auf
uns zukommt, sondern als eine Chance, die wir ergreifen müssen. Aber wir werden das schaffen. Im Wandel sind wir Profis.“

Wetterbusiness – oder der Handel geht weiter

Handel treibt die Welt voran. Die eine Börse brennt noch wegen der geplatzten Immobilien-Derivate, Credit-Swaps, und Sinnlos-Futures, da geht es an der anderen Börse weiter. Es geht um Wetter-Derivate. Wetter-Was? Richtig, Derivate. Das haben sich vor gut zehn Jahren ein paar Börsenjungs in Chicago ausgedacht. Man handelt Wolkenwände und Sonnenschein. Damit können sich Reiseunternehmen gegen Hagel in der Südsee versichern, oder Gasversorger gegen Hitzewellen in Kanada. Fast alle großen Versorger sind mit dabei, die großen Versicherer, eigene Hedge-Fonds, etliche Banken und Broker. Im vergangenen Jahr wurden weltweit 32 Mrd US-Dollar umgesetzt. Tendenz steigend. Noch ist dort alles ein solider, auf Wissen basierender Handel, doch scheinen Fundamente für einen neuen Wahnsinnshandel gelegt zu sein.

Der Wettermann vom RWE heißt Eric Stein. Er sitzt vor seinen sechs Computer-Bildschirmen in Essen-Altenessen, mitten im größten Energiehandelsraum Europas. Stein schaut gespannt auf eine Animation. Irgendwo über der Arktis zieht ein Hoch auf. Satellitenaufnahmen raffen das Wetter in Sekundenclips. Es sieht so aus, als spielten Kinder mit Farbklecksen. Blau ist kalt, Rot ist heiß. Jetzt kann Eric Stein sagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit es morgen in Duisburg regnet, in Brüssel hagelt oder in Warschau schneit. Doch so richtig interessant ist das Wetter über London, oben an der Themse, mitten in England. In der Waschküche Europas macht Eric Stein nämlich Geld. Der RWE-Wettermann handelt mit Regen und Sonne. Mit Eis und Sturm. Oder anders ausgedrückt: Eric Stein handelt Wetterderivate.

Bei diesen Luft- und Wassergeschäften bestimmen vor allem die Temperaturen die gehandelten Werte. Sie werden addiert zu einem so genannten CAT. Ist es im Mai etwa tagsüber durchschnittlich 10 Grad warm, macht das 310 CAT. Ein CAT ist standardmäßig 1000 britische Pfund wert.

Rechnet die Chicago-Wetter-Börse mit Regen und Kälte, fallen die CAT-Kurse, bei Hochdruck und Sonne ziehen sie an. Gehandelt werden Wetter-Verträge über einen CAT-Kurs. Jeder Händler, der einen Vertrag verkauft, muss diesen bis zum Ende des Monates zurückkaufen, um das Geschäft zu schließen. Ansonsten wird über die Börse abgerechnet, die als so genannte Clearingstelle alle Verträge untereinander ausgleicht. Wer näher an der Realität war, gewinnt.

Ein Beispiel für einen Wetterhandel:

Ein Händler spekuliert darauf, dass der September im Schnitt maximal 16,5 Grad warm wird. Das entspricht 496 CAT. Für diesen Betrag hat er einen Vertrag über das Septemberwetter verkauft. Um das Geschäft zu schließen, muss der Händler den Vertrag zurückkaufen, oder ihn Ende September gegenüber der Börse ausgleichen. Je kälter der Monat wird, um so höher wird der Gewinn des Händlers. Je wärmer der September wird, umso höher sein Verlust.

Würde der Monat nun durchschnittlich 16 Grad warm, macht das 480 CAT. Wenn der Händler seinen Vertrag nicht zurückkaufen würde, müsste er Ende September folglich an die Börse 480.000 Pfund zahlen, um das Geschäft auszugleichen. Für den Wetterfrosch wäre das gut. Sein Bruttogewinn läge bei 16.000 Pfund.

Ist der September aber 17 Grad warm, würde der Kurs auf 510 CAT steigen. Dann müsste der Händler 510.000 Pfund an die Börse zahlen. Sein Verlust läge damit bei 14.000 Pfund.

