Wie Sisyphos fühlt er sich, sagt SPD-Vorsitzender Franz Müntefering. Das sei aber nicht weiter schlimm, schließlich sei Sysyphos, wie er selbst, ein glücklicher Mensch. Im Interview mit Ruhrbarone-Autor Philipp Engel sprach Müntefering über Studiengebühren, die Linkspartei und die Felsbrocken, die er als SPD-Vorsitzende tagtäglich den Berg hinaufrollt.
Herr Müntefering, das Jahr 2009 ist ein sogenanntes Superwahljahr. Welche Gründe gibt es für den Wähler die SPD zu wählen?
Weil wir mit unserer Politik in der Kommune, im Bund und in Europa deutlich machen, dass das soziale und das demokratische unsere politische Linie ist. Nur das ist die richtige Antwort auf die Fragen der Gegenwart. Der Marktkapitalismus ist gescheitert.
Sehr viele unserer studentischen Leser haben aufgrund der Studiengebühren große Probleme, den Spagat zwischen Studium und Finanzierung des Lebensunterhaltes zu meistern. Inwiefern ist die SPD auch für Studenten attraktiv?
Die SPD ist gegen Studiengebühren!
Eine klare Absage der SPD an Studiengebühren?
Ja!
Über Jahre hinweg galt es in der Politik als common sense, dass staatliche Eingriffe in die Wirtschaft schädigend wirken. Die Maxime lautete: Deregulierte Märkte sind die Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg. Die Weltfinanz- und Wirtschaftskrise beweist das Gegenteil. Fühlen Sie sich nun Ihrer Politik und Ihren Warnungen vor den „Heuschrecken“ bestätigt?
Na ja, auch ich habe das alles nicht in seiner ganzen Brisanz gesehen. Aber ich hatte die Ungerechtigkeit gefühlt und unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung der Demokratie beschrieben. Ich glaube, dass ich damals sehr richtig gefühlt habe und das Europa und die Welt für die Finanzwelt internationale Regeln braucht. Nur wenn uns das einigermaßen gelingt, kann man auf nationaler Ebene den Sozialstaat und die Demokratie erhalten. Das Problem ist, dass wir nationalstaatlich denken und handeln. Wir müssen aber Regeln haben und internationale Vereinbarungen treffen. Es braucht Regeln für das, was auf der Welt und in Europa passiert, damit man daraus eine vernünftige, soziale Finanzpolitik machen kann. Dafür müssen wir kämpfen, da müssen wir mehr ran. Es muss sich in dieser Hinsicht einiges verändern. Das Geld darf die Welt nicht regieren, das ist der entscheidende Punkt. Insofern wurde das damals von mir richtig gesehen.
Sie erteilen der in den letzten Jahren vorherrschenden Form des Kapitalismus also eine Absage?
Ja, natürlich. Das ist eine Abart von Marktwirtschaft, ein großer Irrtum gewesen. Es hat sich gezeigt, dass kein Respekt vor dem Menschen vorhanden gewesen ist. Das Geld wurde zu einem Selbstzweck, zu einem Instrument, mit dem man möglichst schnell und möglichst viel verdienen konnte – ohne Rücksicht auf Verlust, Arbeitsplätze, Unternehmen und Menschen. Und das ist nicht gut für die Welt. Man muss die Schlaggeschwindigkeit bremsen. Dazu gehört die Börsenumsatzsteuer. Da müssen wir Sozialdemokraten ran und die Unternehmen kontrollieren. Auch Unternehmen dürfen nicht machen, was sie wollen. Das Geld und die Wirtschaft sind für den Menschen da und nicht umgekehrt. Die Wirtschaft muss wieder diese dienende Funktion haben, sonst wird die Welt keinen guten Verlauf nehmen.
Das hört sich nach vielen Gemeinsamkeiten mit der Linkspartei an. Was trennt Ihre Partei von dieser?
Ich weiß gar nicht, wie die so argumentiert. Ein Unterschied ist folgender: Wenn man in Deutschland Finanzminister wäre, im Jahr 1999 beispielsweise und dann aussteigt und seiner Partei einen Brief schreibt: „Ich steige aus! Mit freundlichen Grüßen, Oscar Lafontaine“, dann ist man ein Feigling, aber keiner der sich einer solchen Herausforderung stellt. Das ist ein gewisser Unterschied zwischen uns und zwischen denen.
