So war’s: Das 13. JOE Jazz Festival Essen

Immer zu Beginn eines Jahres steht für die Jazzszene Essens direkt der Höhepunkt im Heimatstadtprogramm an: Das dreitägige Festival der Jazz Offensive Essen. Und auch 2009 ließ sich wieder einiges beobachten. Eindrücke zu Business, Basis und Programm.

Zunächst einmal ist der Austragungsort, das Katakomben-Theater im Girardet-Center, ein durchaus realistischer: Wer pünktlich da ist kommt noch rein und erhält sogar so eben noch einen Sitzplatz. Das macht alle Jahre wieder die Kalkulation leicht, und die theater- bis kinohafte Atmosphäre wird durch die am Rand der Tribüne stehenden Gäste zum Glück noch ein wenig aufgelockert. Dies gesagt ist man allerdings schon bei der vorsichtigen Kritik: Wenn in der Stadt der Jazzclub fehlt und das Festival somit die einzige ernst zu nehmende Repräsentation im Live-Geschehen übernehmen muss, dann wirkt hier alles ein klein wenig brav und akademisch, Rauchverbot hin oder her. Man hustet ungern, sozusagen. Und damit zum Programm, denn die Musiker (keine Frau diesmal) müssen damit ja umgehen.


Es wäre einfach zu sagen, dass der Samstag am ehesten auf Show gebürstet ist und der Freitag und der Sonntag eher gepflegte Qualität bieten. Denn natürlich ist es richtig, lokale Größen zu präsentieren, ob Hartmut Kracht nun sein Gitarren orientiertes Trio vorstellt oder Klare / Siegel / Camatta das ihre. Diese spielen jeweils zu Beginn, am Samstag übernimmt diesen Part mit Die Mikronesische Mafia von Moritz Ecker allerdings sogar eine große Band mit begleitender Filmtrick-Untermalung. Eine ordentliche Einstimmung jeweils, und bei Klare / Siegel / Camatta (unscharfes Foto) zusätzlich der Eindruck, dass Humor ebenfalls ein durchaus vor sich her getragenes Charaktermerkmal der Jazzer der Stadt ist. Dies toppt am Samstag allerdings Dieter Ilg solo mit Kontrabass ganz alleine. Wie er eigene mit Fremdkompositionen verbindet, mit seinem Instrument spricht oder bei "Animal Farm" erst zum Ende hin überhaupt die Saiten benutzt: Das hat Klasse und strahlt eine ungeheure Souveränität aus. Ganz klar der sichere Höhepunkt des Wochenendes.

Mit dem Pablo Held Trio am Freitag und Three Fall am Samstag müssen die "jungen Genies" definitiv noch erwähnt werden. Ersterer ein bewanderter Pianist, letztere ein Trio bestehend aus Schlagzeug/Percussion, Tenorsaxophon und Posaune, das den wohl urbansten Klang des Festivals beisteuert. Mal entsteht der Eindruck, die Bläser spielten ihre Instrumente quasi doppelt, dann wird es tanzbar, dann schauen die Lounge Lizards um die Ecke und als nächstes findet man sich akustisch auf einer einsamen Insel. Diese Gruppe geht frischestens nach vorne, klingt modern und hat offensichtlich großen Spaß, den Abend zu beschließen. Eine ganz klare Empfehlung!

Resümée? In seiner Ausgewogenheit ist das Festival vor allem eine gute Visitenkarte für das was möglich ist in Essen. Und wenn hierzu viele nach z.B. Köln abgewanderte Musiker wieder vorbei schauen, bleibt dies auch für alle Beteiligten immer wieder etwas Besonderes, schon recht nahe am Familientreffen mit Gaststars. Aber schaut man weiter, was als nächstes auf dem Jahreskalender der Jazzfreunde steht, dann wird klar, dass in Essen mehr live passieren muss. Denn die allmonatlichen Filmabende mit zusammen geschnittenem Konzertfilmmaterial von Lutz Felgner im Kinosaal des JZE Papestraße – am 11. Februar "More Sax" mit Charlie Mariano, Bob Mintzer und Anthony Braxton – sind zwar eine wundervolle und empfehlenswerte Sache. Doch dass eine solche Veranstaltung überhaupt so weit im Vordergrund des Jazzprogramms der Folkwang-Stadt steht – das darf im Grunde nicht sein. Da fehlt die Spielwiese, da fehlt der Club. Und somit auch eine Institution die es dem Festival leichter machen würde, noch mehr Publikum anzuziehen und verdient weiter zu wachsen.

Der unendliche Tod

Foto: David Schraven

An einer Eisenbahnbrücke in Bottrop stirbt Jürgen-Marcel durch die Hand eines Triebtäters. Dies ist die Geschichte, des Schmerzes, der bleibt.

Apfelkuchen. Zwei Stück Apfelkuchen mit Sahne stehen auf dem Tisch. Daneben Kaffee, Milch, ein Becher mit Zucker. Rechtsanwalt Jürgen Stoffers erzählt von seinem Sohn. Wie sie beide in einem Café gesessen haben, damals an einem Sonntag Ende der achtziger Jahre. Und wie groß der Jürgen-Marcel da schon war. Neun Jahre alt. So selbstständig. Kurz darauf schweigt Rechtsanwalt Stoffers. Ein Kinderschänder hat seinen Sohn ermordet. Mit einem Messer. Das war vor 20 Jahren. Stoffers sieht die Wunden immer noch. Da, wo die Klinge eindrang. Er schlägt seine Faust an die Schläfe, zweimal, und zwischen die Augen, einmal. Stoffers Augen sind trüb. In den Ermittlungsakten sind 19 Stiche dokumentiert. Sie gingen ins Gesicht, in den Hals, in den Brustkorb, in den Unterleib. Durch das Fenster sieht man auf eine stille Nebenstraße irgendwo im Ruhrpott. Es regnet, wie eigentlich immer um diese Jahreszeit.

Eine Eisenbahnbrücke in Bottrop. Auf der anderen Seite war mal die Kokerei Jacobi. Hier gab es eine Backsteinmauer, da waren Schienen und stinkende Öfen. Es gab einen Betonbunker und einen Bach. Der Morgen des 31. Januar 1989 war kalt. In den USA trat George Bush senior gerade sein Amt als Präsident an, in Bottrop begann der Straßenkarneval.An der Eisenbahnbrücke wurde der Sohn von Rechtsanwalt Stoffers gefunden. Tot, in vier grünen Müllsäcken, drei über dem Kopf, einer über den Beinen. Ein Polizist hatte den Jungen unter einem Haufen grauer Wackersteine entdeckt. Nach ein paar Tagen verschwand der Mord aus der Lokalpresse.

Autofahren sei heute das Gefährlichste für ihn, sagt Stoffers. Die langen Fahrten durch die Nacht, wenn die Gedanken fließen. Wie wäre es jetzt mit dem Jungen? Er könnte vielleicht Student sein. Was studiert er? Die Bilder des letzten Abschieds. Eine Umarmung, ein Versprechen: bis heute Abend. Ein Badeausflug. Ein Urlaub. Kinderlachen. Eis essen. Verstecken spielen. Ein Morgen im Bett. Vorlesen. Die erste Krankheit. Zusammen Fahrrad fahren. Toben. Dazwischen die Mörderfratze. Blutige Wunden. Die Gedanken vermischen sich zu einem Gefühl. Es drückt auf den Bauch, auf die Schläfen. Dann tauchen Bäume aus der Nacht auf, Lichter huschen über Brückenpfeiler. Einmal Lenken und das Ganze hätte ein Ende. Rechtsanwalt Stoffers blieb bisher auf der Straße.

Der Mord an seinem Sohn hätte verhindert werden können, sagt Stoffers. Der Täter heißt Lothar Otremba, damals 23, einschlägig vorbestraft. Otremba hat tiefe Aknenarben und einen schwarzen Schnauzbart. Sein damaliges Gewicht: 81 Kilo. Körperbau: muskulös. Seit seinem 14. Lebensjahr hat er mindestens 13 Kinder missbraucht, alle aus der Gegend. Den Sohn vom Schuldirektor hat er genommen. Den Jungen vom Metzger. Und ein paar Kinder aus einem Heim die Straße runter. Ein Serientäter. Zum Schluss war Otremba Gärtner auf dem städtischen Friedhof, eine ABM-Stelle. Er lebte in einer Bergarbeitersiedlung bei seinen Eltern, keine zehn Minuten vom Tatort entfernt.

Stoffers kann über seine Gefühle reden, jetzt, so viele Jahre nach dem Mord. »Die Zeit läuft nicht weiter«, sagt er. Die Wunden heilen nicht. Jedes Jahr hat den gleichen Ablauf. Es kommen Geburtstage, Namenstage, Weihnachten, Ostern, die Sommerferien, und mit den Wiederholungen kommen die Erinnerungen. Gerade Verschorftes reißt wieder auf. Die Gefühle leben weiter: Zweifel, Angst, Ohnmacht, Sorge und das Leiden. Nichts verschwindet. »An Jahrestagen fahren wir eigentlich immer weg, versuchen zu flüchten. Nur weg von diesen Orten, wo wir an ihn denken.« Das Ziel ist es, über den nächsten Tag zu kommen. Wenn wir heute nicht zerbrechen und morgen auch nicht, können wir in der Zwischenzeit leben?

Die Nachbarn sagen, Jürgen-Marcel sei ein fröhlicher Junge gewesen. Er sei gern auf seinem roten Rennrad durch die Gegend gefahren. Und er habe sich für Steine interessiert. In Bottrop findet man seltsame Abdrücke von Tieren und Pflanzen aus der Kreidezeit. Auch an Otremba erinnern sich die Nachbarn. Ein Rentner erzählt, dass er den Lothar oft gesehen habe, wenn er von der Arbeit kam. »Da ist er mit dem Fahrrad rumgefahren.Hinter den Blagen her.« Eine Frau hat mit dem Lothar gespielt, damals als Kind. »So richtig gehörte er nicht zu uns, aber die Mutter hat ihm Geld für Zigaretten gegeben. Deshalb haben wir ihn mitgenommen, auf den Spielplatz.« Was Schlimmes hat sich niemand gedacht. Ein Nachbar: »Der Lothar war immer still und hat vor sich hin gelächelt.« In der Siedlung nannten sie ihn deshalb »den lachenden Vagabund«.

Es gibt so viel zu sagen. Jürgen Stoffers schweigt. In seinen Augen stehen Tränen. »Wofür mache ich das? Wofür lebe ich?«, fragt Stoffers. Er ist Rechtsanwalt in Oberhausen. Er arbeitet viel. Um zu vergessen, sagt er. Seine Frau hat sich in ärztliche Behandlung begeben. Ein Loch ist in ihre Seele gerissen. Es will nicht heilen. Sie schweigt jetzt lieber. Das Ehepaar hilft ab und an Kindern aus einem Heim, ein paar Straßen weiter. Aber es ist nicht dasselbe. Es sind nicht seine Jungs. Stoffers denkt an sein Erbe. Das Heim könnte vielleicht mal alles bekommen. Oder eine Stiftung. Oder die Kirche. Irgendwer. Nur nicht der, für den es gedacht war.

Lothar Otremba wurde am 29. Juni 1965 geboren. Er wuchs in Bottrop auf. Im Wald hinter der Grundschule fing es an. Hier zwang Otremba kleine Jungs, Pfennige in die Hosentaschen zu stecken. Dann holte er die Pfennige raus und ließ dabei seine Hände über die Körper gleiten. Später blieb es nicht beim Befingern. Otremba machte eine Ausbildung als Tankwart. Und trank regelmäßig. Im Stadtpark holte er damals seinen Schwanz raus. Zwischen Dezember 1980 und März 1981 konnten ihm fünf Missbrauchsfälle nachgewiesen werden. Im Gerichtsverfahren kurze Zeit später stellte ein Gutachter fest: »Die soziale Prognose des Jugendlichen erscheint vorläufig als ungünstig. Sein Alkoholgenuss verstärkt die Gefahr, dass er bei einer Wiederholungstat die Kinder nicht nur durch Verführung zur Perversität erheblich schädigt, sondern eventuell zusätzlich durch gewalttätige Handlungen, die dem Zweck dienen, eine Entdeckung und erneute Bestrafung zu verhindern.« Otremba war da 16 Jahre alt.

Eine Karriere in geschlossenen Psychiatrien begann. Zwischendurch kurze Aufenthalte in Freiheit. Zeit für neue Verbrechen. 1985 missbraucht er innerhalb von drei Monaten sechs Kinder. Am Fernmeldeturm Katzenbruch zerrt er einen Jungen vom Fahrrad und flüstert ihm ins Ohr: »Willst du bluten?« Dann schlägt er ihm ins Gesicht. Und vergewaltigt ihn.

Am 4. Februar 1987 urteilt das Jugendschöffengericht II am Amtsgericht Duisburg: »Otremba ist eine ständige Gefahr für die Allgemeinheit.« Das Gericht lässt den Serientäter auf unbestimmte Zeit in einer psychiatrischen Anstalt wegschließen. Trotzdem kann Otremba zwei Jahre später Jürgen-Marcel umbringen. Warum? Die Antwort findet man beim Rechtsanwalt Paul Scheidt aus Bottrop. Der Jurist bestellte im Auftrag von Otrembas Mutter im Oktober 1987 einen Gutachter, der eine »günstige Prognose« sah. Die früheren Taten, alles nur Irrungen der Pubertät. Und weiter: »Ich bin der Ansicht, dass es zu verantworten ist, Herrn Otremba zu entlassen.« Es gab Gegenstimmen. Der behandelnde Arzt in der Klinik Eickelborn riet dringend von einer Entlassung ab: »Es sind weitere einschlägige Taten zu erwarten.« Es spielte keine Rolle mehr. Am 27. Januar 1988 verfügte das Landgericht Duisburg die Entlassung des Serientäters.

Erst nach dem Mord erzählte Otremba einer forensischen Gutachterin von seinen Träumen. Von Jungs in engen Badehosen, von abgerissenen Hoden und solchen Dingen.

Inzwischen wohnt Rechtsanwalt Scheidt nicht mehr in Bottrop. Sein Nachfolger in der Kanzlei sagt, er sei nach La Palma ausgewandert. Ruhestand genießen. Otrembas Gutachter ist vor ein paar Jahren gestorben. Auch Rechtsanwalt Stoffers und seine Frau Lieselgunde haben mal daran gedacht, aus Bottrop wegzuziehen, wo alle so nah aufeinander sitzen. Die Nachbarn, die Bekannten, die Eltern des Mörders und des Opfers. »Aber man kann nicht vor seinen Erinnerungen wegziehen«, sagt Stoffers. Jetzt haben sie ihre Wohnung renoviert, einen Wintergarten angebaut. Jürgen-Marcels Zimmer haben die Stoffers so belassen, wie es damals war. Ein Stillleben der Sehnsucht.

Im Kleingartenverein Beckramsberg hört man einen Rasenmäher. Es ist kurz nach der Mittagszeit. Rechts führt eine Gasse zur »Kornkammer«,
links in den Pilzweg. Keine dreißig Schritte von hier hat Jürgen Stoffers in der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1989 das rote Rennrad seines Sohnes gefunden. Es lag in der Böschung runter zu den Schienen der alten Industriebahn. Jürgen-Marcel sollte um 18 Uhr zu Hause sein. Nachbarn sagen, man habe sich immer auf den Jungen verlassen können. Um 19 Uhr meldete Lieselgunde Stoffers ihren Sohn als vermisst, wenig später begann die Suche. Am nächsten Tag wurde der Junge tot gefunden. Kurz darauf erklärte ein Polizist aus Bottrop, in der Nähe wohne ein junger Mann, der früher einschlägig aufgefallen sei. Am Abend besuchten Ermittler das Elternhaus Otrembas. Der Sohn war nicht da. Noch in der Nacht stellte sich der Serienvergewaltiger in Begleitung eines Rechtsanwalts.

Das Grab von Jürgen-Marcel liegt auf dem Bottroper Westfriedhof. Ein Bronzekind mit den Gesichtszügen des Jungen, Spielzeug und Stofftiere. Drei Schritte breit, sechs Schritte lang. Der Rasen vor dem Grab ist abgelaufen. Rechtsanwalt Stoffers und seine Frau kommen nur noch abends hierher oder frühmorgens. Wenn niemand da ist. Das »Bedauertwerden« laste auf einem, sagt der Vater. »Aber manchmal, wenn ich in Gedanken laufe, weil ich keine Ruhe finde, dann stehe ich plötzlich vor dem Grab.« Rechtsanwalt Stoffers sagt, es fehle jemand, der nicht fehlen darf. Die Alten müssen sterben, irgendwann, das ist richtig. Jetzt ist alles durcheinander. In der Todesanzeige für ihren Sohn schrieben die Stoffers: »Eine Bestie hat uns durch einen grausamen Mord unser Liebstes, unseren Sonnenschein genommen.« Das Leben ist dunkel. Die Hoffnung auf einen besseren Morgen ist weg. Kein Kinderlachen, kein Enkellachen. Jeder neue Tag ist nur ein Tag mehr in der Vergangenheit.

Die Otrembas sind einfache Leute. Der Vater war Bergmann auf einer Bottroper Zeche. Die Mutter Hausfrau. Beide kamen in den fünfziger Jahren aus Oberschlesien. Drei Kinder haben sie. Die beiden Mädchen wurden Verkäuferinnen in einer Trinkhalle. Und eben der Junge. Mutter Otremba habe den kleinen Lothar besonders geliebt, sagen die Nachbarn. Was heißt besonders? Da ist diese Sache mit dem Affen, die Otremba den Ermittlern erzählte. Als er 14 Jahre alt war, wollte Otremba einen Affen. Die Mutter hat ihn gekauft. Einen Kapuziner im Wert von 1500 Mark, fast so groß wie ein kleiner Junge. Das Tier kam in den Keller, in einen zwei Mal zwei Meter großen Käfig. Eigentlich wollte Otremba ja einen Schimpansen haben, aber das war zu teuer. Stundenlang saß Otremba vor den Gitterstäben und sah dem Affen zu, »wie er
onanierte«. Die Mutter hat das Tier verkauft, als Otremba in die Klinik kam.

An der Brücke zur Kokerei Jacobi steht heute ein Wegekreuz. Daneben ein Granitstein und eine Bronzetafel: »Jürgen-Marcel wurde im Alter von 9 Jahren am 30.1.89 nahe dieser Stelle ermordet. Wir gedenken seiner in Liebe.« Sonst erinnert hier wenig an damals. Die Kokerei ist verschwunden. Die Backsteinmauer ist weg. Selbst die Schienen gibt es nicht mehr. Die Zeit hat das Gesicht der Gegend verändert. Nur wer sucht, findet noch Spuren. Unter den Brückenpfeilern liegen die Wackersteine, unter denen der Junge verscharrt lag.

Aus den Ermittlungsakten lässt sich der Tathergang rekonstruieren: Am Abend des 29. Januar 1989 war Otremba zu Hause. Spätabends trank er eine Flasche »Frühstückskorn«, danach schlief er ein. Am 30. Januar stand Otremba um 5:30 Uhr auf. Er trank bis gegen 11 Uhr Asbach mit Cola. Um 13 Uhr verließ er das Haus. Auf dem Fahrrad fuhr er in den Stadtpark. Otremba erzählte den Ermittlern, er habe »nach Jungs gesucht, denen ich auf die Hose schauen kann«. Er folgt zwei Frauen mit ihren Söhnen, beide etwa zehn Jahre alt. Otremba hat ein Messer bei sich, Klingenlänge 14 Zentimeter. Und vier Müllsäcke. Otremba geht zum Friedhof, wo er seinen letzten Job hatte. Hier trifft er zufällig Jürgen-Marcel. Der Junge will Steine suchen. »Ich kann dir zeigen, wo man was Spannendes findet«, sagt Otremba. Jürgen-Marcel geht mit. Sie gehen die Schienen entlang, nähern sich der Eisenbahnbrücke. Otremba stürzt sich auf das Kind.

Nach der Tat bleibt er auf dem Jungen liegen. Otremba erzählt, das Kind habe zuvor gefleht: »Sie können mein ganzes Geld haben, aber bitte tun Sie mir nichts.« Dann habe Jürgen-Marcel geweint, sagt Otremba. Warum hat er das Kind ermordet? Der Junge habe gesagt, er leide an Aids. »Da bin ich wütend geworden«, sagt Otremba. 17 Jahre sind vergangen.

Rechtsanwalt Stoffers sitzt in einem Haus irgendwo im Ruhrgebiet und denkt darüber nach, was passieren würde, wenn er Otremba jetzt begegnen würde. Stoffers hat graue Haare, hängende Schultern und die mageren Hände eines Mannes, der mit Büchern arbeitet. »Ich würde ihn totschlagen«, sagt er spontan. »Danach wäre er wenigstens keine Gefahr mehr.« Es regnet weiter im Ruhrgebiet.

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MORDE IN PUTINS REICH

Letzten Dienstag feierte die Demokratie im Westen ein Fest. Barack Obama wurde als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Am Tag zuvor jedoch wurden im Osten in den Moskauer Straßen wieder einmal die Aufrechten erschossen. In dem von dem SPD Exkanzler Gerhard Schröder als lupenreinen Demokratie betitelten Russland schlugen erneut die Mörder von Freiheit und Recht zu.

Ein vermummter Killer erschoss am 19. Januar erst den 35jährigen Rechtsanwalt Stanislaw Markelow und danach die 25jährige Journalistin Anastasija Baburowa. Die Journalistin der „Nowaja Gaseta“ hatte sich mit dem Anwalt, der in Russland für die Opfer der Militär- und Polizeiwillkür stritt, vor dem Mordanschlag unterhalten und stürzte sich mutig auf den Täter, der sie daraufhin ebenfalls eiskalt tötete.

Markelow hat vor seiner Ermordung noch eine Pressekonferenz in Moskau gegeben. Der Anwalt wollte Rechtsmittel gegen die Freilassung des Oberst der russischen Armee Juri Budanow einlegen. Budanow war im Jahr 2003 in Russland zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt worden, weil er die Tschetschenin Elsa Kungajewa zu Tode vergewaltigt hatte. Der russische Anwalt Markelow hatte damals die Familie des zu Tode gefolterten Mädchen vertreten. In diesen Tagen im Januar begnadigt der russische Staat den Mädchenmörder, während dessen Ankläger in Moskau ermordet wurde. Das russische Außenministerium erklärte, Anastasija Baburowa, die Journalistin der „Novaja Gazeta“, sei ein "unschuldiges Opfer", das zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen wäre. Was meinen die russischen Diplomaten damit, vielleicht, dass der ermordete Anwalt kein unschuldiges Opfer wäre, ihn die Kugeln zu recht getroffen hätten?

Auch Anna Politkowskaja hatte für die Novaja Gazeta gearbeitet. Die mutige und bekannteste russische Journalistin, die über die Grausamkeiten in der russischen Armee und die Verbrechen in Tschetschenien recherchiert und geschrieben hat, wurde in Moskau im Oktober 2006 erschossen. Kurz nach ihrer Ermordung schaffte es Schröders Busenfreund und der damalige russische Präsident Wladimir Putin die getötete Journalistin im deutschen Fernsehen noch zu beleidigen. Der KGB Mann sagte in den Tagesthemen, ihre Ermordung schade Russland mehr als ihre Artikel. Annas Artikel waren das Beste und Mutigste, was in Russland geschrieben und veröffentlicht wurde. Nur ein Mann wie Putin, der das freie Wort und die freie Presse hasst, wittert in diesen Artikeln Vaterlandsverrat.

Es ist schon spannend zu sehen, daß der Sozialdemokrat und deutsche Exkanzler Schröder nicht auf der Seite der Demokratie steht, sondern einen Freiheitsfeind zum Freunde hat, und noch jede Gelegenheit nutzt Putins Russland zu preisen. Noch beachtlicher ist es, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands den Putinfreund nicht in die Wüste schickt, sondern dessen Aktentasche Frank Walter Steinmeier noch zum Kanzlerkandidat macht. Dabei waren Sozialdemokraten in der langen Geschichte der SPD doch oft selbst Opfer eines repressiven Regimes.

Steinmeier verurteilte die erneuten Morde in Moskau, "Ich bin bestürzt über die gestrige Ermordung von Stanislaw Markelow und Anastasija Baburowa. Die Bundesregierung verurteilt diese feige Tat auf das Schärfste." Doch das ist nicht genug.

Die SPD und ihr Kandidat müssen sich entscheiden, ob sie mit oder ohne Schröder Wahlkampf machen. Sie müssen deutlich machen, ob sie auf Seiten der Demokratie stehen oder ob sie lediglich als Trommelgruppe für einen KGB Mann im Kreml agieren?

Stadt Ruhr: Konjunkturpaket für Nahverkehr nutzen

Was soll das Ruhrgebiet mit dem Geld aus dem  Konjunkturpaket machen? Die Intitiative Stadt Ruhr hat eine Idee: Sie fordert den Ausbau des Nahverkehrs. 

Die mittlerweile von rund 1000 Bürgern getragene Initiative Stadt Ruhr fordert, einen Großteil der Mittel aus dem Konjunkturprogramm II in den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) im Ruhrgebiet zu investieren. "Investitionen in den ÖPNV sind nachhaltig, schaffen Arbeit, sichern Mobilität und sind gut für den Umweltschutz," erklärten die Sprecher der Initiative, Professor Klaus Tenfelde und Uwe Knüpfer: "Vernünftiger können Bund und Land unser Steuergeld nicht ausgeben."

Der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) beziffert allein den dringenden Erneuerungsbedarf an den Stadtbahnen des Reviers – an Tunnelanlagen, Bahnhöfen und Fahrzeugen – auf rund 2,5 Milliarden Euro. Die Stadtbahnen im Revier – das "Rückgrat der Mobilität von Millionen Menschen", stehen nach Aussage des VRR-Geschäftsführers Dr. Klaus Vorgang "vor dem Kollaps".

Die verarmten Städte des Ruhrgebiets, so die Initiative, seien nicht in der Lage, aufgeschobene Reparaturen am Bahnnetz zu bezahlen. Längst überfällig sei zudem  im Ruhrgebiet  die Schaffung eines großräumigen, effizienten Nahverkehrssystems nach Berliner Vorbild. Die Initiative Stadt Ruhr fordert den Ausbau des Netzes, so dass  von jedem Ort im Ruhrgebiet spätestens in zehn Minuten Fußweg eine ÖPNV-Haltestelle erreicht wird,  auf allen wesentlichen Strecken eine Taktfolge von zehn Minuten oder schneller eingehalten wird und der ÖPNV-Transport quer durchs Ruhrgebiet nicht mehr kostet als der durch Berlin.

"Wenn die Investitionsmittel aus dem Konjunkturprogramm II, wie derzeit geplant, über die Städte verteilt werden, bleibt der  stadtgrenzenübergreifende ÖPNV auf der Strecke", befürchten die Sprecher der Initiatibe "Das wäre eine Ohrfeige für alle Pendler und ein Armutszeugnis für die Politik."

Leben im Leistungsbunker

„Kinder werden heutzutage vom Leben entfremdet“ Der Diplom-Psychologe Hubert Couturier, Lehrer für Psychologie und Sport an einem Wattenscheider Gymnasium, bietet seit über 25 Jahren einen psychologischen Beratungsdienst für Schüler an. Zusätzlich führt er eine therapeutische Praxis in Hattingen. Im Gespräch mit den Ruhrbaronen berichtet er von den Belastungen der Jugendlichen, dem Verlust der Selbstständigkeit und dem Weg hin zu einem freien Denken.

Ruhrbarone: Herr Couturier, was sind – aus Ihrer Erfahrung – Probleme, mit denen sich Schüler heutzutage auseinandersetzen?

Hubert Couturier: Natürlich kann ich hier nur die Probleme ansprechen, denen ich auch konkret in meinem Beratungsdienst begegne. Aktuell – besonders angesichts der verkürzten Schulzeit bis zur Stufe acht – gehören mit Sicherheit die stetigen Arbeitsüberlastungen und zu hohen Leistungsanforderungen zu den Hauptproblemen. Diese stehen wiederum in Verbindung mit fehlender Unterstützung von Seiten der Eltern oder des sozialen Umfeldes. Gerade die Vereinsamung, die viele Schüler empfinden, ist da eine massive Belastung. Der Zehnjährige, der mich aufsucht, ebenso wie der Abiturient fühlt sich häufig allein. Allein gelassen mit den Anforderungen, die an ihn gestellt werden, und allein gelassen mit der Angst, diese nicht bewältigen zu können. Die Angst zu versagen ist ein Thema, das über der gesamten Problematik im Lebensbereich Schule stehen kann. Es ist die subjektive Angst von Schülern, den Anforderungen ihres Lebens nicht gewachsen zu sein.

Woher kommt dieser Druck?

Der Druck kommt von mehreren Seiten – von Eltern, der Gesellschaft, aber auch von den Lehrern. Er summiert sich und baut aufeinander auf. Systematisch wird den Kindern eine Zukunftsangst suggeriert und schon in jungen Jahren verinnerlicht. Du musst Top sein, um es in dieser Gesellschaft zu etwas zu bringen.

Wie äußert sich dies bei den Kindern?

Sie setzen sich ab einem bestimmten Punkt selbst unter Druck. In meinen Beratungsgesprächen höre ich immer wieder den Satz: „Ich muss gute Noten schreiben, damit ich später einen guten Beruf bekomme.“ Die Kinder haben in einem dafür untypischen Alter bereits eine Leistungsorientiertheit angenommen, der sie oftmals nicht gerecht werden können.

Hat diese Belastung in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen?

Selbstverständlich. Die Probleme der Jugendlichen hängen mit den gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen. In den vergangenen sieben bis acht Jahren ging das gesellschaftliche Denken deutlich in die Richtung: Du musst Leistung erbringen und Karriere machen, damit du etwas bist! Von allen Seiten strömt dieser Gedanke auf die Kinder ein. Vor 20 Jahren kam es beispielsweise kaum vor, dass Kinder im Alter von 10 bis 14 Jahren bereits konkrete Vorstellungen ihres Lebensweges und ihrer späteren Berufe hatten. Heute begegne ich Elfjährigen, die mit absoluter Überzeugung sagen: „Ich werde Diplom-Ingenieur.“ Noch bevor Kinder in der Lage sind, sich mit ihrer Zukunft auseinander zu setzen und Erwartungen kritisch zu hinterfragen, sehen sie sich in einen Leistungsbunker gepfercht.

Demnach sind Jugendliche heute höheren Stressbelastungen ausgesetzt?

Auf jeden Fall! Stress hat mit dem Empfinden von Druck zu tun. Ursprünglich kommt dieser Druck von außen, allerdings wird er mit der Zeit von den Kindern verinnerlicht, weiterproduziert und damit auch potenziert. Selbst in Fällen, in denen keine übersteigerten Erwartungen von Seiten der Eltern wirken, setzen sich die Kinder zum Teil selbst diesem hohen Maß an Belastung aus.

Wie gehen diese Kinder dann mit dem Stress um?

Sie haben zum Teil so gut wie keine Freizeit, weil ihre schulischen Anstrengungen derart ausgedehnt werden, dass kaum Platz für Freiräume bleibt. Sie bekommen – ob aus eigenem Antrieb oder von Seiten der Eltern – Förderunterricht verordnet. Aus meinem Beratungsdienst kenne ich beispielsweise keinen Schüler, der nicht wenigstens in einem Fach Nachhilfe bekommt. Und das unabhängig von der Note. Eine Schülerin, die ich derzeit betreue und die in all ihren Fächern zwei bis drei steht, nimmt in drei Fächern Nachhilfe.

Was hat das für Konsequenzen, wenn einem Kind die Freizeit genommen wird?

Den Kindern fehlt einfach ein Entwicklungsraum. Ein Bereich, in dem sie durch eigenes Erfahren lernen können – durch eigene Entscheidungen, die sie selbstbestimmt fällen ohne die Vorgabe von Erwachsenen. Das Kind entscheidet, mit wem es sich umgibt, wo es hingeht, gegen welche Regeln es verstoßen möchte oder nicht. In der Schule wird letzten Endes nur durch Vorgaben gelernt. Es ist ein klar verordnetes Lernen. Das selbstständige Lernen allerdings, das so nur in der Freizeit möglich ist, ist für das Kind notwendig, um eine Freiheit des Denkens zu entwickeln.

Das hat zur Folge?

Die Kinder werden – ich will es mal marxistisch formulieren – entfremdet, entfremdet vom Leben. In jedem Falle werden sie aber, wenn man es weniger pathetisch sagen möchte, realitätsfern. Und daraus bildet sich wiederum weitergedacht eine sehr schmalspurige Lebensperspektive.

Welche psychischen Erkrankungen resultieren aus einer derartigen Entwicklung?

In erster Linie sicherlich Depressionen. Dann Ängste und Angststörungen, häufig beides zusammen.

Auf welche Anzeichen sollten Eltern und auch Lehrer achten?

Pauschal gesagt auf Veränderungen. Ein Warnsignal ist, unabhängig von den Entwicklungen in der Pubertät, die natürlich mit Veränderungen einhergehen, wenn relativ plötzlich das Verhalten eines Jugendlichen umschwenkt. Beispielsweise im Umgang mit anderen Personen, das kann Isolation vom Freundeskreis bedeuten aber auch ein hohes Maß an Aggressivität und Streitsucht. Meistens bewegen sich die Verhaltensänderungen zwischen den Polen: extremer Rückzug oder extreme Offensivität. Der Schüler gerät aus seiner Mitte, driftet in Randbereiche ab. Plötzliche und deutliche Leistungsabfälle sind ebenfalls Indikatoren für Probleme.

Eine Schwierigkeit für Außenstehende, Warnsignale zu erkennen, ist jedoch, dass häufig Veränderungen geschehen, die nicht direkt beobachtet werden können, die sich dann leider erst rückblickend aufzeigen lassen.

Führen diese Verhaltensänderungen nicht auch wieder zu neuen Problemen und damit zu Stress?

Natürlich. Fällt jemand aus der Norm und verhält sich in den Augen der anderen unnormal, neigen einige Kinder dazu, diesen zu mobben. Mobbing in unterschiedlichen Varianten hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Das betroffene Kind wird ausgegrenzt, fühlt sich noch stärker isoliert, allein gelassen und erfährt damit wieder ein zusätzliches Maß an Stress.

Kommt es auch zu Burnout-Fällen bei Jugendlichen?

Durchaus. Wenn Kinder einfach nicht die Talente haben, um ihren Anforderungen gerecht zu werden und dennoch weiter unter Druck gesetzt und vergeblich in Förder- und Nachhilfeunterricht geschickt werden, dann geben sie irgendwann auf, wirken schlapp und ausgelaugt. Im Extremfall verlieren sie jegliche Perspektive. Zum Teil wäre es in diesen Fällen sinnvoller, einen Schulwechsel vorzunehmen. Viele Eltern halten allerdings weiterhin an der Schulform Gymnasium fest. Zum Teil ist es mein Eindruck, dass es den Eltern is wichtiger ist, dass ihr Kind einen erwünschten Abschluss erlangt als dass es dem Kind gut geht. Dies muss so nicht immer beabsichtigt sein, dennoch ist es das Resultat. Leider gehen einige Eltern kaum auf Vorschläge ein, die eigentlich zum Wohle des Kindes gedacht sind.

Was raten Sie Schülern, um diesem Druck zu entgehen? Was sind also Präventionsmaßnahmen, um nicht in einer psychischen Erkrankung zu enden?

Das Erste wäre, die Belastungen durch sinnvolle Arbeitsstrukturierung zu senken. Schüler sollten für sich eine Art Zeitmanagement entwickeln, das heißt, Hausaufgaben zu erledigen oder zu lernen, wenn sie es wirklich wollen. Sie sollten anfangen ihren Tagesablauf selbst zu strukturieren und Entscheidungen treffen. Natürlich kollidiert das häufig mit den Vorschriften der Eltern und ist in vielen Fällen schwer umzusetzen. Auch die Schule hat da Probleme, dies den Eltern zu vermitteln. Sie haben zu Hause einfach die „Territorialgewalt“.

Wenn die Schüler dann vor ihren Aufgaben sitzen, sollten sie nicht blind durcharbeiten, sondern zeitlich dosieren, auch mal Pausen einplanen und sich Erholungen gönnen. Die Jugendlichen müssen lernen ihre Freiräume, also ihre Freizeit zu schützen. Gegebenenfalls müssen dafür unnütze Tätigkeiten, wie den halben Nachmittag spielend vor dem Computer zu verbringen, reduziert werden.

Dies hilft jedoch nur den Schülern, denen es an Zeit fehlt. Was ist mit den Kindern, die gewisse Erwartungen einfach nicht erfüllen können?

Ein neues Zeitmanagement ist der erste Schritt, um Belastungen zu reduzieren. Ebenso ist es notwendig für das Kind, die Leistungserwartungen, die gestellt werden, für sich zu relativieren, das bedeutet, eine kognitive Umstrukturierung vorzunehmen. Es ist nicht schlimm, wenn mal eine Klassenarbeit schief läuft, oder es mal eine schlechte Note gibt. Es gilt sich von dem gesellschaftlichen Denken freizumachen, immer nur der Erste sein zu müssen. Gerade Kinder im kritischen Alter von 10 bis 14 Jahren schauen bevorzugt Sendungen wie DSDS oder Germanys Next Topmodel. Was dort gezeigt wird, ist eine entwürdigende Art mit Menschen umzugehen, die den Ansprüchen nicht genügen. Dies verinnerlichen die Kinder. Über längere Zeiträume hinweg zeigt diese Infiltration des Denkens natürlich immer größere Auswirkungen.

Der Schüler will lernen. Wie geht er es am Besten an?

Das Kind muss anfangen, den Weg des Lernens nicht als notwendiges Übel zu empfinden, sondern als Weg, etwas zu entdecken. Es sollte verinnerlichen, dass es aus eigener Kraft etwas erreichen kann und daraus Freude und Bestätigung ziehen. Reframing ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Bergriff. Der Schüler stellt etwas, hier das vorgegebene Lernen an der Schule, in einen anderen Rahmen. Er lernt nicht, weil es von außen verlangt wird, sondern weil er persönlich etwas davon hat. Da kann auch mit (Selbst)Belohnung, also einer gewissen Form der Konditionierung gearbeitet werden. Wenn das eine erledigt ist, gönne ich mir etwas Gutes. Lernen sollte als positiv empfunden werden.

Dieser Ansatz verlangt allerdings Eigeninitiative des Schülers. Was sind Gründe, warum viele Kinder sich ihrer Situation ergeben?

Da der Druck von außen auf die Kinder einwirkt – also external erzeugt wird – neigen Schüler immer stärker dazu, ihre Misserfolge auch external zu attribuieren und sie eben nicht internalen Faktoren zuzuschreiben wie der erbrachten Leistung oder dem eingesetzten Lernaufwand – welche für das Kind veränderbar wären. Die Schüler werden von außen bestimmt, bekommen die Noten, die Rückmeldungen von anderen. Wenn dazu gehäuft Sätze vorkommen im Sinne von „Du bist zu mehr nicht fähig“, legt das dem Schüler natürlich nahe, dass an seiner Situation nichts zu ändern ist. Es wird den Kindern systematisch ein Gefühl der Hilflosigkeit vermittelt, welches wiederum eine der klassischen Ursachen einer Depression ist. Die externale Kausalatttribuierung führt ganz einfach zu einer Abnahme der Selbstständigkeit und damit letztlich auch der Bereitschaft selbst zu denken. Es kommt ja schließlich eh alles von außen.

Wie ist dem zu entgegnen?

Die Kinder lernen einfach nicht Verantwortung für sich und ihre Taten zu übernehmen. Hier wäre es wichtig, dass Eltern sich sukzessive im Laufe der Entwicklung des Kindes zurücknehmen, ihnen Eigenständigkeit zugestehen. Das gelingt leider nicht immer, weil Eltern oftmals der Auffassung sind, sie müssten Kontrolle ausüben, damit ihr Kind Leistung erbringt. Diese Vorwegnahme von Entscheidungen ist das Schlimmste für eine freie Entwicklung der Kinder hin zur Selbstständigkeit und zieht sich leider durch alle Bereiche: Der Lehrer macht Vorschriften, ebenso die Eltern. Indirekt wird auch durch die Gesellschaft und die Medien Druck ausgeübt. Es ist einfach immer schwieriger geworden, überhaupt Entscheidungen zu treffen.

Ein gesellschaftliches Problem also?

Wir reden hier ja von Randbereichen. Es ist immer ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren, sowohl von gesellschaftlichen als auch familiären. Es gibt auf der einen Seite die vernachlässigten Kinder, auf der anderen die überbehüteten. Zwischen diesen zwei Extremen, zwischen Über- und Unterforderung, bewegen wir uns. Im Falle der überbehüteten nehmen die Eltern den Kindern jede Entscheidung vorweg, im Falle der vernachlässigten können die Kinder überhaupt nicht entscheiden, weil sie von Anfang an mit Entscheidungen überfordert worden sind, anstatt behutsam an sie herangeführt zu werden. Das ist in den vergangenen Jahren massiver geworden, die Randbereiche – meiner Erfahrung nach – größer.

Ich glaube allerdings, dass alle Kinder nach einer gewissen Zeit der Anleitung Verantwortung für sich übernehmen. Nur dann können sie merken, dass sie ihr Leben selbst in der Hand haben und entsprechend etwas ändern können.

Was wären Präventionsmaßnahmen von Seiten der Behörden beziehungsweise der Schulen?

Abstrakt gesagt Freiräume für die Kinder zu schaffen, ihnen die Möglichkeit bieten, überhaupt Entscheidungen treffen zu können und ihnen die entsprechende Zeit dafür zuzugestehen. Und das meine ich nicht im Sinne irgendeiner Kuschelpädagogik, es geht vielmehr darum der Entwicklung und den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden.

 

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Ruhrgebiet Aktuell am Freitag

Nachrichten aus dem Ruhrgebiet und mehr

Uni Witten-Herdecke: Vor der Pleite gerettet…FTD

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Zugang: Coolibri bloggt…Blogbird

Wirtschaft: Evonik soll an die Börse…Reuters

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Wahlkampf: SPD dealt mit Linken in Castrop…Ruhr Nachrichten

Wahlkampf II: Sauerland in Duisburg nominiert…RP-Online

Ruhr2010: Pleitgen in Lüdinghausen…MV

Schalke: Basler gegen Kuranyi…Bild

 

 

 

…und Tschüss, Ruhrpilot

 

Für den Ruhrpilot könnte  bald das letzte Stündlein schlagen – aber auch der WDR kann sich von seinem Verkehrsfunk verabschieden.

 

Denn heise.de berichtet, dass Navteq und TomTom  bald  Stauwarnung mittels der anonymisierten Positionsdaten von Mobiltelefonen ermitteln werden: ""Telefonwolken" künden davon, dass viele Fahrer in einem Stau stecken, Abflüsse in verschiedenen Richtungen zeigen, dass die Umleitungen über Bundesstraßen genommen werden. "Floating Phone Data" nennt Navteq die bei T-Mobile eingekauften Daten. Zusammen mit den übrigen Sensordaten der Brücken, Induktionsschleifen und BMWs soll TMCpro in der Lage sein "zuverlässig einen Kollaps des Verkehrs für die nächsten 20 bis 30 Minuten" vorherzusagen. Auch für die bereits im Stau steckenden Pechvögel gibt es Vorteile: Ihnen kann das System bei Einfahrt in den Stau die Staulänge und die Verzögerungszeit übermitteln."

Später sollen noch die Daten von PKW-Sensoren Infos über Glätte und Nebel weiter leiten. Mit so einer Datendichte kann der Ruhrpilot nicht mithalten. Das war es –  und die paar ÖPNV-Daten die TomTom und Navteq fehlen, lassen sich ziemlich schnell integrieren wie die Daten der Verkehrssituation auf weiteren wichtigen Straßen – so es denn dafür einen Bedarf gibt. 

Trotz 30 Millionen Subventionen hat der Ruhrpilot nie richtig funktioniert – nun fehlt endgültig auch jede  Perspektive. Dass diese Technik eines Tages kommen wird, war schon lange vor dem Start des Ruhrpiloten klar, hat aber die Macher zu keinen Zeitpunkt interessiert. Nun sollten sie ihr System besser heute als morgen abschalten. Jeder Tag mehr bedeutet nur mehr Geldverschwendung.

Eine Anfrage an die Pressestelle des Ruhrpiloten via Ruhrpilot-Homepage wurde prompt beantwortet: "This message was created automatically by mail delivery software. A message that you sent could not be delivered to one or more of its recipients. The following addresses failed:  <ruhrpilot.nrw@siemens.com>