Am Besten wäre es jedoch für den Händler, wenn er jemanden findet, der mit einem noch kälteren September rechnet. Spekuliert jemand etwa auf einen Temperaturschnitt von 15 Grad, könnte der Händler seinen Vertrag für 450 CAT oder 450.000 Pfund zurückkaufen. Der Gewinn des Wetterdealers würde damit auf 46.000 Pfund klettern.

Zusammengefasst könnte man auch sagen, die Börsianer zocken. Und das mitten in einer Weltwirtschaftskrise, die von haltlosen Derivatgeschäfte und dubiosen Swaps ausgelöst wurde.

Fast alle Riesen sind dabei. Neben RWE handeln die Versorger Electricite de France und British Gas. Dann tummeln sich auf dem Parkett Versicherer wie die AXA oder die Swiss Re, aber auch Hedge Fonds wie Citadel oder D.E. Shaw sind dabei. Die Gewinne spezialisierter Wetterbroker, wie dem britischen Cumulus Weather Fund, liegen bei bis zu 26 Prozent des eingesetzten Kapitals – im Jahr. Früher war das ein Anlass zur Freude, heute kann das auch ein Grund zur Sorge sein. Können die Wetten auf Hitzewellen die nächste Finanzkrise auslösen, nur weil es im Sommer schneit?

Eric Stein widerspricht heftig: „Wir wetten nicht“, sagt er. Die Wettervorhersage auch im launischen London ist eine wissenschaftliche Angelegenheit, basierend auf fixen Daten, langen Erfahrungen und ausgetüftelten Klimamodellen. Stein untersucht das Klima beim RWE mit drei weiteren Kollegen. „Wir wissen, wie sich das Wetter entwickelt. Und wenn wir glauben, klüger als der Markt zu sein, kaufen wir.“ Es gibt Futures auf das Monatswetter in Atlanta. Es gibt Wochenoptionen auf das Klima in New York. Selbst der Regen in Portland kann gehandelt werden. In Europa lässt sich der Himmel über Barcelona verfeilschen, über Rom und Essen. Selbst auf die Saison in Tokio kann man Optionen lösen.

Ein einfaches Geschäft? Eine Mail poppt auf dem Bildschirm von Eric Stein auf. Ein Broker aus New York bietet einen Juni Future auf das Wetter in London Heathrow. Der Broker will die Monats-Temperatur für 489 CAT kaufen. Das heißt: er glaubt an 16,3 Grad in Londoner Schnitt, das ist warm, aber keine Hitzewelle. Verkaufen will er deshalb für 526 CAT – das macht 17,5 Grad im Juni-Schnitt.

Nach Ansicht von Eric Stein ein schlechtes Geschäft. Aktuell rechnet der Wettermann mit einer Juni-Temperatur von 17 Grad. Das entspricht eine m Preis von 510 CAT. Verkauft nun Eric Stein seinen Wettervertrag für 489 CAT, macht er einen Verlust von 21.000 Pfund – wenn seine Berechnungen eintreten. Kauft er für 526 CAT, macht er im gleichen Fall einen Verlust von 16.000 Euro. Der Käufer müsste schon mehr als 510 bieten, damit Stein mit ihm ins Geschäft kommt. Mit anderen Worten. Das Angebot ist für die Tonne. Eric Stein schließt die Email.

Es gibt nicht wirklich viele gute Geschäfte mit dem Wetter. Auf dem Tisch des Meteorologen Stein steht ein Leitzordner. Schwarz. Beschriftung: „Trade Tickets“. Hier werden die Deals abgeheftet. Schwarz auf weiß, dann hoch gebracht zur Buchhaltung. Dort eingespeist in ein Handelsbuch. Passend gemacht für die Konzernrechnung, gegengecheckt auf ihren Wert und auf ihr Risiko. Und dann wird abgerechnet. Hat Eric Stein gut gelegen, macht er Gewinn. Gab es Regen statt Sonnenschein, steht ein Minus im Buch. In diesem Monat hat er gerade mal ein knappes Duzend Verträge abgeschlossen.

Der Klimahandel über die Börse ist nach Ansicht von Stein trotzdem ein einträgliches Geschäft. „Der Handel ist völlig transparent. Jeder hat die gleichen Voraussetzungen, es kann keinen Insiderdeals geben.“ Die Wetterstationen erheben exakte Daten, die großen staatlichen Wetterdienste erstellen auf dieser Grundlage Modelle, zu denen jeder Interessent gleichberechtigt Zugang bekommt. „Unsere Aufgabe ist es, diese Modelle zu vergleichen, und Voraussagen zu treffen“, sagte Stein. Und wenn er Gewinn macht, ist das auch ein Gradmesser für die eigene Arbeit. Nur wer sich mit dem Wetter gut auskennt, verdient.

In den vergangenen Monaten hat das Geschäft mit den Wetter-Derivaten erheblich zugenommen. Ein Grund ist die Absicherung der Geschäfte über die Börse. Die Chicago-Exchange übernimmt das Kreditrisiko. Zudem kann jeder Händler anonym seine Handelsscheine einlösen. Das ist gerade für Energieversorger wichtig, die sich nicht in die Karten schauen lassen möchten. Wenn sie mit Kälte rechnen, wird beispielsweise die Kohle für die eigenen Kraftwerke teurer. Warum also das eigene Wissen ausspielen?

Auch Stein will nicht alles offen legen. Beispielweise behält er für sich, wie viel Geld er im Wetterbusiness macht. Nur soviel: „Es geht nach oben.“ Stein sagt. „Wir sind ein Handelsdesk.“

Dabei ist Stein nicht nur als Wetterhändler für das RWE tätig. Seine Prognosen unterstützen die Stromhändler bei ihrem Job. In der Essener RWE-Tradinghalle sitzt Steins Team direkt hinter den Energiedealern. Stein bringt ihnen jeden Morgen seine Prognosen rüber. Er erläutert ihnen am Tisch die Aussichten für den kommenden Tag. Dazu hängt er die aktuellen Klimadaten an eine rote Säule mitten in der Halle.

Viel Wind in Spanien? Das heißt, die Rotoren der Andalusischen Windparks drehen sich wie verrückt. Der Ökostrom drückt die Leistungen der Kohlekraftwerke nach unten. Die Preise in Spanien fallen.

Einen noch größeren Einfluss auf die Erlöse der Versorger hat die Temperatur. Im Winter bedeutet ein Grad unter der Normaltemperatur, dass ein Gigawatt Strom in Mitteleuropa zusätzlich erzeugt werden muss. Das entspricht der Leistung von einem Kernkraftwerk. Und die Temperatur kann dabei von Stunde zu Stunde wie ein Lämmchen springen.

Vor Eric Stein steht eine Starbuckstasse. Auf seinen Bildschirmen springt ein Schoner mit dem Bild von Monty Burns an. Das ist der Betreiber des Atomkraftwerkes in den Simpsons Comic-Strips. „Wir bereiten die Händler auf Gefahren vor“, sagt Stein. Noch ist der Handel mit Wetterderivaten nur ein Nebengeschäft. Aber wenn es nach Stein geht, wird es mehr. Ein Mann geht an seinem Tisch vorbei. Er schaut Stein an und fragt: „Können wir am Wochenende grillen?“

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Das Navigationssystem für das Ruhrgebiet

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Nordhessen-Spezial: Rotenburg kommt ins Kino…Stern

 

 

„Hier in Opel“

Oskar Lafontaine war heute in Bochum. Er hat die Lösung für die Krise. Aber nicht viele wollten sie hören.

14.00 Uhr Ich bin in der Innenstadt angekommen. Gleich werde ich Oskar Lafontaine reden hören. Das bedarf einer professionellen Vorbereitung: Ich esse beim neuen Rösti-Grill einen großen Schaschlik. Die Soße: Tiefrot. Der Sozialismus scheint in Bochum auf einem guten Weg zu sein.

14.20 Uhr Es hat kurz, aber heftig geregnet. Bevor es losgeht ist es schwülwarm in der Bochumer Innenstadt. Auf dem Dr.-Ruer-Platz haben sich gut 80 Leute versammelt. Dort wird ER sprechen. Gleich. Jetzt noch nicht. Ich setze mich in das Café gegenüber von Starbucks, dessen Namen ich mir nicht merken kann, und höre mir den ersten Redner an: Irgendein Ire, der gegen den Vertrag von Lissabon ist, weil er die Demokratie gefährdet, für die Irland 800 Jahre gekämpft hat. Außerdem sei es dann auch vorbei mit der militärischen Neutralität Irlands. Das wäre natürlich ein Unglück, hat sich doch schon Adolf Hitler während des zweiten Weltkriegs über die Neutralität der Iren gefreut, als diese ihm den Kampf gegen die britische Marine erleichterte.

14.30 Uhr Meistens sind Vorgruppen ja langweilig. Das ist auch heute so. Jürgen Klute, Sozialpfarrer aus Herne ist sicherer Europakandidat der Linkspartei, Sevim Dagdelen hat ihr Wahlkreisbüro in Bochum und ist für die Linkspartei im Bundestag und dann ist da noch Sabine Wils. Sie ist nach Lothar Bisky die Nummer zwei der Europawahlliste der Linkspartei und die taz beschreibt die ehemalige DKPlerin als blasse Gewerkschafterin. Stimmt.

Klute, Dagdelen und Wils erklären, warum sie gegen den Lissabon-Vertrag sind: Der würde die sozialen Standards in Europa absenken und zur Militarisierung Europas führen. Das wollen sie nicht. Sie wollen ein demokratisches, soziales und friedliches Europa.

Und während ich gelangweilt an meinem Kaffee nippe kommen fünf junge Menschen daher und beginnen Flugblätter zu verteilen: „Oskar Lafontaine: Nationalist, Rassist und Anti-Europäer“ ist die Überschrift und erinnert daran, das Lafontaine auch für die Aushöhlung des Asylrechts Anfang der 90er war. Das Flugblatt erinnert an seinen Fremdarbeiter-Ausspruch und zitiert lobende Worte von NPD-Größen über Lafontaine. Im Übrigen fordern sie eine emanzipatorische Linke. Freunde werden die sich hier sicher nicht machen.

14.45 Uhr ER betritt  die Bühne. Es gibt schlappen Applaus. Ein Bodyguard stellt sich an den Rand und sein Schild in die Ecke. ER hat sich gut gehalten, Chapeau! Lafontaine habe ich in den 90ern einmal auf einer Juso-Veranstaltung auf Zollverein erlebt, lange her, damals wirkte sogar Andrea Nahles noch wie eine unter 40jährige. Lafontaine hat die Jusos von den Stühlen geholt. Ein fantastischer Redner, der die Menschen mitreißen konnte. Ein Popstar – zumindest für Leute, die bei den Jusos waren.

Genau deswegen bin ich jetzt auch hier: Ich habe Strauß, Kohl, Merkel, Fischer und Schröder gehört und erwarte jetzt irgendetwas zwischen Strauß – ein Halbwahnsinniger, der so schrie, dass man auch als damals eingefleischter Straußgegner sekündlich fürchtete, der Mann würde von einem Herzinfarkt dahingerafft – und Schröder, einem gefühlsbetonten und ironischen Redner, der schnell und präzise auf Zwischenrufer einging und mitreißen konnte.
Lafontaine enttäuscht mich. Die Rede ist schlapp  – gerade am Anfang: Vor gut zehn Jahren hat der Mann vor Tausenden gesprochen, hat große Plätze gefüllt und zumindest stramme Sozialdemokraten begeistert. Aber damals war er auch der Vorsitzende der damals größten Partei des Landes, der SPD.

Die Wirklichkeit heute ist trüber: Gut 150, vielleicht 200 Zuschauer sind mittlerweile auf dem Platz, und ein wenig wirkt Lafontaine wie Rex Gildo, der am Ende seiner Karriere fast nur noch auf Baumarkteröffnungen sang. Der Baumarkt von Lafontaine ist ein viertelvoller Dr.-Ruer-Platz in Bochum Mitte.