Sie sind bekannt für eingängige Urteile wie "Fraktion gut, Partei auch, Glück auf!". Bekannt ist auch Ihre Rede, mit der Sie sich im September 2008 mit „heißem Herz und klarer Kante“ in der Politik zurückmeldeten und in der Sie der SPD "klaren Kompass, Kurs halten" rieten. Woher kommt diese – in der Politik eher unübliche – Vorliebe für Klarheit und Direktheit?
(Denkt lange nach) Sprache ist ein sehr wichtiges, aber begrenztes Instrument. Wenn man lange Sätze macht, werden die Sätze komplizierter. Ich kann immer nur einen Gedanken in einen Satz packen und die meisten Menschen können auch immer nur einen Gedanken verstehen. Also versuche ich es mir und den anderen Menschen einfach zu machen und spreche klar und deutlich. Es funktioniert meistens.
Nur den wenigsten ist hingegen bekannt, dass Sie als junger Mann sogar selber literarische Prosa verfassten und heute noch die Lektüre von, Camus, Kafka und Dostojewski schätzen. Was bedeutet Ihnen die Literatur?
Dass das erst genannte nur den wenigsten bekannt ist, ist hilfreich und nützlich für mich (lacht). Ich habe nie mehr gesehen als acht Jahre Volkshochschule. Aber irgendwann bin ich darauf gekommen, dass da noch was ist und bin zur Literatur gekommen. Kafka war einer der ersten Schriftsteller, der mich fasziniert hat. Camus ist in meinem Leben ein wenig zur Leitfigur geworden. Gute Literatur hat Tiefen, die der politische Alltag und das Leben nicht haben. Und das eigentlich Interessante ist die Frage, wie funktioniert das eigentlich, das Leben, der Mensch und die Gesellschaft. Durch das Lesen erfährt man viel, durch das Lesen lernt man. Diese Neugierde habe ich mir immer erhalten können. Wenn man die nicht mehr hat, muss man aufhören.
Sie hatten einmal gesagt, dass Ihnen Camus’ Interpretation des Sisyphos-Mythos sehr zusagt. Ist es für Sie nach über 40 Jahren Berufspolitik immer noch befriedigend, wie Sisyphos den Felsbrocken tagtäglich den Berg hinaufzurollen, auch wenn der Brocken immer wieder kurz vor dem Gipfel wieder hinabrollt?
Ja klar, unbedingt! Der Mythos des Sisyphos endet mit den Worten: „Man kann sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Das Paradies auf Erden wird es nie geben, den neuen Menschen auch nicht. Das Leben ist und bleibt eine einzige Maloche. Das war es schon immer. Das gilt für die Gegenwart und auch für die nächsten Generationen. Auch wenn sich etwas verändert, im Prinzip bleibt es immer gleich. Du musst immer um Fortschritt kämpfen – zwei Schritte vor, einen Schritt zurück, manchmal aber auch zwei oder drei Schritte zurück. Das ist übrigens dasjenige, was typisch sozialdemokratisch ist und uns von den Konservativen unterscheidet. Die Konservativen sind zufrieden mit der Welt wie sie ist und hoffen auf eine Belohnung im Jenseits. Die Sozialdemokraten wollten das immer schon vorher haben und das bleibt auch unser Prinzip: sich anstrengen, den Stein hochrollen – auch wenn er dann wieder runter rollt.
Das Amt des SPD-Vorsitzenden ist für Sie also nach wie vor, wie sie einmal sagten, das schönste Amt nach Papst?
Ja, diese Beschreibung bleibt. Vorsitzender der SPD zu sein ist ein guter Job.
Letzte Frage: Welche Strategien haben Sie, um lange und mitunter auch langweilige Konferenzen zu bewältigen und Stress abzubauen?
Eigentlich sehe ich ja gar nicht ein, zu laufen, wenn kein Ball vor mir her rollt. Aber ich kann kein Fußball mehr spielen, da breche ich mir alle Knochen dabei. Also gehe ich aufs Laufband und laufe ein paar Kilometer. Ich kann nur empfehlen, das zu machen. Es ist auch ganz nützlich, wenn man älter wird. Bewegung der Beine ernährt das Gehirn!
Herr Müntefering, ich bedanke mich für dieses Gespräch.
Das Gespräch wurde kurz vor der Europawahl 2009 in Bochum geführt und erschien zuerst in der Studierendenzeitung der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung.