Foto: fickr.com / ashe-villain
Ich bin gerade in einem Flieger, einem Turbo-Prop und fliege über der Ostsee. Tief unter mir Schiffe, irgendwo die Küste, ein Windpark im Meer.
Vor 1000 Jahren saßen die Menschen in dieser Gegend noch in Lehmhütten. Die Frauen sind im Kindbett verreckt, und wenn einer 20 Jahre alt wurde, konnte er fast sicher sein, in irgendeinem Krieg zu fallen. Was haben die Leute damals gedacht?
Zeit meines Lebens gibt es Flugzeuge. Es gibt Strom und Autos. Es gibt Zentralheizungen, Solardächer, Handys, Schrimps am Spieß mit Currysauce. Das ist für mich normal.
Meine Oma hat noch mit einer Petroleumlampe im Haus gelebt. Das Licht war schön, sagt sie – nicht hell, aber schön. Es sind Ihre Bilder aus der Kindheit, lange vorbei. Wenn man jemanden sprechen wollte, musste man ihn besuchen. Keine Email keine SMS.
Und wenn das Schwein im Herbst zu dünn war, gab es im Winter kein Fleisch.
So war das damals. Als junge Frau hat meine Oma auf Hitler geflucht und wurde verhaftet.
Warum kann ich heute fliegen, auf einem Computer schreiben und über die Zeit nachdenken?
Waren die Leute früher doof? Zur Zeit meiner Oma, vor 1000 Jahren.
Nein – sie waren genau wie wir, hatten die gleichen Gedanken, die gleichen Gefühle.
Wir haben nur mehr Wissen gesammelt, angehäuft, aufgetürmt, verfügbar gemacht.
Jede Generation hat ihre wichtigsten Erfahrungen aufgeschrieben, über 3000 Jahre lang. Der Satz des Thales muss nicht immer neu erdacht werden. Wir kennen ihn. Heute lernt man das bisschen Mathematik für die mittlere Reife. Bei den Griechen war das Rocket-Science.
Wenn heute jemand ein Flugzeug baut, fragt er nicht zuerst nach dem Flug des Vogels. Das Vorgedachte wird auswendig gelernt. Um mehr Zeit für neues Denken zu haben.
Vor 1000 Jahren war das Wissen, Petroleum brennt besser als Sumpfholz neu – zumindest an der Ostsee. Vor 100 Jahren war das Wissen um den Drehstrom frisch. Heute denken die meisten Menschen die Energie der Zukunft kommt aus Mist, Gras, Wind und Sonne. Dies sei das Ziel der Entwicklung. Nein – das Lernen hört nie auf, niemals. Wer weiß schon, was wir in 100 Jahren wissen.
Wir wissen, weil wir Erkenntnisse festhalten. Weil wir auf das erprobte Wissen vertrauen. Irgendwann hinterfragen wir Wahrheiten nicht mehr, sondern akzeptieren sie. Benutzen das Wissen wie Bausteine, aus denen wir unsere Welt errichten. Das nennen wir Aufklärung.
Das Wissen wird dabei fester, je älter und erprobter es ist. Man kann sagen, das Haus des Wissens wird immer größer. Irgendwo auf der Welt macht sich gerade jemand Gedanken darüber, wie ein Mensch auf dem Mars leben kann. Irgendwo denkt jemand über Mikromotoren nach, mit denen man Arterien frei kratzen kann.
Das alles passiert gleichzeitig. Der Gewinn fester Erkenntnisse als Baustein unserer Zukunft findet statt. Das Haus wird immer größer.
Das Internet ist Teil dieser Aufklärung. Wir lernen noch, wie es funktioniert, welchen Nutzen es bringt. Wir wissen bis jetzt eigentlich nur, dass es ein Riesengebäude ist, in dem wir unser Wissen lagern. Oder besser gesagt, das Internet ist ein ganzes Viertel aus Wissenshäusern. Und es wächst.
Wir fliegen gerade über einen Meeresarm, es ist wohl der Belt. Das Land liegt unter uns flach und friedlich. Jeder Meter sieht bearbeitet aus. Felder, Wiesen, Hecken. Wir haben unser Wissen genutzt.
Ich muss an das Gesicht des toten Mädchens aus dem Iran denken. Neda heißt sie. Ich habe ihr beim Sterben auf youtube zugesehen. Das Internet und die elektronische Aufklärung haben uns den Iran und den Kampf dort um Freiheit nahe gebracht. Der Guardian schreibt, die Milizen im Iran hätten der Familie von Neda verboten zu trauern. Sie dürften keine Fahnen aufhängen, keinen Trost der Nachbarn entgegennehmen, nicht in der Öffentlichkeit weinen, selbst die Leiche hätten die Regimetreuen Kräfte nicht herausgegeben. Sie nehmen den Leidenden und den Toten die Würde, aus Angst vor der Freiheit. Niemand soll reden, niemand soll denken.
Es ist ein freundlicher Mittag in Deutschland und ich denke weiter an den Iran, wo jetzt die Nacht beginnt. Dort wollen sie das Internet kontrollieren, ein Ganzes Land aus dem Wissensviertel herausschneiden. Lieber sollen die Menschen abgeschnitten werden, als an der Freiheit des Wissens beteiligt zu werden.
Es ist die Angst vor der Aufklärung. Denn jeder Mensch der lernt, will seine Gedanken formulieren, will zum Besseren Streben, will die Bausteine des Wissens nutzen, um sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen.
Der Iran reißt mit dem Internet seine Verbindung zum Haus des Wissens ab. Damit zerstört das Regime die Hoffnung seiner Menschen auf ein besseres Leben. Diktatoren brauchen Dummheit. In drei Wochen endet die Trauerfrist für Neda. Dann werden die Menschen im Iran wieder aufstehen. Sie werden ihren Namen rufen.
Wir landen jetzt in Cuxhaven. Es geht weiter zu einem Testfeld für neue Windturbinen. Hier wird die Zukunft gebaut. Jeden Tag, den der Iran unter der Diktatur verharrt, verliert er Bausteine für seine Zukunft. Die Nacht wird Dunkel für die Menschen am persischen Golf. Die Jugend dort verliert ihre Zeit im Kampf um Freiheit.
Zeit, die sie nutzen könnte, um ihre eigene Zukunft zu errichten.