Kaum betritt er die Bühne beginnen die Kids, die eben noch die Flugblätter verteilt haben, ein Transparent hochzuhalten: „Oskar Lafontaine: Nationalist, Rassist und Anti-Europäer“. Sollte es sich bei diesen jungen Menschen um Antideutsche handeln? Zumindest bekommen sie sofort Ärger: Ebenfalls junge Menschen mit roten T-Shirts und Ordner-Armbinden, die sich womöglich für eine politische Karriere als Unterbezirkskassenwart der Linkspartei empfehlen wollen, drängen sie energisch an den Rand der Kundgebung. Oskar Lafontaine interessiert das alles nicht. Er hat mit seiner Rede begonnen.

14.55 Uhr Gleich drei Gruppen von Feinden hat Lafontaine ausgemacht, und er wird während seiner ganzen Rede immer wieder auf sie zurückkommen: Die Politiker der Hartz IV-Parteien SPD, Grüne, CDU, CSU und FDP, die Spenden von Banken und Versicherungen bekommen und deshalb den Banken und nicht den Rentnern das Geld in den Rachen werfen, die Medien, die nie korrekt über die Linkspartei und ihre Vorschläge berichten, weil die Verleger gegen ein gerechtes Erbrecht und die Chefredakteure gegen höhere Steuern sind und natürlich das Kapital, das brutal seinen Vorteil sucht, mit Dumpinglöhnen seine Profite steigern will und in der selbst verursachten Krise auch noch beim Staat abkassiert.

Alles ist bei Lafontaine klar: Mit einer Börsensteuer von einem Prozent könnte der Staat 70 Milliarden einnehmen, mit einer Vermögenssteuer wie in England üblich, gar 90 Milliarden. Karstadt ist ein Opfer der Finanzkrise, das keine Kredite bekommt, weil die Banken im Moment keine vergeben und Guttenberg soll nicht mehr von Opel-Insolvenz reden. „Hier in Opel braucht man jetzt Solidarität.“ Er lacht und verbessert sich: Bochum, nicht Opel. Guttenberg sei ohnehin überfordert – ein Zustand, der Lafontaine in seiner Zeit als Regierungsmitglied gänzlich unbekannt war.

Dann kommt er in Fahrt und sein Kopf  bekommt Farbe: Die Linke will ein anderes Wirtschaftssystem. "Das ist unsere Lösung für die Krise." Die Gewinne der Betriebe gehören den Arbeitern, die würden sie auch nicht verzocken. Staatsgelder, die an Unternehmen vergeben werden, sollten den Mitarbeitern als Anteilsscheine ausgegeben werden – die würden schon darauf aufpassen, dass keiner Schindluder mit dem Geld der Steuerzahler treibt. Und natürlich: „Aber über solche Vorschläge berichten die Medien ja nie.“

Man möchte fragen, ob die proletarischen Anteilsscheine auch handelbar sein sollen und warum der Schaeffler-Betriebsrat die abenteuerliche Conti-Übernahme befürwortete, aber das geht natürlich nicht.

Lafontaine ist auch gegen den Krieg – überall und egal gegen wen. „Man hätte den Menschen in Afghanistan das Geld für Schulen und Lebensmittel geben sollen, das für ihre Bombardierung ausgegeben wurde.“ Ein Satz, den auch Mullah Omar sofort unterschreiben würde.

Am Ende versichert Oskar Lafontaine Martin Budich wegen seines Tortenprozesess seine Solidarität und die Antideutschen rufen „Feuer und Flamme für diesen Staat“.

15.30 Uhr Dann hat Oskar fertig.

Sevim Dagdelen geht darauf erneut ans Mikrofon, bedankt sich bei Lafontaine und beschuldigt die Antideutschen Grüne zu sein, was diese weit von sich weisen. Sie bekommt Applaus. Einer Hartz-Partei trauen sie hier sogar zu, für Deutschland nur Feuer und Flamme übrig zu haben. Dass sie gegen Lafontaine demonstrieren sei feige, sagt Dagdelen, und als Kind einer Gastarbeiterfamilie sei sie stolz in der Linkspartei zu sein. Was man halt so sagt, wenn man ein Bundestagsmandat hat.
Dann ist es vorbei.

EU-Wahldesaster kündigt sich an

Man soll es nicht glauben, aber bei der Europa-Wahl deutet sich ein Desaster an – zumindest wenn man das Zuschauerinteresse an Politiksendungen zum Prognosemaßstab nimmt. Aktuell ist das Magazin Jetzt reden wir in der ARD in der Gunst der Gucker abgeschifft. Die Sendung beschäftigte sich gestern mit der EU-Wahl. Wie sehr das Programm direkt nach dem Publikumsmagnet Tagesschau unterging, kann man hier an den berühmten Quoten sehen, die wir gerade vom WDR geschickt bekamen.

 
Titel            Beginn         Dauer           Zuschauer in Mio          Marktanteil in %
Tagesschau        20:00         16 Minuten            4,11                    17,4
Jetzt reden wir   20:16         89 Minuten            0,97                     3,5
 
 

Kommunalwahlen in NRW klar

Das nordrhein-westfälische Verfassungsgericht in Münster hat gesprochen. Die Kommunalwahlen sind am 30. August und es gibt keine Stichwahlen für die Oberbürgermeister.

IM Ingo Wolf Foto: nrw.de

Der eigentliche Skandal in meinen Augen ist der, dass sich das Verfassungsgericht überhaupt mit dieser zutiefst politischen Frage beschäftigt hat.

Mit dem Ruf nach dem Gericht strebten alle Parteien im NRW-Landtag nur eine Pseudolegalistische Verkleisterung ihrer politischen Ansichten an. Egal, um wen es ging. Das Gericht sollte mißbraucht werden.

Denn, was soll ein Gericht darüber entscheiden, was Sache der Politik ist. Und es ist unzweifelhaft eine Sache der Politik, festzulegen wann Wahlen sind. Wenn bei den Terminsetzungen und Modi dazu versucht wird zu schieben, dann müssen Parteien über dem Schmuh aufklären und die Bürger entscheiden lassen, was sie davon halten.

Im aktuellen Fall ist Innenminister IM Wolf (FDP) vorzuwerfen, dass er bei der Terminierung der Kommunalwahl die unter vorherigen Regierungen üblichen Spielregeln aufgegeben hat. Statt mit allen Parteien einen Einklang zu suchen, hat er nur mit den Generalsekretären der Regierungsparteien über den Wahltermin gesprochen, wie die Grüne Landeschefin Daniela Schneckenburger richtig anmerkt.

Das ist eine demokratische Sauerei, weil damit die Fundamente unserer Gesellschaftsordnung verletzt werden. Herr IM Wolf, sie sollten sich schämen.

Da Schämen aber keine juristische Form der Sanktion ist, kann das Verfassungsgericht IM Wolf wegen dem Wahlschmuh nicht bestrafen. Deswegen sollte aber eben auch keine Partei das Gericht anrufen, sondern IM Wolf scharf politisch angreifen.

Das gleiche Problem haben wir bei den Stichwahlen.

Natürlich sind Stichwahlen notwendig, um den ohnehin durch die verlängerten Wahlperioden zu Sonnenkönigen berufenen Oberbürgermeistern wenigstens eine demokratische Basis zu liefern. Jetzt werden Klüngelpitts mit einer Zustimmung von vielleicht 20 bis 30 Prozent der Bürger auf die Chefposten der Gemeinden gehoben.

Aber auch das ist keine juristische Frage, sondern eine politische. Also sollten die Grünen und die SPD keine juristischen Auseinandersetzung suchen, sondern eine politische.

Die Oppositions-Parteien sollten es schaffen, aus dem Antidemokratischen Verhalten von schwarz-gelb einen solchen Skandal zu stricken, dass CDU-Landeschef Jürgen Rüttgers von alleine aufhört diesen Mist zu machen.

Schon jetzt greift er die Grundlagen unseres Landes stärker an, als die SPD-Regierungen vor ihm.

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2. Twitterfestival

Nach dem ersten Twitterfestival kommt nun das zweite Twitterfestival im Unperfekthaus

Es findet am 25. Jun an 18.00 Uhr statt. In der Pressemitteilung stehen die Gründe für die Fortsetzung: Nicht ganz 140 Tage nach dem wundervollen ersten Twitterfestival im Februar gibt es jetzt Nummer 2. Yeah! Manche von euch haben mich immer wieder angestupst und gefragt, wann es denn wieder soweit ist. Ein gutes Zeichen. Denn das bedeutet ja nichts Anderes, als dass ihr eine schöne Zeit hattet.
Am 25. Juni ist es soweit! Da werden Avatarbildchen und Nicks wieder Menschen aus Fleisch und Blut zugeordnet, Sympathien neu sortiert und unbekannte Seelen entdeckt.
Um Leben in die Bude zu bekommen, twittert und retweetet bitte fleissig, und erzählt jedem, der es wissen will, vom Twitterfestival Ruhrgebiet. Euch sind damit viele Karmapunkte gewiss. Versprochen. Ich freue mich auf ein weiteres entspanntes Twitterfestival :)" Mehr unter Twitterfestival.de. (Und auf die versprochenen Karmapunkte verzichte ich freiwillig 🙂 )

3 FÜR 7 – Festival-Special

Auf die erste echte Hitze des Jahres reagieren die Menschen ja durchaus verschieden. Manche stürzen sich geradezu konsumfreudig ins Freie, andere warten eher, bis sich die Sonne auch in ihrem Gemüt ausgebreitet hat. Und egal ob man sich nun die feineren Sinne verklebt oder sensibilisiert, für alle Menschen gibt es diese großartige Massenveranstaltungserfindung namens Festival. Einige heißen so: Klangvokal, moers festival, Pfingst Open Air Werden.

Klangvokal ist neu für Dortmund: In der gesamten Innenstadt finden verschiedenste Konzerte rund um Vokalkünstler statt, regionale wie internationale. Das geht von Jazz mit Dianne Reeves im Konzerthaus über Puccinis "Tosca" im Theater bis hin zum 14. Sparkassen-Accapella-Festival. Dortmund im Rundumschlag der Stimmen, quasi. Weltmusik, Chöre, Oratorien, Peter Maffay, Erika Stucky und "Haydn meets Hip-Hop". Gar nicht schlecht, wenn die "Popstadt" mal nicht zu poppig ist, Popmusik von der Stange gibt es ja auf den Stadtfesten schon genug.

Moers darf sich in diesem Jahr mit Namen wie Wayne Horvitz, Tim Isfort Tentett, Marc Ribot, Mostly Other People Do The Killing (Foto: moers festival) und auch Emscherkurve 77 schmücken. Und zu diesem Festival ist wirklich schon genug geschrieben worden. Vielleicht gibt es dieses Jahr bei den Ruhrbaronen ja wieder eine Live-Reportage, das wär doch was, oder?

Eine wilde Mischung an frischer Luft mit etwas Jugendamt-Flair an einem christlichen Feiertag? Genau, Pfingsten in Werden. Und diesmal will man es anscheinend wissen, was man der (Sonnen-)besoffenen Jugend so an Durcheinander zumuten kann. The Whitest Boy Alive wollten nicht zwingend zwischen Jennifer Rostock und Kreator auf der großen Bühne spielen, heißt es. Hahaha! Naja, sie spielen nun wohl auf dem Areal der Elektronischen Wiese, nebst DJs wie Vincenzo und Mit-Gastgeber Modern Walker. Weitere Bands auf der großen Bühne: Black Lips, Ja, Panik!, Freakatronic. Fürchterliche Mischung mit teils aber auch ganz guten Acts, fast als wolle man die Jugend von heute zu mehr Bandenkriegen motivieren. Könnte heiß werden, kann aber auch wieder mal ganz stumpf bleiben.

Im Überblick:
Klangvokal vom 28. Mai bis zum 16. Juni in der Dortmunder Innenstadt.
moers festival vom 29. Mai bis zum 1. Juni.
Das 28. Pfingst OpenAir Werden am 1. Juni im Löwental zu Essen.